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Ärzte Woche

Open Access 28.01.2023 | Infektiologie

Long-COVID: Was wir bis jetzt wissen

verfasst von: Thomas Meißner

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Mit der diffusen Diagnose Long-COVID haben viele Post-Corona-Patienten ihre Probleme: Objektive Diagnosemarker gibt es nicht und etablierte Therapien auch nicht. Doch die Forschung ist am Syndrom dran – und es gibt vier Hypothesen zur Entstehung.

Werden wir in zehn Jahren noch über Long-COVID reden? Etwa 200 Symptome werden dem Syndrom zugerechnet. Allein in Deutschland etwa sollen drei Millionen Menschen betroffen sein. Wie aber kann man das überhaupt wissen? Objektive Diagnosemarker existieren bislang nicht! Ärzte zögerten im Allgemeinen, einen Zustand als organische Krankheit zu betrachten, solange kein pathophysiologisches Konzept dazu vorliegt und es nichts zu messen gebe, erinnerte Prof. Uta Merle vom Universitätsklinikum Heidelberg beim erstmalig in Deutschland stattfindenden Long-COVID-Kongress in Jena. Das führe zu Frustration bei Betroffenen, zu ärztlichem Nihilismus sowie dem Gefühl, die Krankheit gebe es gar nicht, so die Gastroenterologin.

Natürlich lässt sich auch eine Depression nicht laborchemisch objektivieren wie auch eine HWSBlockierung „abbilden“. Fakt ist: Es gibt viele, bislang schlecht verstandene Postinfektionssyndrome mit und ohne Eigennamen wie das Post-Ebola-Syndrom, Post-Dengue- Fatigue-Syndrom, Post-Polio-Syndrom. Man kennt das auch von Influenza oder Infektionen mit West-Nil- oder Epstein-Barr-Viren sowie von nicht-viralen Pathogenen wie  Coxiella burnetii (Q-Fieber-Fatigue-Syndrom).

Klinisch-symptomatisch lassen sich große Überlappungen des Long-COVID (LC)-Syndroms mit anderen chronischen Postinfektionssyndromen feststellen. 25 von 29 Symptomen überschneiden sich mit ME/CFS (myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom), einer ebenfalls unzureichend verstandenen neuroimmunologischen Krankheit, erläuterte PD Dr. Christian Puta von der Universität Jena.

Hauptsymptome bei Patienten mit Long-COVID-Syndrom sind die Belastungsintoleranz und Fatigue. Die Erschöpfung reicht bis zur Bettlägerigkeit. Ehemalige Leistungssportler können kaum noch 200 Meter gehen. Der viel beschriebene „Brainfog“ meint Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen.

„Die Liste ist fast endlos“

Hinzu kommen grippeartige Symptome und Schmerzen. „Luftnot, Schlafstörungen, Probleme beim Sprechen, Riechen oder Schmecken, Haarausfall – die Liste ist fast endlos“, erläuterte Dr. Daniel Vilser, leitender Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uni Jena in einem Interview im Vorfeld des Long-COVID-Kongresses. Und Tagungsleiter Professor Martin Walter, Chef der psychiatrischen Uniklinik in Jena, führt weiter aus: „Menschen, die vorher zum Teil sehr leistungsfähig waren, schaffen es auch nach Monaten nicht, Anforderungen im Beruf und im Privatleben zu meistern, die vorher kein Problem waren.“

Das zu sortieren, wird derzeit als wesentliche Aufgabe auf dem Weg hin zu gezielten Therapien angesehen. Schon jetzt sind sich Mitglieder des Ärzte- und Ärztinnenverbandes Long-COVID sowie Wissenschaftler aus anderen Ländern ziemlich sicher, dass es Long-COVID-Subtypen gibt. Ob diese sich beispielsweise laborchemisch objektivieren lassen, treibt Grundlagenwissenschaftler derzeit um.

Problem ist die Überlappung

So bezeichnete Prof. Akiko Iwasaki, Immunologin und Grundlagenforscherin an der Yale University, es als eine „Schlüsselfrage“, warum beispielsweise bei überdurchschnittlich vielen Menschen mit Long-COVID-Syndrom der Spiegel des Stresshormons Kortisol deutlich erniedrigt ist. Es gibt weitere Hinweise darauf, warum funktionelle Kapazitäten eingeschränkt sind: veränderte Zytokin- und Chemokinspiegel, veränderte Lymphozytenprofile, Strukturveränderungen von Erythrozyten, verbunden mit verminderter Sauerstoffbindungskapazität, womöglich mitochondriale Stoffwechselveränderungen. Uta Merle wies beim Kongress auf erhöhte CCL11-Spiegel hin: Bei mit humanen Coronaviren infizierten Mäusen fand sich dieses Chemokin im Liquor, teils aber auch im Blutplasma erhöht, verbunden mit Mikroglia-Aktivierung, Verlust von Oligodendrozyten in der weißen Hirnsubstanz sowie gestörter Neurogenese.

