„Es gibt kein Adhärenzproblem mit Antikoagulantien, wenn Patientinnen und Patienten die Risiken des Vorhofflimmerns verstehen“, sagt Prof. PD Dr. Jolanta Siller-Matula. Sie weist jedoch darauf hin, dass häufig eine Dosisreduktion vorgenommen wird, ohne die jeweiligen Dosisreduktionsbegründungen zu erfüllen – ein ernsthaftes Problem, da die Betroffenen so nicht ausreichend vor einem Schlaganfall geschützt sind.
Ärzte Woche: Vorhofflimmern (VHF) ist die häufigste anhaltende Herzrhythmusstörung1. Können Sie uns erklären, warum diese Herzerkrankung so schwer zu erkennen ist und welche ersten Anzeichen darauf hindeuten könnten, dass jemand betroffen ist?
Jolanta Siller-Matula: Aus ärztlicher Sicht ist die Diagnose dieser Erkrankung nicht schwierig, aber für Patientinnen und Patienten kann es manchmal nicht eindeutig sein. Normofrequentes VHF ist für die Betroffenen oft kaum zu bemerken, dennoch sind die meisten dieser Patientinnen und Patienten herzkrank. Entweder liegt eine Herzschwäche oder Bluthochdruck vor oder sie haben bereits einen Herzinfarkt gehabt. Wenn dann im Rahmen einer internistischen Kontrolle ein EKG geschrieben wird, ist die Diagnose zumeist einfach zu stellen. Tachykardes VHF ist vom Patienten fast immer zu bemerken. Das EKG soll man laut Guidelines2 auf das VHF beim Vorliegen von folgenden Kriterien screenen: ab einem Alter von 75 Jahren oder ab einem Alter von 65 Jahren bei bekannten Risikofaktoren für einen Schlaganfall (laut CHA₂DS₂-VAScore): Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Herzschwäche, eine Vorgeschichte von koronarer Stent-Implantation, periphere Verschlusskrankheit, Herzinfarkt oder ein stattgehabter Schlaganfall. Da bei diesen Patientinnen und Patienten Handlungsbedarf und eine Indikation zur Antikoagulation besteht, soll man unbedingt auch öfter ein Screening durchführen, mittels 24-Stunden- EKG oder auch sogenannten Wearables.2
Ärzte Woche: Wie schätzen Sie die Rolle von Wearables, wie beispielsweise Smartwatches, in der Früherkennung und Überwachung von VHF ein? Können diese Geräte Ihrer Meinung nach die traditionelle Diagnostik ergänzen oder sogar ersetzen?
Siller-Matula: Viele Studien mit großen Kohorten zeigen, dass sich durch die Verwendung von digitalen Geräten die Rate von diagnostiziertem VHF circa verdoppelt3. Und bei den meisten Patientinnen und Patienten, bei denen VHF diagnostiziert wird, ergibt sich eine Indikation für eine Antikoagulation3. Wearables spielen eine besondere Rolle bei asymptomatischen Patientinnen und Patienten oder bei kurzen bzw. asymptomatischen VHF-Episoden. Die meisten Wearables haben auch Limitationen. Eine Limitation für Wearables sind Extrasystolen oder das normofrequente Vorhofflattern. Wearables sind also eine gute Ergänzung zur Diagnostik, die aber in einem 12-Kanal-EKG bestätigt werden muss.
Ärzte Woche: Schätzungen zufolge wird sich die Zahl der Erwachsenen ab 55 Jahren mit VHF in der Europäischen Union zwischen 2010 und 2060 mehr als verdoppeln4. In diesem Zusammenhang bereitet Frailty („Gebrechlichkeit“) Klinikern immer wieder Sorgen im Alltag. Wie gehen Sie bei der Einschätzung der Gebrechlichkeit in der täglichen Praxis bei VHF-Patientinnen und -Patienten vor?
