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Open Access 20.03.2024 | Originalien

Die Geschichte der Psychosomatik in Österreich

Anmerkungen eines Zeitzeugen – Teil 4

verfasst von: Univ.-Prof. Dr. Peter J. Scheer

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie

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Zusammenfassung

Die Psychosomatik entwickelte sich nach der Wiederentdeckung der Psychoanalyse in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Österreich langsam weiter. Leitfigur dieser Zeit war Erwin Ringel, Pionier der Suizidprävention und erster Ordinarius für Psychosomatik an der psychiatrischen Universitätsklinik in Wien. Die allgemeinverständliche Ausdrucksweise und Laienpublikationen machte die neue Denke populär. Erwin Ringel wollte die Psychosomatik als Prinzip jedes medizinischen Fachs und nicht als eine neue Fachrichtung installieren. So richtig sein Ansatz war, so sehr behinderte er die Entwicklung dieses Fachs, weil es lange keinen „Platz“ im Kanon der Sonderfächer fand. In der Pädiatrie richtete Hans Zimprich am Karolinen-Kinderspital in Wien eine psychosomatische Station ein: Junge, begeisterte Ärztinnen und Ärzte wurden psychosomatisch handelnde Pädiater. Das Team wurde von einer Psychoanalytikerin und einem Psychiater ergänzt. Wir machten erste Schritte, starteten mit Kindern, die an Enuresis nocturna litten, die damals mit Imipramin, einem trizyklischen Antidepressivum (Imipramin [Tofranil®] kann schon bei normaler Dosierung kardiotoxisch sein; 1980 wurde empfohlen, es bei der an sich harmlosen Störung Enuresis noct. hoch zu dosieren) mit hoher Toxizität und/oder mit Klingelmatratze versorgt wurden. Das war gefährlich und half nicht. Das für Österreich Neue, die psychodynamische Denkweise, eroberte viele Gebiete der Medizin und setzte Psychodynamik an die Stelle von klassischer Psychiatrie. Niederschwelligkeit und inmitten der klassischen Pädiatrie sein – das war der Traum.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Die Erholung der Psychosomatik nach dem Zweiten Weltkrieg begann schleppend. Gerade in der Pädiatrie war es übel: Noch aus der Vorantibiotikazeit gab es wegen der Angst vor Ansteckung praktisch keinen Besuch in Kinderabteilungen. Die Diagnose Scharlach führte zu einer sechswöchigen stationären Aufnahme; die Schule wurde desinfiziert; Geschwister durften keinen Kontakt zum Erkrankten haben. Die stationären Kinder wurden den Eltern sonntags durch eine Glasscheibe gezeigt. Es lag an Pionieren wie Hans Zimprich und Hans Czermak in Wien, eine neue Zeit einzuläuten. Sie begegneten unglaublichen Widerständen: Ärzte und Schwestern hatten die Arbeiten René A. Spitzens nicht rezipiert. Die anaklitische Depression1 des Säuglings und Kleinkinds war unbekannt. Was erlebt wurde war, dass das Kind, nachdem es seine Mutter gesehen hatte, unruhiger und weinerlich wurde. Daraus schloss man fälschlich, dass der Besuch der Eltern schadet, statt zu wissen, dass das sicher gebundene Kind durch den Anblick der Mutter Hoffnung schöpft und aus seiner Lethargie erwacht. Es gab keine oralen Cortisolmessungen, die den andauernden Stress des alleingelassenen Kindes gezeigt hätten. Damals waren noch Lehrbücher verfügbar, in denen dem Neugeborenen die Fähigkeit zu sehen und zu hören abgesprochen wurde. Es wurde angenommen, dass Neugeborene keine Schmerzen empfinden können, und Eingriffe wie zum Beispiel der Scherenschlag des Zungenbändchens wurden daher ohne Anästhesie durchgeführt. Von der Wahrnehmung eines intrauterinen Schmerzempfindens war keine Rede. Die Bedeutung der fetalen Bewegungen war unbekannt, Ultraschall gab’s noch nicht, das Kind war mehr Objekt als Subjekt, Eltern und Ärzten ausgeliefert. Die Persönlichkeit des Fetus und Säuglings wurde kaum wahrgenommen. Das in den USA berühmteste und millionenfach verkaufte Elternberatungsbuch von B. Spock „Dein Kind, dein Glück“ wandte sich schon 1942 gegen vierstündliche Mahlzeiten und Strenge, gegen das Schreien lassen und verordnete den liebevollen Umgang mit dem Kind. Die Ad-libitum-Fütterung wurde bis dahin (und in Europa noch lange) als Verweichlichung angesehen und von den Konservativen bekämpft. War die Kindererziehung bis dahin der Erzeugung einer soldatischen Persönlichkeit gewidmet, initiierte Spock die Wendung zur Erziehung des freien Bürgers einer demokratischen Gesellschaft. Im Kalten Krieg und in den Kämpfen danach (Vietnam) wurde die „Spock-Generation“ als verweichlicht angesehen. Die Baby-Boomer der sechziger Jahre schienen die „freie Welt“ nicht mehr verteidigen zu können.

