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Ärzte Woche

14.03.2023 | Abstammung

Die große Europa-Wanderung der Eiszeit

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Die bisher größte Genomanalyse unserer eiszeitlichen Vorfahren zeigt Wanderbewegungen der Jäger und Sammler über einen Zeitraum von 30.000 Jahren. Westeuropa diente während der kältesten Phase als Refugium.

Uni Tübingen. Vor etwa 45.000 Jahren begann der moderne Mensch sich in Eurasien auszubreiten. Jedoch sind die ersten modernen Menschen Europas nicht die genetischen Vorfahren späterer Populationen, wie in einer Arbeit gezeigt werden konnte. Mit dem größten erstellten Genomdatensatz europäischer Jäger und Sammler hat ein internationales Forschungsteam die genetische Abstammungsgeschichte unserer Vorfahren neu geschrieben (Posth, C. et al. Nature, https://go.nature.com/ 3INP7g2). In ihrer Studie konzentrierten sie sich auf Menschen, die zumindest in Teilen als Vorfahren der heutigen Menschen Westeurasiens gelten: Sie lebten in dem Zeitraum zwischen 35.000 und 5.000 Jahren vor heute, u. a. auch in der kältesten Phase der letzten Eiszeit vor circa 25.000 Jahren, genannt das „letzte glaziale Maximum (LGM)“.

Das Forschungsteam stellte dabei fest, dass die Menschen der Gravettien-Kultur, die vor 32.000 bis 24.000 Jahren auf dem europäischen Kontinent verbreitet war, nicht näher miteinander verwandt waren. Zwar verband sie eine gemeinsame archäologische Kultur: Sie verwendeten ähnliche Waffen und produzierten ähnliche, mit Tiergesichtern verzierte Schnitzereien. Genetisch unterschieden sich die Populationen im Westen und Südwesten (heutiges Frankreich und Iberien) von den zeitgleich lebenden Populationen in Zentral- und Südeuropa (heutiges Tschechien und Italien). So findet sich der Genpool der Jäger und Sammler dieser Zeit aus dem Westen kontinuierlich über mindestens 20.000 Jahre: Ihre Nachkommen, die der Solutrean- und Magdalenien-Kultur zugeordnet werden, hielten sich während des Kältemaximums in Südwesteuropa auf und breiteten sich später Richtung Norden und Osten aus.

Als weiterer Rückzugsort für die Menschen während des LGM galt bisher die italienische Halbinsel. Für diese These fand das Forschungsteam allerdings keine Belege, im Gegenteil: Die in Zentral- und Südeuropa lebenden Jäger und Sammler der Gravettien-Kultur sind dort nach dem Kältemaximum genetisch nicht mehr nachweisbar und gelten damit als ausgestorben. Stattdessen ließen sich dort Menschen mit einem neuen Genpool nieder. „Die dort lebenden Individuen, die mit einer späteren Kultur – das Epigravettien – in Verbindung gebracht werden, unterscheiden sich genetisch stark von den vorherigen Bewohnern der italienischen Halbinsel“, sagt Mitautorin He Yu, Universität Peking.

Großer genetischer Austausch

Zudem lässt sich nachvollziehen, dass sich die Nachfahren dieser frühen Einwohner der italienischen Halbinsel dann vor etwa 14.000 Jahren über ganz Europa verbreiteten und dabei die Gruppen verdrängten, die mit der Magdalenien-Kultur assoziiert waren. Die Forschenden sprechen von einem großen genetischen Austausch. Grund waren möglicherweise ebenfalls klimatische Veränderungen, auf die Menschen durch Wanderung reagierten: „Damals erwärmte sich das Klima in kurzer Zeit deutlich und Wälder breiteten sich in ganz Europa aus. Möglicherweise war dies für die Menschen aus dem Süden Anlass, ihren Lebensraum auszuweiten. Die früheren Bewohner hingegen könnten mit dem Schwund ihres Lebensraumes, der Mammutsteppe, verdrängt worden sein“, sagt Johannes Krause, Seniorautor der Studie, Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, Leipzig.

Weiter zeigen die Befunde, dass es für mehr als 6.000 Jahre keinen genetischen Austausch zwischen den Jägern und Sammlern Westeuropas und ihren Zeitgenossen in Osteuropa gab. Begegnungen zwischen Menschen des zentraleuropäischen und des osteuropäischen Raums (heutiges Baltikum und entlang der Wolga) lassen sich erst wieder für die Zeit nach 8.000 Jahren vor heute nachweisen. In dieser Zeit breiteten sich auch der Ackerbau und eine sesshafte Lebensweise von Anatolien nach Europa aus. „Möglicherweise löste die Einwanderung der frühen Bauern einen endgültigen Rückzug der Jäger und Sammler an den nördlichen Rand Europas aus – und gleichzeitig begann eine genetische Vermischung zwischen beiden Gruppen, die fast 3.000 Jahre andauerte“, sagt Krause.

Weitere Informationen:

https://www.nature.com/articles/s41586-023-05726-0

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Metadaten
Titel
Die große Europa-Wanderung der Eiszeit
Schlagwörter
Abstammung
Humangenetik
Publikationsdatum
14.03.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 11/2023

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