Krebsscreening rettet Leben – oder doch nicht?

Allenthalben wird für die Teilnahme am Screening auf diverse Krebserkrankungen geworben, und das beliebteste Argument dafür lautet: Screening rettet Leben. Ob das stimmt, hat ein internationales Forschungsteam analysiert. [M] M. Ernert × Die Arbeitsgruppe um Michael Bretthauer von der Universität Oslo hat sich Daten von randomisierten klinischen Studien mit zehn- bis 15-jähriger Nachbeobachtung zum Krebsscreening versus Non-Screening für sechs verschiedene Screeningtests angesehen.1 Mit Blick auf Darmkrebs waren das: Koloskopie, Sigmoidoskopie und der Test auf okkultes Blut im Stuhl; Brustkrebs: Mammografie; Lungenkrebs: CT-Screening von Rauchern und Exrauchern; Prostatakrebs: PSA-Test. Errechnet wurde die gewonnene Lebenszeit im Vergleich von Gescreenten und nicht Gescreenten. Insgesamt mehr als 2,1 Millionen Personen waren an den metaanalysierten Screeningstudien beteiligt. Nur für einen einzigen Test war ein Gewinn an Lebenszeit durch das Screening feststellbar: für das Sigmoidoskopiescreening auf Darmkrebs. Die Lebensverlängerung betrug 110 Tage, also gut dreieinhalb Monate. Für keine einzige andere Screeningmaßnahme ergaben die Kalkulationen einen statistisch signifikanten Nutzen für die Gesamtlebenszeit. Die Auswertung war gemäß Intention-to-treat erfolgt, was eine Unterschätzung des Screeningpotenzials für die Lebensverlängerung bedingt haben könnte. „Die gegenwärtigen Belege erhärten nicht die Behauptung, wonach die üblichen Krebsscreeningtests Leben retten, indem sie die Lebenszeit verlängern“, folgern Bretthauer et al. Das legten die Befunde der Metaanalyse nahe. Das Darmkrebsscreening mithilfe der Sigmoidoskopie bilde eine mögliche Ausnahme. Suche nach Erklärungen Wie ist es zu erklären, dass sich die Gesamtlebenszeit nicht zu verlängern scheint, wo doch die krebsspezifische Mortalität durch Screeningmaßnahmen durchaus signifikant sinken kann? Darüber haben sich nicht nur Bretthauer und Kollegen, sondern auch Gilbert Welch und Tanujit Dey vom Brigham and Women’s Hospital in Boston Gedanken gemacht – mit ähnlichen Schlüssen. In ihrem die Studie von Bretthauer begleitenden Artikel weisen Welch und Dey auf verschiedene Möglichkeiten hin.2 Zum einen könne die Reduktion der krebsspezifischen Sterblichkeit zu gering sein, um sich auf die Gesamtmortalität auszuwirken. Zum anderen könnten andere Todesursachen zunehmen. Ein Gewinn an Lebenszeit, den manche Screeningteilnehmer unbestreitbar erzielen, würde durch Todesfälle anderer ausgeglichen – etwa im Zuge diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen aufgrund von Screeningbefunden. Solche Todesfälle würden üblicherweise nicht auf das Konto von Krebs gebucht. Im Übrigen sei, wer an Krebs erkranke, nicht selten auch mit Bezug auf andere, etwa kardiovaskuläre, infektiöse und unfallbedingte (z. B. durch Stürze) Komplikationen gefährdet. Diese anderen Risiken würden durch das Krebsscreening aber nicht beeinflusst und könnten ihrerseits zum Tod führen. Die screeningbedingte Reduktion der krebsspezifischen Mortalität für einzelne Tumorentitäten wirkt sich laut Welch und Dey zudem so wenig auf die Gesamtmortalität aus, dass Studien mit Millionen von Teilnehmern und über lange Jahre nötig wären, um einen signifikanten Effekt belegen zu können. Insofern liegt, wenn der Nachweis einer Reduktion der Gesamtmortalität für eine Krebsscreeningmaßnahme nicht gelingt, ein statistischer Fehler 2. Art vor: Die Alternativhypothese (hier die Reduktion der Gesamtmortalität) wird verworfen, obwohl sie zutrifft, und die Nullhypothese (der fehlenden Reduktion) beibehalten – einfach aufgrund zu geringer Teilnehmerzahlen. Ändern könnte sich dies, wenn es möglich wird, auf multiple Krebsarten gleichzeitig zu testen, etwa mithilfe sogenannter Flüssigbiopsien. Die für den Nachweis einer sinkenden Gesamtmortalität benötigte Zahl an Studienteilnehmern würde dann auf unter 100.000 sinken. „Es ist durchaus möglich, dass Bluttests auf multiple Malignome Leben retten und die Kosten sowie die nachteiligen Effekte wert sind“, meinen Welch und Dey. Aber man werde das nie erfahren, wenn man nicht danach frage. Referenz: 1Bretthauer M et al.: Estimated Lifetime Gained With Cancer Screening Tests: A Meta-Analysis of Randomized Clinical Trials. JAMA Intern Med 2023; https://doi.org/10.1001/jamainternmed.2023.3798 2Welch HG, Dey T.: Testing Whether Cancer Screening Saves Lives: Implications for Randomized Clinical Trials of Multicancer Screening. JAMA Intern Med 2023; https://doi.org/10.1001/jamainternmed.2023.3781 Quelle: springermedizin.de

Springer Medizin Österreich

Krebsscreening rettet Leben – oder doch nicht?

Weiterführende Themen

Springer Medizin Österreich

Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu diesem Inhalt zu erhalten

Weiterführende Themen