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15.02.2024 | Sexualmedizin

„Ich wünsche mir in der Medizin mehr Sex Positivity“

verfasst von: Mit Kathrin Kirchheiner hat Sonja Streit gesprochen.

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Das Thema Sexspielzeug ist schmuddelig und hat in der modernen Forschung nichts zu suchen? Weit gefehlt. Die Ärzte Woche sprach mit der Expertin Kathrin Kirchheiner darüber, inwieweit man auch medizinisch von Sexual Devices profitieren kann.

Ärzte Woche: Der Markt für Sexual Devices boomt und spricht mittlerweile alle Geschlechter an. Wie empfehlenswert oder wichtig ist eine Nutzung derselben für die sexuelle Gesundheit?

Kathrin Kirchheiner: Zuerst mal, danke dass Sie den schönen Ausdruck „Sexual Devices“ aus dem angloamerikanischen Raum aufgreifen, das hilft schon mal, dieses Thema aus dem Schmuddeleck Sexspielzeug zu holen. Leider gibt es in der deutschen Sprache keinen ähnlich neutralen Begriff, „sexualmedizinisches Gerät“ klingt so sperrig.

Aber zu Ihrer Frage, wie empfehlenswert sind solche Tools oder welchen Stellenwert haben sie in der gesunden Sexualität? Wenn man ehrlich ist, Sexual Devices sind für eine erfüllte, kreative, abenteuerliche, interessante Sexualität natürlich nicht unbedingt erforderlich. Aber ich finde es großartig, dass schön langsam das Tabu zum Thema abgebaut wird und Menschen dadurch zumindest die Möglichkeit haben, sich auszuprobieren, wenn sie darauf Lust haben.

Sexual Devices bieten einfach eine Vielzahl von zusätzlichen Möglichkeiten und Variationen. Gerade Frauen können zum Beispiel damit komplett neue Arten der Stimulation ausprobieren – zum Beispiel hinsichtlich der Vibrationsfrequenz, schnell pulsierender Unterdruck – und auch ganz gezielt spezifische Lustareale mit einbeziehen und miteinander kombinieren.

Ganz generell können sie helfen, die Erregung zu steigern, die Wahrscheinlichkeit auf einen Orgasmus erhöhen, die Refraktärphase verkürzen und/oder die Erlebnisqualität und -intensität zu steigern. Das kann bei Frauen mit einer flacheren Erregungskurve oder einem verzögerten Orgasmus sehr hilfreich sein. Das Miteinbeziehen von Sexual Devices in die gemeinsam gelebte Sexualität steht dabei für Experimentierfreude, Offenheit und den Mut, altbekannte Bahnen zu verlassen und sich miteinander auf etwas Neues, Aufregendes einzulassen.

Ärzte Woche: Viele Frauen sind nicht in der Lage, durch reine vaginale Penetration zum Orgasmus zu kommen. Ist es rein medizinisch erlernbar, auch vaginal zum Höhepunkt kommen zu können oder geht es nur über klitorale Stimulation?

Kirchheiner: In der Sexualwissenschaft bildet sich langsam ein Verständnis für das Zusammenspiel aller Areale, die den weiblichen Orgasmus auslösen oder begünstigen können und das geht weit darüber hinaus, ob es klitorale oder vaginale Orgasmen gibt.

James Pfaus et al.1 hat da zum Beispiel in einem schönen Überblicksartikel versucht, die vielen sexualmedizinischen Forschungsansätze wie Puzzleteilchen zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen. Seiner Synthese nach gibt es kein entweder/oder – also klitoral/vaginal – sondern ein Zusammenspiel aus sensorischem Input und Lernerfahrungen. Und dieser sensorische Input kann sehr variabel sein: natürlich die externe Glans Clitoris, welche sehr sensibel innerviert ist, aber auch jene vaginalen Areale, welche mit den internalen klitoralen Schwellkörpern korrespondieren – Stichwort der 80er-Jahre „G-Spot“ –, die Zervix – die unabhängig durch den Nervus vagus innerviert ist–, die Analregion und auch nicht-genitale Areale. Der sensorische Input wird nach Pfaus et al. im Zusammenspiel wahrgenommen und kombiniert mit Bewegungsmustern, Positionen, autonomer Erregung, Partner/Kontext Reizen, Gerüchen etc. Und diese Integration kann sich im Laufe des Lebens durch Lernerfahrungen ändern.

