Angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungen gewinnen Fragen zur Geschlechtsidentität und zum Geschlechtsausdruck immer mehr an Relevanz. Besonders Kinder und Jugendliche sehen sich bei der Beschäftigung mit ihrer eigenen Geschlechtsidentität häufig mit komplexen Herausforderungen konfrontiert. Daher ist es unerlässlich, dass sie auf ihrem Weg unterstützt und mit Verständnis begleitet werden.
Der Behandlungsprozess von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz/Geschlechtsdysphorie in Österreich ist ein umfassender und interdisziplinärer Prozess, der darauf abzielt, die individuellen Bedürfnisse der geschlechtsdysphorischen Kinder und Jugendlichen zu erkennen und zu adressieren. Dabei spielt die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen eine zentrale Rolle, um eine fundierte Diagnostik und eine auf den Einzelfall abgestimmte Therapie zu gewährleisten. Ziel ist es, durch ein ganzheitliches Betreuungskonzept die psychische und physische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zu fördern und ihnen eine positive Entwicklung zu ermöglichen.
Begriffsklärung
Geschlechtsdivers, non-binary/nichtbinär, trans*/transident/transgender/transgeschlechtlich sind Begriffe, die das Identitätserleben einer zunehmenden Anzahl von Kindern und Jugendlichen beschreiben. Geschlechtsdivers dient als Überbegriff und bezieht sich auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die sich mit einem anderen Geschlecht identifizieren als dem bei der Geburt zugewiesenen binären Geschlecht und/oder durchgängige geschlechtliche Nonkonformität zeigen. Im Gegensatz dazu steht der Begriff cisgender, der Personen beschreibt, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt [
1,
2].
Nichtbinäre Personen erleben ihre Geschlechtsidentität außerhalb der binären Geschlechterordnung und definieren sich daher nicht ausschließlich als männlich oder weiblich. Der Begriff „nichtbinär“ umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Identitäten. Einige nichtbinäre Menschen haben mehrere Geschlechtsidentitäten gleichzeitig oder zu unterschiedlichen Zeiten, während andere sich keiner bestimmten Geschlechtsidentität zuordnen (z. B. Agender-Personen). Zudem gibt es Personen, deren Geschlechtsidentität Merkmale mehrerer Geschlechter integriert (z. B. polygender, genderfluid, genderqueer; [
2,
3]).
Transgender- oder transgeschlechtliche Personen identifizieren sich temporär oder dauerhaft mit einem Geschlecht, das nicht ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entspricht [
2,
4]. Eine nichtcisgeschlechtliche Identität kann sich bereits in der frühen Kindheit manifestieren oder später, vor allem mit dem Einsetzen der pubertären Veränderungen, auftreten.
Diagnostische Klassifikation
Es ist wichtig zu betonen, dass Menschen mit einer transidenten, nichtbinären oder geschlechtsdiversen Identität nicht immer Leidensdruck oder den Wunsch nach medizinischen Maßnahmen, wie einer geschlechtsangleichenden Hormontherapie, verspüren [
3,
5]. Wenn jedoch der Wunsch nach somatomedizinischen Maßnahmen besteht, kann eine Diagnosestellung notwendig sein, um das individuelle Erleben der Kinder und Jugendlichen besser zu verstehen und angemessen zu unterstützen. Es soll ein individuell abgestimmtes Angebot an Unterstützung und Behandlung bereitgestellt werden, das den Fokus auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien legt.
In der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision (ICD-10) wurden die Diagnosen Geschlechtsidentitätsstörung des Kindesalters (F64.2) und Transsexualismus (F64.0) verwendet [
6], welche oft zur Stigmatisierung und Pathologisierung der Betroffenen beitrugen [
7]. Mit der Überarbeitung der ICD-10 und Einführung der ICD-11 wurde ein bedeutender Schritt zur Entpathologisierung und Destigmatisierung unternommen. In der ICD-11 wird die Diagnose Geschlechtsinkongruenz eingeführt, welche die Nichtübereinstimmung zwischen der erlebten Geschlechtsidentität und dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht beschreibt. Diese Diagnose wird nicht mehr unter den psychischen Störungen aufgelistet, sondern im Kapitel „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ verortet [
8]. Im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen DSM-5 wird hingegen der Begriff Geschlechtsdysphorie verwendet. Geschlechtsdysphorie bezieht sich auf den klinisch relevanten Leidensdruck, der aus der durch die Geschlechtsinkongruenz entstandenen Diskrepanz resultieren kann [
9].