Noch sind das alles Befunde aus Forschungslabors, die keine Relevanz für den klinischen Alltag haben. Das Problem ist die Überlappung solcher Messwerte bei Gesunden und Erkrankten. Statistisch signifikante Unterschiede lassen sich nur zwischen großen Kohorten finden. Im Einzelfall hilft das nicht weiter. Integriere man alle bislang identifizierten Long-COVID-Faktoren, so die Heidelberger Internistin, finde man nur bei knapp 75 Prozent der Patientinnen und Patienten mit neuropsychologischen Problemen nach COVID-Erkrankung Marker, die ein Long-COVID-Syndrom potenziell vorhersagen könnten.

Patienten lassen sich clustern

An der Reha-Klinik Heiligendamm sind nach Angaben der Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergie, Dr. Jördis Frommhold, bislang fast 6.000 Patientinnen und Patienten mit Long-COVID-Syndrom behandelt worden. „Man kriegt relativ schnell mit, dass sich diese Patienten clustern lassen“, erläuterte Frommhold. Bei manchen ist das Kardinalsymptom die Fatigue. Bei anderen sind beispielsweise eher die Störungen der Atemmechanik oder kognitive Beeinträchtigungen führend, manchmal stehen psychosomatische Beschwerden im Vordergrund. Diese Kategorisierung hilft, wenn es darum geht, ein multimodales Behandlungskonzept zusammenzustellen. „Es muss unsere Aufgabe sein, einen roten Faden zu entwickeln“, erläutert Frommhold. Bei Störungen der Atemmechanik stehen Atemgymnastik, Atemmuskeltraining, gegebenenfalls auch eine Inhalationstherapie an erster Stelle.

Bei Fatigue ist die psychologische Unterstützung erforderlich. Dabei geht es auch um den bestmöglichen Umgang mit Beeinträchtigungen und um Krankheitsakzeptanz. Das Führen von Symptomtagebüchern hilft, Belastungsgrenzen im Alltag zu erkennen und später die stufenweise Wiedereingliederung in den Beruf einzuleiten. Wichtig: Ein Mensch mit Fatigue ist nicht in der Lage, in gleicher Weise Ausdauer- und Krafttraining zu absolvieren wie andere. Von großer Bedeutung ist die sozialmedizinische Beratung, gerade von Betroffenen, die noch 20 oder 30 Berufsjahre vor sich haben.

Junge Patienten genauso betroffen

Und was ist eigentlich mit den Kindern und Jugendlichen?, fragte eine hartnäckige Kinderärztin beim Kongress immer wieder. Auch von ihnen haben nach derzeitigen Schätzungen etwa zehn Prozent ein Vierteljahr nach überstandener COVID-Erkrankung beeinträchtigende Symptome. Wiedereingliederungsmaßnahmen wie in der Arbeitswelt existieren nicht. Deshalb brauche es auch im Bildungssektor vergleichbare Strukturen, forderte Frommhold.

Wenn die individuelle Symptomatik des Long-COVID-Syndroms nicht berücksichtigt wird, kann es sein, dass Rehabilitationsversuche scheitern – eine Erfahrung, die derzeit offenbar gar nicht so selten gemacht wird. Es ist wichtig, bereits beim Reha-Antrag die führende Symptomatik und das individuell maßgebliche Problem zu beschreiben. Zudem dürfe man das Zeitintervall, bis die stationäre Reha startet, nicht ungenutzt verstreichen lassen, hieß es beim Kongress.

Institution mit Lotsenfunktion

Berücksichtigt werden muss nach Auffassung der Long COVID-Spezialisten außerdem, dass es mit der stationären Rehabilitation oft noch nicht getan ist. Nach abgeschlossener Rehabilitation müssen die berufliche Wiedereingliederung, die Fortsetzung der Therapien sowie gegebenenfalls die Begutachtung von Rentenansprüchen geregelt werden. Menschen, die weiter an kognitiven Einschränkungen und/oder Fatigue leiden, sind damit überfordert. Es braucht einen Lotsen. Jedoch sind Allgemeinmediziner, nicht zuletzt angesichts der Erkrankungszahlen, damit ebenfalls überfordert.

Metadaten
Titel
Long-COVID: Was wir bis jetzt wissen
Schlagwort
Infektiologie
Publikationsdatum
28.01.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 05/2023

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