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Open Access 27.03.2024 | Schmerzen | Junge ÖSG

Die Rolle der Physiotherapie bei neuropathischen Schmerzen

verfasst von: Bernhard Taxer, MSc, PhD

Erschienen in: Schmerz Nachrichten

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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert neuropathische Schmerzen als jene Schmerzen, die durch eine Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Nervensystems verursacht werden [16]. Unterschieden wird je nach Lokalisation zwischen peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen. In der Physiotherapie begegnet man Phänomenen der letzteren Gruppe primär in spezialisierten Einrichtungen, die sich der Rehabilitation zentralneurologischer Erkrankungen oder Geschehen widmen, wie etwa Querschnittslähmungen nach Traumen, Schädel-Hirn-Traumata, multiple Sklerose oder Schlaganfälle. Zentral neuropathische Schmerzen sind nicht nur für die Betroffenen eine enorme Belastung, sondern fordern auch alle im Rahmen der Rehabilitation beteiligten Behandler:innen: Ärzt:innen, Physio- und Ergotherapeut:innen, aber auch das Pflegepersonal [25].
Im physiotherapeutischen Alltag finden sich jedoch sehr häufig peripher neuropathisch bedingte Schmerzsyndrome, die für das ungeschulte Auge unter Umständen im ersten Moment gar nicht als solche zu erkennen sind. Zu diesen peripheren Neuropathien zählen unter anderem Einklemmungsneuropathien, neuropathische Schmerzen aufgrund direkter Nervenverletzungen (Schnittwunden, Verbrennungen, Quetschungen), postherpetische Neuralgien, schmerzhafte Polyneuropathien unterschiedlicher Genese (toxisch, infektiös etc.), neuropathische Schmerzen im Rahmen von Amputationen (Neurombildung etc.) und die schmerzhafte Radikulopathie [3, 8, 28].
Auch wenn der Pathomechanismus neuropathischer Schmerzen noch nicht zur Gänze geklärt ist, geht man von Veränderungen des Metabolismus der Nerven und deren Bindegewebsstrukturen aus, die zu den weiter unten angeführten Symptomen führen können. Neben der Ausbildung sogenannter ektopischer Schrittmacher im Axon der Nervenzelle [21] verbunden mit Demyeliniserungsprozessen, spielen Sprouting, Neurombildung, Veränderungen in der Expression diverser Ionenkanäle und Rezeptoren entlang des Axons und neuroimmunologische Vorgänge im spinalen Ganglion, Rückenmark und Kortex (Neuroinflammation) eine wesentliche Rolle in der Entstehung von neuropathischen Schmerzen [4, 15, 26, 27].
Das hohe Risiko der Chronifizierung neuropathischer Schmerzen steht mit den dementsprechenden Mechanismen und auch der psychosozialen Belastung der Betroffenen in Zusammenhang und Bedarf daher eines umfassenden multimodalen Managements [3, 25].
Dieses multimodale Management inkludiert neben pharmakologischen, interventionellen und topischen Interventionen auch psychologische Betreuung und bewegungstherapeutische Aspekte im Zuge der Physiotherapie. In weiterer Folge wird vor allem auf die physiotherapeutische Untersuchung und das daraus resultierende Management vertiefend eingegangen. Exemplarisch werden einerseits Möglichkeiten im Zuge der schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie und der zervikalen bzw. lumbalen Radikulopathie inklusive radikulärer Schmerzen dargestellt.