Es gibt Hinweise in der Forschung, dass die Möglichkeit, einen Orgasmus durch intravaginale Stimulation – wie Geschlechtsverkehr – zu erreichen, auch anatomisch mitbedingt sein könnte. Bei manchen Frauen scheinen anatomisch gesehen die Klitorisschwellkörper und auch die Nervenweiterleitung relativ weit von den Vaginalwänden entfernt. Da könnte die vaginale Stimulation dann natürlich schwieriger sein als bei Frauen, wo alles näher zusammen liegt. Aber ob da die Zusammenhänge so eindeutig sind, ist nicht abschließend geklärt.

Andere Sexualtherapeutinnen und Wissenschaftlerinnen betonen wiederum die Aspekte der Lernerfahrung und Konditionierung. Dania Schift an hat ein spannendes Buch2 darüber geschrieben. Sie vertritt die These, man könne die Vagina durch Übungen zum Auffinden von intravaginalen Lustpunkten neu sensibilisieren und dadurch auch die Nervenweiterleitung neu etablieren. Unter anderem auch den vorher angesprochenen G-Punkt an der vorderen Vaginalwand. Dazu haben einige wissenschaftliche Arbeiten beschrieben, dass es sich dabei weniger um einen Punkt in der Vagina handelt, sondern um ein ganzes Areal, eine Zone zwischen Urethra, vorderer Vaginalwand und Klitorisschwellkörper, das Clito-urethrovaginale Areal (CUV). Aber auch der Scheideneingang, die Vaginalwände bis hin zum Gebärmutterhals können in diesem Ansatz sensibilisiert werden, sodass der Orgasmus schlussendlich von einem variablen Erregungsmix ausgelöst werden kann.

Ärzte Woche: Wann bzw. in welchem Zusammenhang ist die medizinische Empfehlung, solche Devices zu verwenden, sinnvoll?

Kirchheiner: Im medizinischen Bereich ist der Einsatz von Sexual Devices zu therapeutischen Zwecken bereits zunehmend im Fokus der Forschung und in sexualmedizinischen Therapieempfehlungen und Guidelines verankert. Die klinischen Anwendungsgebiete sind dabei breit gefächert, zum Beispiel bei reduzierter Libido, Orgasmusstörungen, aber auch krankheitsbedingten Umständen, welche eine vaginale Penetration erschweren oder verhindern, zudem bei erektiler Dysfunktion des Partners sowie diversen motorischen bzw. sensorischen Beeinträchtigungen.3

Aber um einige konkrete Beispiele aus meinem Arbeitsfeld der Radioonkologie bei gynäkologischen Tumoren zu nennen: Eine wichtige Präventionsmaßnahme für meine Patientinnen ist das regelmäßige Dehnen der Scheide, um eventuellen Verklebungen und Verkürzungen als Therapienebenwirkung entgegenzuwirken. Dafür gibt es natürlich Medizinprodukte, sogenannte Dilatatoren, das sind Zylinder aus Hartplastik in unterschiedlichen Längen und Durchmessern. Das Dehnen selber soll natürlich nicht wehtun, die meisten Frauen finden es aber ziemlich unangenehm und lästig. Deutlich anwenderinnenfreundlich sind da beispielsweise Vibratoren. Ich empfehle gern Produkte aus medizinischem Silikon, die sind weicher und angenehmer, und genauso in allen Größen erhältlich. Wahrscheinlich hat die Vibration auch noch zusätzlich positive Auswirkungen auf die pelvine Durchblutung. Modelle, die ich regelmäßig empfehle, haben jedenfalls neben dem vaginalen Teil auch noch einen zusätzlichen Arm zur Stimulation der externen Klitoris, das kann noch eine etwas lustvollere Komponente hineinbringen.