Beide neueren Klassifikationssysteme bieten spezifische Diagnosekriterien einerseits für Kinder, anderseits für Jugendliche und Erwachsene. Bei Kindern werden neben der körperlichen Inkongruenz auch Besonderheiten im Phantasiespiel sowie Präferenzen bei Spielzeug, Spielkameraden und Aktivitäten berücksichtigt. Bei Jugendlichen und Erwachsenen steht vielmehr die Identifikation mit dem erlebten Geschlecht im Mittelpunkt [
8,
9].
Behandlungsempfehlungen bei Geschlechtsinkongruenz/Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen in Österreich
Zentrale Leitlinien für die Behandlung geschlechtsinkongruenter/geschlechtsdysphorischer junger Menschen in Österreich umfassen die „Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen nach der Klassifikation in der derzeit gültigen DSM- bzw. ICD-Fassung“ [
5]. Auf internationaler Ebene sind zur Berücksichtigung empfohlene Leitlinien die „Standards of Care for the Health of Transgender and Gender Diverse People, Version 8“ (SOC 8) der World Professional Association for Transgender Health (WPATH; [
10]) sowie die Leitlinie „Endocrine Treatment of Gender-Dysphoric/Gender-Incongruent Persons“ der Endocrine Society [
11]. Beide internationalen Leitlinien enthalten in ihren Unterkapiteln spezifische Empfehlungen für den Behandlungsprozess von Kindern und Jugendlichen.
In Verbindung mit dem Behandlungsprozess ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine Transidentität oder nichtbinäre Identität nicht grundsätzlich als pathologisch oder behandlungsbedürftig eingestuft werden sollte. Die Diagnosen sollen Kindern, Jugendlichen und deren Familien dabei helfen, adäquate Unterstützung bei der Entwicklung von Umgangsstrategien zu erhalten und gleichzeitig die Finanzierung notwendiger medizinischer Maßnahmen durch das Gesundheitssystem zu sichern. Kinder, Jugendliche und ihre Familien benötigen vor allem eine umfassende Begleitung während des gesamten Behandlungsprozesses [
5].
Der Behandlungsprozess sollte laut den aktuellen österreichischen Empfehlungen von einem multidisziplinären Team begleitet werden, das Fachpersonen aus den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie, klinische Psychologie und Psychotherapie umfasst. Diese Expert:innen bringen ihre spezifische Fachkenntnis ein, um eine sorgfältige Evaluation und Indikationsstellung sicherzustellen. Eine konsensbasierte Entscheidungsfindung, idealerweise durchgeführt in interdisziplinären Fallkonferenzen, gewährleistet eine umfassende Evaluation der individuellen Bedürfnisse und der gegenwärtigen Situation des Kindes oder Jugendlichen im Transitionsprozess. Nach der Fallkonferenz sollten die Empfehlungen und Erkenntnisse der Fachpersonen in einem offenen Gespräch mit der Familie besprochen werden. Mithilfe dieses partizipativen Ansatzes kann eine Behandlungsstrategie entwickelt werden, die die individuellen Bedürfnisse und Wünsche des Kindes oder Jugendlichen sowie die Unterstützung der Familie adäquat berücksichtigt [
5]. Derzeit existieren in Österreich drei an Universitätskliniken angebundene spezialisierte Zentren für Geschlechtsinkongruenz/Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: das Geschlechtsinkongruenzboard des Comprehensive Center for Pediatrics der Medizinischen Universität Wien, das Transgender Center Innsbruck sowie die „Trans* und nun?“-Ambulanz der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Graz.