Untersuchung

Physiotherapeut:innen führen im Zuge ihres Clinical-Reasoning-Prozesses nebst einer subjektiven Untersuchung, die eine umfassende Erhebung der Geschichte und der (Schmerz‑)Symptomatik enthält, auch eine genaue Untersuchung der betroffenen Region durch. Neben dem Patient:innengespräch werden inzwischen vermehrt auch unidimensionale Fragebögen eingesetzt, um die Hypothese eines neuropathisch bedingten Schmerzmechanismus zu bestätigen. Am häufigsten kommen das Leeds Assessment of Neuropathic Signs and Symptoms (LANSS), der deutsche painDETECT und der Douleur Neuropathique 4 (DN 4) zum Einsatz [5, 6, 13].
Wenn bereits eine Diagnose besteht, die in Richtung eines neuropathischen Mechanismus deutet, wie z. B. Karpaltunnelsyndrom, diabetische Polyneuropathie oder zervikale radikuläre Schmerzen, formt das bereits den Denkvorgang der untersuchenden Therapeut:innen. Sehr häufig hat man es allerdings, vor allem in der freien Praxis, mit akuten oder anhaltenden Schmerzsyndromen zu tun, die auf den ersten Blick nicht gleich neuropathischen Charakter aufweisen oder im Zuge eher klassischer muskuloskeletaler Syndrome, wie Nackenschmerz, postoperative Situationen (Knie- oder Hüftendoprothetik) oder diffuse Schmerzen ohne klaren Auslöser, auftreten. Die Schmerzcharakteristik spielt dabei eine wesentliche Rolle. Begrifflichkeiten wie plötzlich einschießend, elektrisierend, brennend, blitzartig oder im Sinne eines klar umschriebenen Bandes entlang einer Extremität verlaufend sollten Therapeut:innen hellhörig werden lassen und dazu veranlassen, weitere „Neuropathie-spezifische“ Untersuchungen durchzuführen.
Bei wirbelsäulenassoziierten Schmerzen oder schmerzhaften Syndromen ist eine neurologische Untersuchung im Zuge des physiotherapeutischen Assessments unabhängig des Verdachts neuropathischer Schmerzen eigentlich obligat. Die Untersuchung der wesentlichen Kennmuskeln, Dermatome und möglicher Beeinträchtigung der Sensibilität sowie der wichtigsten Muskeleigenreflexe erfassen in der Regel, ob ein Funktionsverlust („loss of function“) besteht. Diesen Faktor auszuschließen, hilft bereits im Red-Flag-Screening und liefert bei negativer Testung zusätzlich Zusicherung für die Betroffenen, nach dem Motto: Das Nervensystem funktioniert. Im Falle von Auffälligkeiten, die noch keine pathologisch bzw. neuroanatomisch plausible Ursache erfasst haben [12], muss der:die behandelnde Therapeut:in die Person zur zuweisenden Ärztin bzw. zum Arzt zurückverweisen, um weitere diagnostische Schritte zu gewährleisten. Zusätzlich liefert eine neurologische Untersuchung wertvolle Wiederbefundparameter, die den Verlauf der Genesung dokumentieren und auch prognostisch wertvoll sein können.
Die erweiterte sensorische Untersuchung sollte vor allem dann durchgeführt werden, wenn in der generellen Sensibilitätstestung bereits Auffälligkeiten zu erkennen waren. Ein Funktionsverlust auf der einen Seite bedeutet eine mögliche Beeinträchtigung der Leitungsfunktion peripherer Nerven. Ein Funktionsgewinn andererseits („gain of function“) ist häufig im Zuge peripher neuropathischer Schmerzsyndrome zu detektieren und zeigt sich in Form von thermischer oder mechanischer Hyperalgesie, gelegentlich auch einer Allodynie [3]. Die erweiterte neurologische Bedside-Untersuchung empfiehlt sich im Zuge der Physiotherapie, um mittels dadurch zielgerichteter Therapie einer Chronifizierung entgegenzuwirken und multimodale Strategien zu ermöglichen. Abb. 1 zeigt schematisch ein mögliches Vorgehen im Zuge der Untersuchung, um die dementsprechenden Aspekte zu erfassen.
Die quantitativ sensorische Testung (QST) gilt zwar als Goldstandard in der Untersuchung neuropathischer Schmerzen [24], ist jedoch häufiger im Zuge wissenschaftlicher Untersuchungen oder in spezialisierten Einrichtungen anzutreffen. Der hohe zeitliche Aufwand, das jeweilige Know-how in Bezug auf Usability und Kosten sprechen dafür, in der Praxis die jeweiligen Modalitäten mit einfachen Geräten wie kalten/warmen Münzen, Zahnstochern, Wattebausch oder Rydel-Seiffert-Stimmgabel durchzuführen [1].
Die häufig angewandten neurodynamischen Untersuchungsstrategien, wie Palpation der Nerven und neurodynamische Tests wie der Straight Leg Raise (Abb. 2a), der SLUMP (Abb. 2b) oder der Upper Limb Neurodynamic Test 1 (ULNT 1 – Abb. 2c), dienen der Überprüfung einer möglichen gesteigerten Mechanosensitivität des neuralen Bindegewebes [29]. Gemeinsam mit der neurologischen Untersuchung bilden sie eine valide Untersuchungsform, um den Zustand des peripheren Nervengewebes zu überprüfen. Dies betrifft sowohl die Funktion, im Sinne einer gesteigerten („gain of function“) oder verringerten („loss of function“) Funktion des Nervensystems, als auch die Empfindlichkeit des Bindegewebes des Nervs auf mechanischen Druck (Palpation) bzw. Zug (neurodynamische Tests; [22, 23]).
Zusammenfassend geht es bei der Erfassung neuropathischer Schmerzmechanismen um eine umfassende subjektive Untersuchung bzw. Anamnese, eine dementsprechende physische Untersuchung bzw. objektive Befunderhebung bezogen auf haltungs- und bewegungsabhängige Aspekte und um eine Kombination aus neurodynamischer Untersuchung (Palpation, neurodynamische Tests) und erweiterter neurologischer Bedside-Testung, die neben der klassischen Kraft‑, Reflex- und Sensorik-Untersuchung Komponenten aus der herkömmlichen QST beinhalten sollte [1, 3, 23, 28, 29].