Wenn Patientinnen bereits eine Vaginalstenose mit deutlicher Verkürzung nach Strahlentherapie entwickelt haben und das tiefe Eindringen des Penis Schmerzen verursacht, dann hat sich der Einsatz von Penisringen aus Silikon als „Schmerzpuffer“ sehr bewährt ( https://ohnut.com/). Damit kann quasi der Penis um einige Zentimeter „verkürzt“ werden, wodurch zuverlässig die Schmerzen verhindert werden, wenn der Penis hinten anstößt. Das hilft den Frauen auch dabei, sich mental zu entspannen, weil sie ihre Erwartungsangst vor den Schmerzen abbauen können.

Und wenn wir schon bei Schmerzen sind: Es ist ein typischer Teufelskreis bei Unwohlsein oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, dass unwillkürlich die Beckenbodenmuskeln angespannt werden. Über die Zeit kann sich das bis zu einem hyperaktiven Beckenboden steigern, der gar nicht mehr bewusst entspannt werden kann. Das verhindert eine gute Durchblutung und macht natürlich den Vaginalkanal enger, und das wiederum das Eindringen des Penis noch schmerzhafter. Aus diesem Teufelskreis alleine wieder rauszukommen, kann schwierig sein. Gute Beckenboden-Trainingsgeräte können da eine große Hilfe sein, um die Muskulatur wieder bewusst wahrzunehmen, den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung gezielt zu spüren und vor allem auch wieder loslassen zu können. Klinisch kombiniere ich da einige Methoden, auch mit Biofeedback, Atemübungen und perinealer Massage.

Aber es gibt auch Patientinnen, bei denen das Problem in die andere Richtung geht, mit einer Beckenbodenschwäche (hypoaktiv), zum Beispiel wenn sie unter Harninkontinenz leiden. Auch da helfen die Beckenboden-Trainingsgeräte, aber auch diverse Liebeskugeln mit und ohne Vibration aus dem Bereich der Erotikindustrie.

Und wenn es ganz generell bei Patientinnen um „Anlaufschwierigkeiten“ in der sexuellen Lust geht, Probleme mit der sexuellen Erregbarkeit, Verminderung der Sensibilität, Orgasmusprobleme oder -verzögerung – besonders gut angenommen werden da die klitoralen Aufsatzvibratoren mit pulsierendem Unterdruck.

Ärzte Woche: Besteht aus medizinischer Hinsicht die Gefahr, durch entsprechende Erotikprodukte abzustumpfen bzw. Nervenfasern (Stichwort: Klitoris) zu überreizen, wenn diese zu häufig zum Einsatz kommen?

Kirchheiner: Vor ein paar Jahren kursierte im Netz der Mythos des „Dead Vagina Syndrome“, das viral ging. Frauen behaupteten, dass die Klitoris und Vagina durch Masturbation mit Sex Toys dauerhaft taub wurden und man propagierte eine permanente Nervenschädigung. Das ist Unsinn und es wurde aus medizinischer Perspektive mittlerweile mehrfach widersprochen. Eine zeitweise Taubheit kann schon mal temporär auftreten, wenn die Stimulation zu intensiv und vielleicht zu lange angedauert hat, wenn also eine Überreizung stattfand. Aber das ist keine langfristige Schädigung, so wie es im Netz propagiert wurde.

Aber eines muss man da klar differenzieren: Es gibt durchaus Gewöhnungseffekte an Reize, die eine Frau schnell und zuverlässig zum Orgasmus bringen. Wenn zum Beispiel in der Selbstbefriedigung immer nur ein bestimmter spezifischer Reiz verwendet wird, ein Lieblingsgerät, dann wird das Gehirn auf genau diesen einen Reiz konditioniert. Nach dem Motto „what fires together, wires together“, können sich dann neuronale Pfade zum Gehirn zu einem Superhighway ausbauen. Wenn die Stimulation über längere Zeit hinweg sehr einseitig und „standardisiert“ ist, treten einfach Gewöhnungs- und Lerneffekte auf und sowohl Körper als auch Psyche reagieren dann auf andere Arten der Stimulation nicht mehr sensibel. Das kann sich dann zum Beispiel in einer Diskrepanz zwischen Selbststimulation mit eben diesem Lieblingstoy und partnerschaftlicher Stimulation zeigen.

