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Ärzte Woche

18.06.2018 | Neurologie

Die strenge Ordnung der Flaschen und die falsche Hand Gottes

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Historische Wurzeln vieler Rituale und Bräuche sind älter als die Geschichtsschreibung selbst, doch beeinflussen sie auch heute noch die Menschen. Das glauben Sie nicht? Dann verfolgen Sie ein Spiel während der Fußball-WM oder ein Grand-Slam-Finale? Profisportler sind gute Studienobjekte, wenn es um Vorbereitungs- oder Jubelrituale geht.

Es gibt viele Bräuche im Spitzensport, die funktional sind, beispielsweise gutes Training oder hohe mentale Konzentration. Die Wahl eines Rituals zur Vorbereitung auf einen Wettkampf aber von Sportler zu Sportler sehr verschieden. Der spanische Tennis-Spieler Rafael Nadal, erst vor Kurzem Bezwinger von Dominic Thiem im Einzel-Finale von Paris, hat eine Vielzahl von Marotten, die ihm helfen sein hohes Konzentrationslevel zu halten. Der Spanier stellt immer zwei Flaschen zwischen seine Beine mit dem Etikett in die gleiche Richtung ausgerichtet hintereinander auf den Boden. „Es ist mein Weg, um mich in einem Spiel zu positionieren, die Dinge um mich herum so zu ordnen, wie ich meinen Kopf gern sortiert hätte.“

Der deutsche Goalkeeper Oliver Kahn versuchte vor jedem Spiel, sich mit höchster Konzentration vorzubereiten und alles andere im Sinne eines „mentalen Tunnels“ auszublenden. Seine grimmiger Blick und seine resolute, mitunter ins Rabiate umschlagende Körpersprache waren bei den Gegenspielern – und manchen Mitspielern – gefürchtet. Andere Sportler bereiten sich hingegen betont locker vor. Der deutsche Fußballprofi Thomas Müller blödelt gern vor dem Anpfiff. Alle sind mit ihren unterschiedlichen Strategien – und das ist nur eine kleine Auswahl – erfolgreich. Was ist also zu empfehlen?

Soll man die Konzentration steigern oder sich mit Scherzen von der Anspannung ablenken? Das Yerkes-Dodson-Gesetz aus der psychologischen Grundlagenforschung sagt aus, dass die Leistungsfähigkeit maximal ist, wenn das emotionale Erregungsniveau ein mittelhohes Maß hat. Bei einem zu geringen Erregungsniveau wird das Leistungsvermögen durch Unterforderung nicht vollends ausgeschöpft, während bei einem zu hohen Erregungsniveau das maximale Leistungsvermögen durch Gefühle der Angst oder Überforderung gemindert wird. Die mentalen Vorbereitungsstrategien von Kahn und Müller zielen scheinbar darauf ab, das sehr individuell beste Erregungsniveau zu erreichen: Während Kahn sich durch seinen „mentalen Tunnel in einen höheren Erregungszustand brachte, könnte Müller seiniges durch Späße mit Kollegen potenziell mindern und so sein maximales Leistungsniveau erreichen.

Verschiedene Beispiele zeigen die Vielfältigkeit der Rituale und Bräuche im Spitzensport: Tennisprofi Serena Williams wechselt während eines Turniers nie ihre Socken, und der ehemalige Basketballstar Michael Jordan trug während seiner gesamten Karriere dieselben Shorts seines ersten College-Teams unter der eigentlichen Sportshorts. Der frühere Abwehrchef der Équipe Tricolore, Laurent Blanc, küsste während der Europameisterschaft 2000 vor Anpfiff jedes Spiels die Glatze seines Torhüters Fabien Barthez – mit Erfolg: Frankreich wurde Europameister.

Eine Studie unter Profisportlern im Fußball, Hockey und Volleyball ergab, dass insgesamt 80 Prozent aller Sportler regelmäßig abergläubische Handlungen ausführen, wobei durchschnittlich von ca. zwei oder drei abergläubischen Handlungen pro Wettkampf ausgegangen werden kann. Am häufigsten wurden dabei das Essen bestimmter Lebensmittel, spezifische Entspannungsaktivitäten vor dem Wettkampf und das Tragen spezieller Kleidung unter den Trikots genannt. Weitere weitverbreitete abergläubische Gestiken sind beispielsweise das Betreten des Spielfelds in einer festgelegten Reihenfolge, sich vor Spielbeginn zu bekreuzigen oder das Spielfeld zu küssen.

