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Ärzte Woche

10.01.2022 | Geschichte der Medizin

Zeit der Zweifelsäer

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Im Unterschied zur Kultur genießt Wissenschaft nur geringes Ansehen, die Wurzeln liegen tief in der rot-weiß-roten Geschichte.

Ob aus Kalkül oder Überzeugung: FPÖ-Chef Herbert Kickl ist unbelehrbar. Entgegen jeglicher Evidenz spricht sich ehemalige Innenminister für Ivermectin zur Behandlung von COVID-19 aus. Man solle eine Studie dazu machen, meinte Kickl zuletzt, obwohl selbst der Hersteller vom Einsatz abrät. Hinterfragen und nicht alles glauben, was man hört – das ist zwar im Alltag eine vernünftige Grundhaltung. Und auch in der Wissenschaft geht es nicht ohne Zweifel. Widerspruch, Kontroverse und Kritik sind Teil der wissenschaftlichen Praxis. Auf diese Weise werden neue Erkenntnisse gewonnen und wissenschaftliche Beweise erbracht.

Problematisch wird es aber, wenn Forschungsergebnisse, über die sich die Scientific Community einig ist, medial in Frage gestellt und politisch instrumentalisiert werden – gegenwärtig in der Debatte über den Klimawandel wie auch im Umgang mit der Corona-Pandemie zu beobachten. „Wenn flächendeckend die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft geschädigt wird, hat das Folgen für alle“, sagt der Kommunikationsforscher Prof. DDr. Matthias Karmasin, Direktor des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Das zeigt auch die jüngste Eurobarometer-Umfrage: „In Ländern, in denen ein großes Vertrauen in die Wissenschaft besteht, ist die Impfquote deutlich höher.“ „Die Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage sind für das Land beschämend und werfen auch auf den Forschungsstandort Österreich ein schlechtes Licht“, sagt Prof. Dr. Helga Nowotny. Die Wiener Wissenschaftsforscherin war von 2010 bis 2013 Präsidentin des European Research Council (ERC) und ist seit 2015 Ehrenmitglied der Akademie. Worin die Gründe für diese wiederholt attestierte skeptische Haltung der österreichischen Bevölkerung zur Wissenschaft liegen? „Ein Teil ist sicher historisch. In der Monarchie wurde Kultur mit ihren Möglichkeiten zu repräsentieren mehr geschätzt als Wissenschaft“, sagt Nowotny.

Gut gedeihende Esoterik


Erklärungsansätze für die hierzulande grassierende Wissenschaftsskepsis bis hin zu -feindlichkeit sieht sie auch in der im deutschsprachigen Raum besonders gut gedeihenden Esoterik. „Dazu gehören der Glaube an Homöopathie, an Bachblüten etc., aber auch der Zuspruch zu einem Entwurmungsmittel zur Bekämpfung von COVID-19.“ Dass die Geringschätzung der Wissenschaft hierzulande eine lange Tradition hat, davon ist auch Prof. Dr. Wolfgang Lutz, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Demographie der ÖAW, überzeugt. Für die Skepsis gegenüber dem rationalen Denken ist historisch auch die katholische Kirche verantwortlich. Lutz, Wittgenstein-Preisträger 2010: „Die mit dem Schwert durchgeführte Gegenreformation sah in den Wissenschaften eine Gefahr für den Machtanspruch.“

Ein Grund, weshalb die Akademie erst 1847 und nur auf bürgerlichen Druck hin gegründet wurde. Zum Vergleich: Die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften in Deutschland, besteht seit 1652, rund 190 Jahre länger. Eine lange Geschichte hat die ablehnende Haltung gegenüber dem Impfen. „Bereits der Tiroler Rebell Andreas Hofer hatte sich den Kampf gegen den Zwang zur Pockenimpfung auf die Fahne geschrieben“, sagt Lutz (siehe Bericht rechts) . Für Karmasin gibt es für die skeptische Haltung der Bevölkerung geschichtlich betrachtet eine Tiefenstruktur – von der mangelnden Akzeptanz der Aufklärung bis zu den Folgen des Nationalsozialismus. „Zudem haben wir eine europaweit einzigartige Konzentration an Boulevardmedien, was Folgen für die Qualität des öffentlichen Diskurses hat.“

Lösungen? „Es kommt weniger darauf an, die fertigen, großartigen Produkte der Wissenschaft anzupreisen, sondern es müssen die oft schwierigen Prozesse aufgezeigt werden, die zu den Ergebnissen führen“, sagt Helga Nowotny. Diese beinhalten: „Scheitern, Neuanfang und den Umgang mit Ungewissheit. Der Bevölkerung muss vermittelt werden, dass Forschung ein langwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang ist, dem wir jedoch enorme Fortschritte verdanken.“

Ein ausführliches Interview mit dem Kommunikationsforscher Matthias Karmasin lesen Sie in der nächsten Ausgabe der Ärzte Woche.

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Metadaten
Titel
Zeit der Zweifelsäer
Publikationsdatum
10.01.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 1-2/2022

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Standpunkte

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