Interventionsmöglichkeiten im Kindes- und Jugendalter
Bei jüngeren Kindern ist die Variabilität der Entwicklungsverläufe besonders groß, weshalb vor der Pubertät keine medizinischen Interventionen durchgeführt werden sollten [
12]. Der Schwerpunkt liegt auf psychosozialen Maßnahmen wie der Etablierung einer begleitenden psychologischen Therapie bzw. Psychotherapie, klinisch-psychologischer Diagnostik oder der Initiierung einer sozialen Transition, wenn dies vom Kind gewünscht und von seiner Familie unterstützt wird. Eine soziale Transition kann Elemente wie die Anpassung des Geschlechtsausdrucks (z. B. Frisur, Kleidung), die Verwendung des Wunschnamens und/oder die Änderung der Pronomen umfassen [
2]. In Österreich können solche Änderungen auch amtlich im Rahmen einer Personenstands- und Namensänderung vorgenommen werden [
13].
Ab Pubertätsbeginn können zusätzlich zu psychosozialen Maßnahmen auch somatomedizinische Interventionen in Betracht gezogen werden. Hierzu zählen Pubertätsblockade, Menstruationsunterdrückung (bei geburtsgeschlechtlich weiblichen Personen) und geschlechtsangleichende Hormontherapien. Diese Maßnahmen können üblicherweise ab einem bestimmten Pubertätsstadium oder ab dem 16. Lebensjahr in Betracht gezogen werden und erfordern eine gründliche klinisch-psychologische, psychotherapeutische sowie kinder- und jugendpsychiatrische Evaluierung und die Zustimmung aller Erziehungsberechtigten [
5].
Pubertätsarretierende Hormontherapie mit GnRH-Analoga
Seit den 1990er-Jahren wird bei Jugendlichen mit Transidentität die Therapie zur Arretierung der Pubertätsentwicklung mittels Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH)-Analoga angewendet [
14]. Diese Behandlung kann ab einem Alter von 12 Jahren beginnen, wenn die Jugendlichen das Pubertätsstadium Tanner 2–3 erreicht haben. Ziel ist es, das Fortschreiten unerwünschter körperlicher Veränderungen zu verhindern und die psychische Belastung zu reduzieren. Zudem bietet sie Zeit für eine erneute diagnostische Bewertung und langfristige Beobachtung, bevor irreversible geschlechtsangleichende Maßnahmen eingeleitet werden. Jugendliche, die sich für diese Therapie qualifizieren, erleben typischerweise eine zunehmende Geschlechtsdysphorie mit Beginn der Pubertät. Eine kontinuierliche klinisch-psychologische und psychotherapeutische Betreuung sowie die unterstützende Einbeziehung der Familie sind hierbei von großer Bedeutung [
5].
Die Therapie erfolgt durch subkutane Injektionen, die alle vier Wochen verabreicht werden. Diese können Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Gewichtszunahme und anfängliche Stimmungsschwankungen verursachen. Während der pubertätsarretierenden Therapie sind regelmäßige pädiatrisch-endokrinologische Kontrollen notwendig, um den Stoffwechsel, die Knochengesundheit und die Körpergröße zu überwachen. Studien zeigen eine signifikante Verbesserung der psychischen Gesundheit durch diese Behandlung, obwohl die Langzeiteffekte und Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit noch nicht vollständig erforscht sind [
15]. Die Beeinträchtigung bzw. fehlende Ausbildung der Fertilität abhängig vom Alter bei GnRHa-Therapiebeginn sollte aktiv angesprochen werden. Besonders bei geburtsgeschlechtlich männlichen transgeschlechtlichen Jugendlichen, die die Pubertätsunterdrückung in einem fortgeschrittenen Stadium beginnen, kann die Möglichkeit der Spermienkonservierung in Betracht gezogen werden, um zukünftige Fortpflanzungswünsche zu berücksichtigen [
16].