Siller-Matula: Alter ist der größte Prädiktor für VHF. Weil wir als Gesellschaft meist ungesund altern und die Risikofaktoren oft nicht in den Griff bekommen, wird die Anzahl an VHF-Patientinnen und -Patienten steigen. Frailty spielt insbesondere ab einem Alter von 80 Jahren eine wesentliche Rolle. Frailty ist ein wichtiger Risikofaktor für die Sterblichkeit5. Aber es hat sich auch gezeigt, dass der Netto-Benefit einer Antikoagulation insbesondere bei alten und gebrechlichen Patientinnen und Patienten mit VHF besonders ausgeprägt ist6,7.
Ärzte Woche: Diabetes mellitus ist nicht nur ein unabhängiger Risikofaktor für das Auftreten von Vorhofflimmern, sondern auch für LDL-C bedingte Atherosklerose2. Wie sehen Sie die Einnahme-Kombination von Diabetes-Medikamenten mit DOAKs und lipidsenkenden Therapien? Wie wichtig sind diese Therapiekombinationen hinsichtlich des Risikos von thromboembolischen Events?
Siller-Matula: Viele Diabetes- Patientinnen und -Patienten entwickeln Vorhofflimmern und das Vorhandensein von Diabetes stellt eine Indikation für eine Antikoagulation dar (1 Punkt im CHA₂DS₂-VA-Score). Unabhängig davon haben Personen mit Diabetes auch ein hohes Risiko für eine atherosklerotische Erkrankung. Eine Kombination aus hohem LDLCholesterin und hohem HbA1c beschleunigt die Entstehung von Atherosklerose8. Bei den meisten Patientinnen und Patienten mit Diabetes und VHF besteht deshalb auch eine Indikation für eine LDL-C-senkende Therapie.
Ärzte Woche: Anlässlich des European Society of Cardiology Congress (ESC) 2024 in London wurden die neuen Vorhofflimmer- Guidelines vorgestellt. Was ist Ihr persönliches Highlight?
Siller-Matula: Mein absolutes Highlight bei den neuen Guidelines ist, dass das weibliche Geschlecht aus dem CHA₂DS₂-VASc-Score herausgenommen wurde (Anm: Sc steht für „sexual category“). Es heißt jetzt CHA₂DS₂-VA-Score. Das ist eine große Veränderung und große Erleichterung. Die neuen Studien zeigen, dass das Schlaganfallrisiko zwischen Männern und Frauen ausgeglichen ist und das weibliche Geschlecht als Risikofaktor bei Personen > 65 Jahren keine größere Rolle spielt2. Weiters finde ich es sehr schön, dass es bei einem CHA₂DS₂-VA-Score von 1 eine IIa-Empfehlung gibt, die Möglichkeit einer Antikoagulation mit der Patientin bzw. dem Patienten zu besprechen. Es gibt hier einen gewissen Handlungsspielraum, in dem es vor allem darauf ankommt, um welchen Risikofaktor es sich handelt. Wenn der eine Punkt vom Alter > 65 Jahren stammt, aber kein einziger anderer Risikofaktor vorliegt, wiegt der Punkt für mich persönlich weniger schwer, als wenn eine Patientin oder ein Patient unter 65 Jahren einen schlecht kontrollierten Bluthochdruck hat. Diese Personalisierung halte ich für sehr wichtig.
Ärzte Woche: Adhärenz spielt eine entscheidende Rolle bei der Behandlung von VHF mit Antikoagulantien. Welche Strategien setzen Sie ein, um sicherzustellen, dass Ihre Patientinnen und Patienten ihre Medikation regelmäßig einnehmen?
