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10.01.2023 | Gesundheitspolitik

Die Angst wegtrainieren

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Wer übernimmt die Verantwortung für Menschen mit Krebs, und wer kümmert sich um ihre Wiedereingliederung ins Arbeitsleben? Die onkologische Rehabilitation hilft, die Furcht vor dem Rezidiv zu lindern.

Einen 180-Grad-Paradigmenwechsel gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in der Medizin. Und das ist eine gute Nachricht. Denn schlauer zu werden, lindert Leid, insbesondere für onkologische Patienten. „Wir waren in Österreich die Ersten, als wir 1999 Brustkrebspatientinnen mit adjuvanter Chemotherapie trainiert haben. Wir waren weltweit die Ersten, die Patientinnen mit Knochenmetastasen trainiert haben, aber auch solche mit Hirnmetastasen. Darauf sind wir stolz.“ Das sagte der Rehabilitationsmediziner Prof. Dr. Richard Crevenna auf dem jüngsten Gesundheitspolitischen Forum (Billrothhaus, 13. Dezember 2022 ). Um in den Genuss dieses interdisziplinären multiprofessionellen Prozesses zu gelangen, ist eine günstige Reha-Prognose nötig, sagt Crevenna. Auf gut Deutsch: „Man muss ihnen durch die Reha-Maßnahmen helfen können, und sie müssen eine Reha-Fähigkeit mitbringen, d. h., sie müssen die Reha-Maßnahmen fünf Tage die Woche durchhalten können.“ Der Antrag erfolgt über den Haus- oder Facharzt. Typische Zentren für die stationäre Rehabilitation sind der Rosalienhof der BVAEB in Bad Tatzmannsdorf oder der Sonnberghof in Bad Sauerbrunn. In St. Veit im Pongau gibt es neben dem Zentrum für Erwachsene eines für Kinder und Jugendliche. Insgesamt verfügt Österreich über 640 Betten in der onkologischen Reha und über ambulante Programme.

Die gesetzliche Basis bildet das Wiedereingliederungsteilzeitgesetz aus dem Jahr 2017. Ein Problem der onkologischen Nachsorge, wenn man die onkologische Reha und die Wiedereingliederungsteilzeit inkludiert, ist ihre relative Unbekanntheit, auch unter Ärzten. Das sagt Arbeitsmedizinerin Dr. Eva Höltl. „Die Empfehlungs- und Zuweisungspraxis der behandelnden Ärzte ist durchwachsen.“

"Wir waren Vorreiter in der onkologischen Rehabilitation"

„Es gibt in Österreich 400.000 Patienten mit Krebserkrankungen. Die leiden unter anderem an Fatigue und einem Teufelskreis aus Tageserschöpfung und gestörtem Nachtschlaf, unter anderem bedingt durch eine Verschlechterung in den motorischen Grundeigenschaften wie Ausdauer, Kraft etc. Sie haben auch eine eingeschränkte Beweglichkeit und Mobilität, nicht selten ausgelöst durch überlebensnotwendige Therapien. Viele dieser onkologischen Therapien verursachen Nerven-Schädigungen wie Polyneuropathien, wodurch die Balance und die Koordination gestört sind. Diese Menschen sind sturzgefährdet und leben in ständiger Angst davor. Weitere häufige Nebenwirkungen sind sexuelle Dysfunktion, die ebenfalls durch überlebensnotwendige Therapien bzw. Medikamente bedingt ist, Inkontinenz und Lymphödeme. Früher hat man die onkologische Rehabilitation hierzulande nur am Lymphödem festgemacht. Jeder, der eine Krebserkrankung hat oder Familienmitglieder mit einer Krebserkrankung, weiß, was es bedeutet, auf eine Nachsorgeuntersuchung zu warten oder auf deren Ergebnisse und wie sich das auf die mentale Stabilität resp. Gesundheit auswirkt: Angst, Distress, Depression, Dysthymie. Natürlich schränkt das die Lebensqualität ein und letztlich auch die soziale Teilhabe und die Teilhabe am Arbeitsplatz.

Wie kann man diese Kurz- und Langzeitfolgen, die Nebenwirkungen jener Therapien überstehen? Durch die onkologische Rehabilitation. Diese gibt es in Österreich noch nicht lange, der Paradigmenwechsel erfolgte erst vor ungefähr 20 Jahren. Die BVAEB ( Versicherungsanstalt öffentlicher Bediensteter und Bergbau , Anm.) hat in den frühen 2000er-Jahren – 2005/06 – mit Pilotprojekten begonnen, und erst seit 2011 werden diese Maßnahmen generell – v. a. durch die PVA – angeboten und refundiert. 1999, als wir an unserer Klinik die ersten onkologischen Patienten auf Räder gesetzt haben – wir waren Vorreiter! –, stand in den onkologischen Lehrbüchern noch sinngemäß: Patientinnen und Patienten mit Krebs haben sich nicht anzustrengen, damit sie ihre überlebensnotwendigen Therapien vertragen. Heute ist es vollkommen anders – Training wird wie ein zusätzliches Medikament bewertet und zählt als Muss in der Behandlung onkologischer Patientinnen und Patienten.“

Prof. Dr. Richard Crevenna, Universitätsklinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin der MedUni Wien / AKH Wien