Geschlechtsangleichende Hormontherapie
Ab einem Alter von ca. 16 Jahren kann zusätzlich zur GnRH-Analoga-Therapie eine geschlechtsangleichende Hormontherapie mit Östrogen (für geburtsgeschlechtlich männliche Jugendliche) oder Testosteron (für geburtsgeschlechtlich weibliche Jugendliche) begonnen werden und weiterhin zusammen mit der GnRH-Therapie durchgeführt werden. Nach sorgfältiger Indikationsstellung und Ausschluss von Kontraindikationen erfolgt eine schrittweise Anpassung der Dosis [
11]. Testosteron wird üblicherweise intramuskulär oder transdermal verabreicht, während Östrogen oral oder ebenfalls transdermal gegeben wird. Im Unterschied zur Hormonbehandlung bei Erwachsenen wird die geschlechtsangleichende feminisierende oder maskulinisierende Hormontherapie der somatischen und emotionalen Entwicklung der Jugendlichen angepasst. Die Dosis wird schrittweise erhöht, ähnlich einer natürlichen Pubertätsinduktion. Es ist wichtig, auf die mögliche nachhaltige Beeinträchtigung oder den Verlust der Fruchtbarkeit hinzuweisen. Langzeitstudien an Erwachsenen zeigen eine erhöhte Rate kardiovaskulärer Erkrankungen bei geburtsgeschlechtlich männlichen Transpersonen und eine verbesserte Lebensqualität nach geschlechtsangleichender Hormontherapie [
17]. Bei Jugendlichen sind die Effekte auf die langfristige Gesundheit noch nicht vollständig bekannt. Dennoch zeigen Studien eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität und des subjektiven Wohlbefindens [
16,
18].
Ausblick – S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“
Die S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“ hat das Ziel, die Behandlungsstandards für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie auf eine evidenzbasierte und konsensgestützte Grundlage zu stellen, um die Qualitätsstandards in der medizinischen Versorgung signifikant zu verbessern. Die Leitlinie wurde am 16.12.2020 angemeldet und aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, die bisherigen Leitlinien umfassend zu aktualisieren und an die neuen internationalen Standards der ICD-11 und des DSM‑5 anzupassen. Wie bereits beschrieben, haben beide Klassifikationssysteme die alten Begriffe zugunsten einer entstigmatisierenden Terminologie ersetzt, was gleichzeitig einen Paradigmenwechsel in der medizinischen und psychologischen Betrachtung und Behandlung darstellt. Ein zentraler Fokus der Leitlinie liegt auf der Berücksichtigung der besonderen Entwicklungsverläufe im Kindes- und Jugendalter. Die noch nicht abgeschlossene biologische Reifeentwicklung sowie die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung erfordern eine separate Leitlinienentwicklung, die spezifisch auf die Bedürfnisse dieser Altersgruppe eingeht und gleichzeitig die Erkenntnisse der Erwachsenenmedizin integriert [
19].
Die Erstellung der Leitlinie wird von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) koordiniert und umfasst Beiträge zahlreicher Fachgesellschaften, darunter auch Vertreter aus Österreich und der Schweiz. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) ist federführend an der Entwicklung beteiligt. Die AWMF-Leitlinien sind zwar rechtlich nicht bindend, werden jedoch als Standard in der klinischen Praxis herangezogen und dienen als wichtige Orientierungshilfe für die Behandlung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz oder Geschlechtsdysphorie.
Aktuell wird das Leitlinienmanuskript nach Abschluss der fachöffentlichen Kommentierungsphase überarbeitet. Diese Phase dient der finalen Abstimmung und redaktionellen Überarbeitung. Abschließend wird die Leitlinie veröffentlicht, um eine evidenzbasierte und konsentierte Grundlage für die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im deutschsprachigen Raum zu schaffen.