Neue Ansätze

Hans Asperger war wöchentlich im Karolinen-Kinderspital, um uns „Junge“ zu supervidieren. Allerdings vertraten wir den tiefenpsychologischen Ansatz, der sich mit dem heilpädagogischen Denken nicht vereinen ließ. Libertinage, Freiheit für unsere Patienten (während die auf der Heilpädagogik stationären Patienten zweimal wöchentlich begleiteten Ausgang hatten, konnten unsere jeden Tag rausgehen, die Älteren allein) – Weite, statt Enge der strengen Führung. Selbsterkundung und analytische Psychotherapie stand im Mittelpunkt unseres Teams, bestehend aus den beiden Psychoanalytikern Karl Purtzner und Renate Singer, sowie Alois Piperger, Bibi Berger-Margulies und dem Autor, etwas später noch Barbara Langegger. Psychosoziales Management war ebenso gefragt wie Einzel- und Familientherapie, lange bevor systemisches Denken in der Psychosomatik den Ton angab.
Vorbilder waren uns etwa Erwin Ringel, dem späteren „Psychiater der Nation“, der eine Erwachsenenpsychosomatik gemeinsam mit Peter Gathmann an der psychiatrischen Klinik leitete. In der Pädiatrie gab es nur wenige psychosomatische „Pflänzchen“ in Österreich: Burkhart Mangold übernahm in Innsbruck die ehemalige Infektionsabteilung im Nebentrakt der Klinik und begann mit serviceorientierter Liaisonarbeit für alle Fragen unklarer Störungen.
Ich gründete 1981 mit Erwin Ringel das Institut für medizinische Psychologie der medizinischen Fakultät der Universität Wien, ohne Geld, ohne Räume. Wir lehrten in Privatordinationen und prüften in Kaffeehäusern.
Erwin Ringels Stern ging auf. Leidenschaftlich setzte er sich für die Selbstmordprävention und Psychosomatik ein. Er war Zimprichs Lehr-, mein Kontrollanalytiker. Seine Führung der Psychosomatik war ebenso unkonventionell, wie herausragend: Jeder Patient konnte immer bei ihm vorsprechen, Patientenparlamente unterstrichen den demokratischen Charakter der Station, jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter wurde gleichwertig anerkannt und geschätzt. Seine Habilitationsschrift zum Selbstmord als Abschluss einer krankhaften Entwicklung führte bis zur Änderung des Iuris Canonici: Suizid war nicht mehr eine Sünde gegen das Leben (so dass der/die Selbstmörder/in nicht in geweihter Erde begraben werden durfte), sondern das Ende einer psychiatrischen Entwicklung, die er im Einengungskonzept beschrieb. Ringel war Präsident der Individualpsychologischen Vereinigung Österreichs. In Adlers Tradition formulierte er einfach und griffig: „Was kränkt, macht krank!“ Das war jedem Laien verständlich.