Multimodales Management

Das physiotherapeutische Management ist nachvollziehbarerweise neben dem allgemein neuropathischen Erscheinungsbild auch auf die jeweilige Genese der Schmerzsituation anzupassen und muss immer multimodal erfolgen, d. h. zusätzlich zu pharmakologischen oder interventionellen Maßnahmen. Im Zuge einer wirbelsäulenassoziierten Radikulopathie bezieht sich die Therapie vermehrt auf die bestehenden haltungs- und positionsabhängigen Faktoren, wie zum Beispiel eine adäquate Lagerung, manualtherapeutische Interventionen oder an die Richtungspräferenz angepasste Übungen für die Betroffenen. Entgegen der landläufigen Idee, dass manualtherapeutische Traktionen einen großen Mehrwert hätten, konnte dies in einer narrativen Übersichtsarbeit zumindest für die zervikale Radikulopathie nicht bestätigt werden [9].
In der Behandlung neuraler Gewebeschäden im Rahmen einer radikulären Situation stehen zusätzlich Stabilisationsübungen und Kontrolle der Muskulatur der Wirbelsäule im Fokus, um eine verbesserte Funktion und Schmerzlinderung zu erreichen. Bisher wurden die genannten Stabilisations- und Motor-Control-Techniken nicht direkt miteinander verglichen, was eine klare Empfehlung für die eine bzw. andere Intervention erschwert und wahrscheinlich auch nicht klinisch relevant ist. Ein wichtiger Ansatz ist die Reduktion der Mechanosensitivität des neuralen Bindegewebes durch spezifische Techniken und Übungen. Dabei gibt es zunehmend Hinweise darauf, dass progressivere Maßnahmen (Stichwort Tension) zur Behandlung der neuralen Komponente bei der Regeneration von geschädigtem Nervengewebe möglicherweise effektiver sind als bisher angenommen [7, 10].
Beim Betrachten der Studien zum Thema physiotherapeutische Behandlung peripherer Neuropathien ist zu beachten, dass allgemein leider ein hohes Risiko für Verzerrungen besteht, besonders in Bezug auf Gruppengröße, Divergenz der Kontrollgruppen und Inklusionskriterien. Es gibt auch Hinweise darauf, dass die physiotherapeutischen Interventionen nicht zwangsläufig komplexeren oder teureren Behandlungen überlegen sind. Dennoch bleibt die Physiotherapie eine sichere Option, die auch soziale und gesundheitsbezogene Aspekte berücksichtigt. Es ist zudem wichtig, die Erwartungshaltung der Patient:innen zu berücksichtigen, die einen Einfluss auf den Behandlungserfolg hat [17].
Allgemein empfiehlt es sich bei peripheren Neuropathien, inklusive der schmerzhaften Polyneuropathie, systemisches Training zu integrieren. Dies bezieht sich laut aktuellen Studien vor allem auf moderates Ausdauertraining, aber auch auf High-intensity-Intervalltraining [2, 11, 14, 1820].
Allgemeines Sensorik- und Motorik-Training bei Funktionsverlust sind ebenso sinnvoll wie die Anwendung elektrotherapeutischer oder anderer physikalischer Maßnahmen. Hervorzuheben ist die TENS-Intervention, wobei zuvor eine klare neurologische Testung erfolgt sein muss, um die Applikation adäquat anzupassen und keine sekundären Schäden zu riskieren.

Zusammenfassung & Ausblick

Die Bewältigung neuropathischer Schmerzen stellt nicht nur eine erhebliche Herausforderung für die Betroffenen dar, sondern auch für die verschiedenen Fachkräfte, die in ihre Behandlung involviert sind. Neben der Identifizierung potenziell beitragender Faktoren (metabolisch, psychologisch etc.) und des Schmerzmechanismus selbst, muss die Therapie stets biopsychosoziale Aspekte berücksichtigen. Daher ist ein multimodaler und multiprofessioneller Ansatz erforderlich. Physiotherapeut:innen spielen eine wichtige Rolle bei der Früherkennung und Behandlung, sollten jedoch speziellere Aufmerksamkeit auf neurologische Komponenten legen, auch in Bezug auf traditionell muskuloskeletale Präsentationen, um keine neuropathischen Schmerzkomponenten zu übersehen.
In einer der kommenden Ausgaben der SCHMERZ NACHRICHTEN wird anhand eines spezifischen Fallbeispiels auf die Thematik Rückenschmerz und die damit möglicherweise verbundene Herausforderung radikulärer neuropathischer Schmerzen eingegangen.

Interessenkonflikt

B. Taxer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
21.
Zurück zum Zitat McMahon S, Koltzenburg M, Tracey I, Turk DC. Wall & Melzack’s textbook of pain: expert consult—online and print, 6th Aufl. Oxford, Philadelphia, PA: Elsevier; 2013. McMahon S, Koltzenburg M, Tracey I, Turk DC. Wall & Melzack’s textbook of pain: expert consult—online and print, 6th Aufl. Oxford, Philadelphia, PA: Elsevier; 2013.
Metadaten
Titel
Die Rolle der Physiotherapie bei neuropathischen Schmerzen
verfasst von
Bernhard Taxer, MSc, PhD
Publikationsdatum
27.03.2024
Verlag
Springer Vienna
Schlagwort
Schmerzen
Erschienen in
Schmerz Nachrichten
Print ISSN: 2076-7625
Elektronische ISSN: 2731-3999
DOI
https://doi.org/10.1007/s44180-024-00177-z