Die vorläufige Fassung, welche zur Kommentierung bereitgestellt wurde, deutet auch auf einige Veränderungen im Vergleich zu den aktuellen österreichischen Empfehlungen hin. Eine verpflichtende Psychotherapie wird nicht mehr vorgesehen, jedoch in den meisten Fällen empfohlen. Eine Psychotherapie kann eine entscheidende Rolle bei der psychischen Vorbereitung und der medizinischen Indikationsstellung somatischer Maßnahmen spielen. Auch können psychotherapeutisch begleitete Klärungsprozesse notwendig sein, wenn die Geschlechtsinkongruenz eines Kindes zu Konflikten in der Eltern-Kind-Beziehung führt. Sie unterstützt zudem bei der Vorbereitung auf ein Outing, bei der Bewältigung von Minderheitenstress und bei begleitenden psychischen Störungen. Darüber hinaus gibt es in der Leitlinie einen expliziten Hinweis auf die Notwendigkeit einer gezielten Diagnostik von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie. Dabei soll auf das mögliche Vorliegen von behandlungsbedürftigen Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen mit Identitätsdiffusion, selbstverletzendem Verhalten, Suizidalität und möglichen Autismus-Spektrum-Störungen hingewiesen werden. Die Leitlinien empfehlen eine „zweigleisige“ Indikationsstellung für somatomedizinische Maßnahmen. Dies bedeutet, dass sowohl eine jugendpsychiatrische bzw. psychologisch/psychotherapeutische diagnostische Einschätzung als auch eine somatische Indikationsstellung durch eine in der Behandlung von Jugendlichen erfahrene endokrinologische Fachperson erfolgen sollte. Betont wird in Übereinstimmung mit den WPATH SOC 8 [
10], dass der jugendpsychiatrisch-psychologische/psychotherapeutische Teil der Indikationsstellung die Prüfung der Entscheidungsfähigkeit des Patienten in Bezug auf die konkret geplante Behandlung durch die indizierende Fachperson beinhalten sollte. Die Indikationsstellung für somatomedizinische Maßnahmen bei Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie sollte zudem unabhängig von einem binären Zugehörigkeitsempfinden zu einem bestimmten Geschlecht und unabhängig von der sexuellen Orientierung getroffen werden [
20].
Fallbeispiel
Sam (Geburtsname: Theres; Namen für die Falldarstellung geändert) wurde im Alter von 14 Jahren erstmals aufgrund selbstverletzenden Verhaltens an einer Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellig. Bei der Erstvorstellung in der Klinik wurde eine klinisch-psychologische Diagnostik durchgeführt und eine Psychotherapie empfohlen. Die kinder- und jugendpsychiatrische Betreuung sowie die psychotherapeutische Begleitung fanden kontinuierlich statt, wobei während des Behandlungsprozesses einmalig der Therapeut gewechselt wurde. Zudem fanden regelmäßige Fallbesprechungen im Behandlungsteam statt, um die Betreuung optimal zu koordinieren und auf aktuelle Entwicklungen einzugehen.
Beim klinisch-psychologischen Erstgespräch bezüglich der Geschlechtsdysphorie gab Sam, der bei der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugewiesen wurde, an, dass er Sam genannt und mit männlichen Pronomen angesprochen werden möchte. Er kam mit seiner Mutter zur Klinik und äußerte den Wunsch nach einer diagnostischen Abklärung mit dem Ziel, eine Mastektomie durchführen zu lassen. In der Anamnese berichtete Sams Mutter, dass ihr im Kleinkindalter keine Besonderheiten aufgefallen waren, Sam aber ab dem 9. bis 10. Lebensjahr eine starke Abneigung gegenüber seinem Geschlecht, insbesondere gegenüber seinen Brüsten, entwickelte. Mit dem Beginn der Pubertät zog sich Sam immer mehr zurück und zeigte psychische Probleme. Mit 13 bis 14 Jahren wurde Sams Ablehnung gegenüber seinem Zuweisungsgeschlecht immer deutlicher. Er entschied sich damals für einen Kurzhaarschnitt und kaufte sich einen Binder. In dieser Zeit outete sich Sam auch als pansexuell. Mit 14 Jahren teilte Sam seiner Mutter mit, dass er glaube, dass er „trans“ sei. Auf die Frage der Mutter, ob er ein Mann sein wolle, antwortete er: „Nein, aber keine Frau.“
Sam berichtete, dass er seinen Körper seit der Pubertät hasse. Er habe im Internet recherchiert und herausgefunden, dass er pansexuell und wahrscheinlich trans sei. Er hat lange überlegt, ob er ein Transjunge oder „nichts von beiden“, also keinem der Geschlechter zugehörig sei, und identifiziere sich nun als nichtbinär und transmaskulin. Sam berichtete, dass es ihn belaste, wenn er weiblich wahrgenommen werde, insbesondere aufgrund der körperlichen Unstimmigkeit, vor allem beim Schwimmen. Sam wünschte sich eine Mastektomie und später eine Hysterektomie und Ovarektomie, war jedoch bezüglich einer geschlechtsangleichenden Hormontherapie noch unsicher. Die spezifische Testdiagnostik ergab, dass Sam die Diagnosekriterien einer Geschlechtsdysphorie nach DSM‑5 sowie einer Geschlechtsinkongruenz (ICD-11: HA60 Geschlechtsinkongruenz im Jugendalter) erfüllte. Als begleitende psychische Störungen wurden eine mittelgradige depressive Episode (F32.1) und eine soziale Phobie (F40.1) diagnostiziert. Es wurde vorgeschlagen, die kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung sowie die begleitende Psychotherapie fortzusetzen.