Ärzte Woche: Kann man dem irgendwie entgegenwirken?

Kirchheiner: Durchaus. Weder ein Penis noch die Finger oder die Zunge kann in der Intensität und Frequenz mit einem Vibrator oder Klitorisstimulator mithalten. Daher kann es bei der partnerschaftlichen Stimulation mitunter auch länger dauern und schwieriger sein, bis die Erregungskurve steigt oder ein Orgasmus ausgelöst wird. Wenn dann vielleicht auch noch ein gewisser Zeitdruck oder Erwartungsdruck aufkommt, weil man dem Partner oder der Partnerin ein „Erfolgserlebnis“ schenken möchte, blockiert das noch zusätzlich. In diesem Fall empfiehlt die Sexualtherapie, den Druck mal komplett herauszunehmen und einen Orgasmus einfach einmal explizit aus dem gemeinsamen Programm zu nehmen. Dann kann das Paar gemeinsam neue Pfade und unterschiedliche Empfindungen erforschen, und das Ganze mit einem spielerischen, experimentierfreudigen Zugang und viel, viel Zeit. Wichtig ist dabei, gemeinsam diesen Genuss zu erforschen und zu zelebrieren, ohne auf einen Höhepunkt abzuzielen. Den Orgasmus immer in den Mittelpunkt zu stellen, ist zwar gut gemeint – vor allem bei Frauen, da wir ja schon sehr lange von dem Orgasm Gap bei heterosexueller Sexualität sprechen – kann aber auch wirklich Druck machen. Manchmal hilft es auch, das Tool, auf das man konditioniert ist, gar nicht mehr zu nutzen, bis der Erregungsdruck so hoch ist, dass man auch durch andere Stimulation kommt. Konditionierungen lassen sich durchaus rückgängig machen. Ein gesunder Mittelweg mit Karenz vom Lieblingsgerät, Abwechslung in der Masturbation und Entspannung kann enorm helfen.

Teil 2 des Interviews mit Prof. Dr. Kathrin Kirchheiner: Warum es sinnvoll sein könnte, Medizinerinnern und Mediziner in die Entwicklung von  Sexual Devices einzubeziehen, lesen Sie im zweiten Teil in der nächsten Ausgabe 9/2024.

Referenzen:
1. Pfaus JG, Quintana GR, Mac Cionnaith C, Parada M. The whole versus the sum of some of the parts: toward resolving the apparent controversy of clitoral versus vaginal orgasms. Socioaffect Neurosci Psychol. 2016 Oct 25; 6:32578. doi: 10.3402/snp.v6.32578.
2. Dania Schiftan. (2018) Coming soon. Orgasmus ist Übungssache. 9. Auflage. Piper Paperback.
3. Kingsberg SA, Althof S, Simon JA, Bradford A, Bitzer J, Carvalho J, Flynn KE, Nappi RE, Reese JB, Rezaee RL, Schover L, Shifrin JL. Female Sexual Dysfunction – Medical and Psychological Treatments, Committee 14. J Sex Med. 2017 Dec; 14(12):1463-1491. Rubin ES, Deshpande NA, Vasquez PJ, Kellogg Spadt S. A Clinical Reference Guide on Sexual Devices for Obstetrician-Gynecologists. Obstet Gynecol. 2019 Jun;133(6): 1259-1268.

Hier geht es zum ÖÄK-Diplomlehrgang Sexualmedizin.

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Metadaten
Titel
„Ich wünsche mir in der Medizin mehr Sex Positivity“
Schlagwort
Sexualmedizin
Publikationsdatum
15.02.2024

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