Bedeutende Mutter-Kind-Beziehung

Uns Junge trieb Pioniergeist an. Besonders in der Kinderheilkunde erfuhr man von den Bindungsforschern über die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung für viele Bereiche der Entwicklung. Die Versuche Harry Harlows2 mit Affenkindern zeigten, wie gescheiterte Mutter-Kind-Beziehungen transgenerational weitergegeben werden. Harlow nahm jungen Primaten die Mutter weg. Stattdessen positionierte er ein Milchfläschchen auf einem Drahtgerüst und – hinter einer hohen, aber überwindbaren Wand – ein Fell auf einem anderen Drahtgestell. Die Äffchen nahmen einen Schluck aus der Flasche, die schräg nach unten zeigte und huschten sofort zum Fell und wieder zurück. Das Experiment zeigte, dass sie „Mutterliebe“ ebenso stark wie Futter brauchten.
Diese geschädigten Äffchen, später selbst Mütter geworden, verloren ihre Kinder beim Springen und Hüpfen. Bei gesunden Bindungen klammern sich die Neugeborenen an die Mutter, wenn diese von Ast zu Ast springt, und werden von ihr im Flug mit einem Arm festgehalten. Die „frühgestörten“ Mütter machen das nicht. Manchmal legt so eine Mutter ihr Neugeborenes auch irgendwo ab, sucht es nicht oder reagiert nicht, wenn das Neugeborene schreit. Harlow konnte zeigen, dass fehlende frühe Bindung zu Schäden in der 1. und 2. Generation führt, es sich also „vererbt“. Er bereitete der Bindungsforschung Mary Ainsworth’3 den Weg. Wir wüssten nicht, dass frühe Beziehung und Bindung für ein gesundes Aufwachsen unerlässlich sind. Ohne Harlow gäbe es keine Heidi Als4, die die sensible Behandlung Frühgeborener einführte. Wir wissen heute, dass die sanfte Säuglingspflege, die Rücksichtnahme auf das Freigeborene lebenswichtig für das Kind und seine Nachkommen ist.
Die Psychosomatik wurde zur Wissenschaft. Da sich nur so publizieren ließ, übernahm eine lerntheoretisch orientierte Psychosomatik die Bühne. Die scheinbar plötzlich als unwissenschaftlich geltende, geisteswissenschaftlich-hermeneutische Psychosomatik trat ab und die moderne Wirklichkeitskonstruktion übernahm. Ob es ein Pyrrhussieg5 gewesen ist? Am Weg zur Anerkennung ging manches verloren.

Vorschau: Teil 5

Die Psychosomatik konnte sich ab den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts so etablieren und stabilisieren, wie andere Spezialfächer der Pädiatrie. Im 5. Teil werden wir uns die Früchte der Pionierinnen ansehen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

P.J. Scheer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Fußnoten
1
Unter anaklytischer Depression verstand R. A. Spitz den völligen Rückzug des Säuglings, wenn er ohne Bezugsperson „nur“ gepflegt wird. Diese beobachtete er in der Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien, in demselben Bau, wie dem Karolinen Kinderspital, in dem Hans Zimprich Anfang der siebziger Jahre Primar wurde. Statt Zimprich als Ruhestörer zu bekämpfen, hätte man ihn auch als Wiederentdecker eines weltbekannten Forschers feiern können.
 
3
Mary Ainsworth erstellte ein Testprotokoll bei dem einjährige Kinder allein mit einer Psychologin im Raum bleiben. Zu ihrer eigenen Überraschung zeigte sich, dass die Kinder, die in Abwesenheit ihrer Mütter „funktionierten“ tatsächlich unter hohem Stress leiden. Die Anfangs als gesund beschriebene Gruppe A ihrer Versuchsreihe wurde hernach zur gestörten Gruppe derer, die unsicher gebunden sind. Die, die weinten, wenn die Mutter den Raum verließ, aber nach Rückkehr der Mutter sofort von ihr beruhigbar waren (Gruppe B), sind die als sicher gebundenen Kinder klassifiziert worden.
 
4
Heidi Als untersuchte klassische neonatologische Pflege. Sie konnte anhand von Stressparametern zeigen, dass das andauernde Licht, die für das Kind unvorhersehbaren Ein-(An-)griffe nicht nur zu Herzfrequenzsteigerungen führten, sondern auch Hirnblutungen beförderten. Unvorstellbar wäre heute die Objektifizierung des Kindes im Inkubator, wie sie damals war. Stündliche Blutabnahmen aus der Ferse, angreifen, ohne anzuklopfen und die Ausschließung der Mütter aus der Station sind nicht mehr vorstellbar.
 
5
Unter Pyrrhussieg versteht man einen Sieg, in dem der Sieger so geschwächt aus dem Sieg hervorgeht, dass er die Früchte des Siegs nicht ernten kann.
 
Metadaten
Titel
Die Geschichte der Psychosomatik in Österreich
Anmerkungen eines Zeitzeugen – Teil 4
verfasst von
Univ.-Prof. Dr. Peter J. Scheer
Publikationsdatum
20.03.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-024-01203-7