Bei dem klinisch-psychologischen Kontrolltermin während eines tagesklinischen Aufenthalts berichtete Sam mit 16 Jahren, dass er mittlerweile maskuliner als bei der Erstuntersuchung sein möchte. Er wünschte sich eine geschlechtsangleichende Hormontherapie, die er jedoch nur ein bis zwei Jahre lang durchführen lassen wollte. Eine Mastektomie sowie eine Hysterektomie und Ovarektomie waren weiterhin geplant. Im Rahmen eines endokrinologischen Beratungsgesprächs wurden die Wirkungen und Nebenwirkungen der Testosterontherapie ausführlich besprochen sowie außerdem, dass es zu therapeutischem Vorgehen/Hormontherapie bei transmaskulinem/nonbinärem Empfinden bisher keine Erfahrungen bzw. Empfehlungen aus dem Bereich der Jugendmedizin gibt. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich der gewünschte Geschlechtsausdruck im Verlauf noch ändern könnte, Testosteron jedoch irreversible Veränderungen herbeiführt (z. B. Stimmbruch, Bartwuchs) bzw. potenziell unerwünschte Nebenwirkungen herbeiführen kann (z. B. Alopezie).
Beim nächsten Kontrolltermin mit 17 Jahren äußerte Sam den Wunsch, noch stärker in die „männliche“ Richtung zu gehen und auch männlich wahrgenommen zu werden. Er wollte eine geschlechtsangleichende Hormontherapie beginnen und sah dies als unumstritten an, nur die Frage, ob er diese später absetzen möchte, blieb offen. Es gab jedoch keine hormontherapiebedingten körperlichen Veränderungen, die er ablehnen würde. Eine Mastektomie sowie eine Hysterektomie und Ovarektomie waren weiterhin gewünscht. Es wurde empfohlen, die psychiatrische Behandlung und die begleitende Psychotherapie fortzusetzen und ein Erstgespräch bezüglich der Mastektomie zu führen. Im Rahmen des Vorgesprächs wurde empfohlen, dass mit einer Hormontherapie, falls diese gewünscht ist, vor der Mastektomie begonnen werden sollte. Die Indikationsstellung erfolgte als Konsensentscheidung im Behandlungsteam für eine geschlechtsangleichende Hormontherapie und für eine Mastektomie, welche nach gelungener Transition im Erwachsenenbereich stattgefunden hat.
Fazit für die Praxis
Zusammenfassend ist die Akzeptanz und unterstützende Begleitung der individuellen Geschlechtsidentität bei Kindern und Jugendlichen essenziell, um ihre somatische und psychische Gesundheit zu fördern und ihnen ein solides Fundament für ihre Entwicklung zu bieten. Die kontinuierliche Weiterentwicklung von Behandlungsempfehlungen und die Implementierung eines multidisziplinären Ansatzes in Österreich tragen dazu bei, dass Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz/Geschlechtsdysphorie die notwendige Unterstützung und Begleitung erhalten.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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