Dass dieses Verhalten nicht nur selbstloser Natur im Sinne der Unterstützung der Mannschaft ist, zeigt sich beim Public Viewing oder vergleichbaren Veranstaltungen, bei denen die Sportler die Fans nicht unmittelbar erleben. Vielmehr ist das Verhalten auch für die Zuschauer angenehm, da laut der Theorie der sozialen Identität Menschen generell Selbstwerterhöhungen aus ihren Gruppenzugehörigkeiten gewinnen können.

Der psychologische Effekt des Basking in Reflected Glory („sich in fremdem Ruhm sonnen“) beschreibt die Strategie, den eigenen Selbstwert zu erhöhen, indem man sich mit den Erfolgen oder positiven Eigenschaften anderer Gruppenmitglieder identifiziert. Er ist somit ein Erklärungsansatz für kollektives Fan-Verhalten: Da sich ein Fan stark mit seiner Mannschaft identifiziert und sich dementsprechend kleidet und verhält, kann ein Erfolg dieser Mannschaft eine Selbstwerterhöhung des Fans bewirken. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass Studierende häufiger das Pronomen „wir“ benutzten, wenn sie über einen Sieg, nicht die Niederlage ihres Teams sprachen. In einer weiteren Studie zeigte sich, dass die Studenten nach einem Sieg „ihres“ Teams häufiger einen Pullover trugen, der beispielsweise das Logo des Teams zeigte. Personen können so ein Gefühl von Stolz entwickeln, wenn die eigene Mannschaft gewinnt, obwohl sie selbst keinen direkten Einfluss auf den Spielausgang hatten. Diese Selbstwerterhöhung ist meist nicht an die Gruppensituationen gebunden, aus der er entstanden ist, sondern ist eher überdauernd und auch auf die private Identität übertragbar.

Religiöse Rituale von Fans

Die Verbindung zwischen Sport und Religion besteht jedoch nicht erst seit diesem Ereignis. Religiöses Vokabular ist in der Berichterstattung zum Fußball tief verwurzelt: Die Fans „pilgern“ in die Stadien, eine Mannschaft betritt den „heiligen Rasen“, ein frühes Tor wird als „Erlösung“ gefeiert, und mit einem wichtigen Tor macht man sich „unsterblich“. Das Wort „Fan“ lässt sich von dem lateinischen Wort „fanaticus“ ableiten, was so viel wie „göttlich begeistert“ bedeutet. Das Hanappi-Stadion nannte man in und um Hütteldorf auch Sankt Hanappi, der Trainer von Sturm Graz, Ivica Osim, sprach gar von einer „Kathedrale des Fußballs“. Angesichts dieser zahlreichen Verbindungen zwischen Sport und Religion stellt sich die Frage, ob und inwiefern Fußball als „Ersatzreligion“ fungiert. Gemeinsamkeiten zwischen Sport und Religion liegen in rituellen Verhaltensweisen und Symbolen sowie der Stiftung von Gemeinschaft, Wertordnung und Lebenssinn. Andere religiöse Aspekte wie ein starker Transzendenzbezug fehlen jedoch eindeutig im Sport.

Angesichts der abnehmenden Bedeutung von Kirche und Religion in westlicher Kultur, die sich in sinkenden Kirchenmitgliedschaften und Gottesdienstbesuchen zeigt, sowie der zunehmenden Beliebtheit von Sportveranstaltungen, ist es aufgrund der funktionalen Ähnlichkeit von Sport und Religion denkbar, dass einige Bedürfnisse, die ehemals von Religion befriedigt wurden, zunehmend von Sport kompensiert werden.

Der Wunsch sich mit anderen Personen verbunden zu fühlen, auch als Zugehörigkeitsbedürfnis („need to belong“) bekannt, stellt ein menschliches Grundbedürfnis dar dem durch Kontakt zu Mitmenschen in religiösen oder sportlichen Gemeinschaften entsprochen wird.

Quelle

Dieter Frey, Psychologie der Rituale und Bräuche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-56219-2_24 , ©Springer Verlag

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Metadaten
Titel
Die strenge Ordnung der Flaschen und die falsche Hand Gottes
Schlagwort
Neurologie
Publikationsdatum
18.06.2018
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 25/2018

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