Siller-Matula: Für mich spiegelt sich die Adhärenz der Patientin bzw. des Patienten in der Qualität des Arzt-Patienten-Gesprächs. Nichts kann dieses Gespräch ersetzen. Es geht darum, sich als Ärztin Zeit zu nehmen, die Risiken des Vorhofflimmerns zu erklären. Wenn Patientinnen und Patienten die Risiken verstehen, gibt es kein Adhärenzproblem. Die wenigsten meiner Patientinnen und Patienten würden eine Antikoagulation verweigern, denn sie haben große Angst vor einem Schlaganfall. Ein größeres Problem sehe ich darin, dass Patientinnen und Patienten oft nicht mit der empfohlenen Dosis behandelt werden, weil man zu leicht zu einer niedrigeren Dosis greift. Diese Betroffenen sind dann nicht ideal vor einem Schlaganfall geschützt. Je einfacher, klarer und verständlicher die Dosisreduktionskriterien für ein bestimmtes DOAK, desto seltener sieht man dieses Problem. Und wenn eine Patientin oder ein Patient nicht adhärent ist, weil er ein bestimmtes DOAK nicht toleriert, hat man immer noch die Möglichkeit, auf ein anderes Medikament umzustellen. Aber die meisten DOAKs sind sehr gut verträglich.
Ärzte Woche: Welche möglichen Vorteile sehen Sie in einer Einmalgabe von Edoxaban hinsichtlich der Wirksamkeit und Sicherheit, insbesondere bei älteren Patientinnen und Patienten mit Vorhofflimmern?
Siller-Matula: Insbesondere bei Patientinnen und Patienten, die sich mit der Medikamenteneinnahme schwertun, ist eine Einmalgabe ein großer Vorteil. Denn die Halbwertszeit ist deutlich länger.9
Ärzte Woche: Häufig haben Ärztinnen und Ärzte bei sehr alten VHF-Patientinnen und -Patienten aus Sorge vor Stürzen und damit verbundenen hämorrhagischen Ereignissen Bedenken, Antikoagulantien zu verwenden. Welchen Rat möchten Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen im niedergelassenen Bereich sowie in der Klinik diesbezüglich mitgeben?
Siller-Matula: Man sollte keine Angst haben. Alle Patientinnen und Patienten mit einer bestehenden Indikation profitieren von einer Antikoagulation. Es geht um eine Abwägung, wir sprechen von Wahrscheinlichkeiten. Die meisten Patientinnen und Patienten mit Sturzgefahr sind ältere Personen, die gleichzeitig ein hohes thromboembolisches Risiko haben.10 Dieses Risiko vergleichen wir mit der Wahrscheinlichkeit zu stürzen und dabei lebensbedrohlich zu bluten. Es zeigt sich ein Netto- Benefit für eine Antikoagulation. Und bei lebensgefährlichen Blutungen haben wir Antidote gegen die DOAK-Wirkung. Und dann besteht immer noch die Möglichkeit, ein DOAK zu wählen, das in niedriger Dosis immer noch die Zulassungskriterien erfüllt. Bei einer älteren Dame mit einem Körpergewicht von 58 Kilogramm und noch ausreichend guter Nierenfunktion wären beispielsweise für Edoxaban die Kriterien gegeben.
Referenzen:
1. Hart RG, Pearce LA, Aguilar MI. Ann Intern Med. 2007;146(12):857-67
2. Van Gelder IC et al. ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation developed in collaboration with the European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS). Eur Heart J. 2024; 00:1-101; https://doi.org/10.1093/ eurheartj/ehae176
3. Schreinlechner M et al. Clin Transl Med. 2023 Jan;13(1):e1151
4. Krijthe BP, Kunst A, Benjamin EJ, Lip GY, Franco OH, Hofman A, et al. Eur Heart J. 2013;34(35):2746-51
5. Li X et al. 2024 May 16:rs.3.rs-4368526
6. Patti G et al. Am J Med. 2019 Jun; 132(6):749-757.e5
7. Pilotto A et al. Age and Ageing 2023; 52(11). DOI: 10.1093/ageing/afad216
8. Konnyu KJ et al. Cochrane Database Syst Rev. 2023 May 31;5(5):CD014513
9. Fachinformation Lixiana® Stand November 2023
10. Steffel J et al. J Am Coll Cardiol. 2016; 68(11):1169-1178