Alles tun, damit Krebs nicht zu einer Armutsfalle wird

„Wir haben 2013 bei uns im Haus eine Betriebsvereinbarung beschlossen, die besagt, dass jeder Mitarbeiter, der nach sechs Wochen Krankenstand zurückkommt, egal mit welcher Erkrankung, das Recht hat, nach seiner Rückkehr bis zu drei Monate bei voller Bezahlung halb zu arbeiten, wenn das medizinisch sinnvoll ist. Das war nicht einfach durchzusetzen, aber es hat unfassbare Konsequenzen, weil wir gesehen haben, dass ungefähr die Hälfte der Langzeiterkrankten davon profitiert. Länger als drei Monate war nicht möglich, weil es doch eine sehr teure Maßnahme ist. Ich gebe aber zu bedenken, dass weniger als vier Prozent aller Krankenstände in Österreich Langzeiterkrankungen sind. Das ist nicht sehr viel. Sie machen dann zwar knapp 40 Prozent des gesamten Krankenstandsvolumens aus, aber wegen der überschaubaren Anzahl kann und sollte man sich um Langzeiterkrankte bei ihrer Rückkehr kümmern. Die längste Krankenstandsdauer verursachen Krebserkrankungen – sie machen aber ,nur’ 0,9 Prozent aller Krankenstandsfälle aus. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, damit eine Krebserkrankung nicht zu einer Armutsfalle wird. Es muss möglich sein, dass Menschen, die nicht mehr 40, aber vielleicht noch zwanzig Stunden die Woche einen sinnvollen Beitrag leisten können und wollen, dies auch ermöglicht wird, und sie von diesem Verdienst leben können.
Seit dem Jahr 2013 verfolgen wir in einem Unternehmen mit 8.500 Beschäftigten jeden einzelnen Langzeitkrankenstand. Es fällt auf, dass Mitarbeiter nach Krebserkrankungen oft sehr früh nach der Heilbehandlung zurückkommen, manchmal zu früh, wenn sie es einfach noch nicht schaffen, durchgehend acht Stunden aufmerksam zu bleiben, und zusätzlich zu der Belastung durch die Diagnose dann auch ein berufliches Scheitern erleben.
Eindrucksvolle Zahlen: In Deutschland erkranken 500.000 Menschen pro Jahr an Krebs, etwa die Hälfte der Diagnosen wird im erwerbsfähigen Alter gestellt. Wenn man für Österreich 50.000 Neuerkrankungen ansetzt, dann passieren 25.000 im erwerbsfähigen Alter. Diese Menschen sind darauf angewiesen, dass sie entweder gut versorgt sind, wenn sie nicht mehr arbeiten können, oder auf gute Rahmenbedingungen, wenn es möglich ist, wieder zu arbeiten. Da ist die Flexibilität leider noch katastrophal schlecht.“  


Dr. Eva Höltl, Leiterin Gesundheitszentrum der Erste Bank der
Österreichischen Sparkassen AG

Lungenkarzinom-Leitlinie als Living-Guideline weiterführen

„Mehr als 600 Seiten umfasst die aktualisierte S3-Leitlinie unter dem Titel ,Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms’. Damit haben wir den aktuellsten Therapiestandard abgebildet, der in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht hat. Wir haben die neuen, sehr vielfältigen und vielversprechenden Therapiemöglichkeiten abgebildet. Aufgrund dieser Vielfalt kommt es zu einer immer stärkeren Individualisierung in der Therapie des Lungenkarzinoms. Unser Vorschlag: Jeder Patient soll mit neu diagnostiziertem Lungenkarzinom in einem thorax-onkologischen Tumorboard vorgestellt werden. Die Entscheidungen sollen sich dort an den aktuell gültigen Leitlinien orientieren. Unter gewissen Bedingungen kann aber auch eine abweichende Therapieentscheidung getroffen werden.

Vor allem in der großen Dynamik bei der Entwicklung neuer Therapieoptionen sehe ich große Chancen. Gerade in der Immuntherapie gibt es viele neue Medikamentenentwicklungen, die sehr zielgerichtet eingesetzt werden können. Es gibt mittlerweile auch viel mehr Spezialaspekte bei den Therapiemöglichkeiten zu beachten. Die Lungenkrebsbehandlung ist heute wesentlich differenzierter und auch komplizierter als vor zehn Jahren. Neu hinzugekommen sind beispielsweise diese Punkte: das CT-Screening für asymptomatische Risikopersonen, das Vorgehen beim inzidentellen Lungenrundherd, verschiedene Formen der molekularen Testung, die Erweiterung des therapeutischen Spektrums, die Einführung der Immunchemotherapie in der Erstlinie oder auch die Vorstellung aller neu diagnostizierten Patienten im interdisziplinären pneumoonkologischen Tumorboard. Aufgrund der großen Dynamik in diesem Forschungsfeld werden wir diese Lungenkarzinom-Leitlinie als sogenannte ,Living Guideline’ weiterführen. Für die Zukunft hoffe ich, dass noch mehr Patienten an der klinischen Tumorforschung teilnehmen. Schon im kommenden Jahr soll eine Patientenleitlinie publiziert werden. Damit sind Betroffene umfassender als bisher informiert.“

Prof. Dr. Wolfgang Schütte, Krankenhaus Martha-Maria Halle Dölau, Gesamtkoordinator der aktualisierten S3-Leitlinie „Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms“


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Metadaten
Titel
Die Angst wegtrainieren
Publikationsdatum
10.01.2023

www.gesundheitswirtschaft.at (Link öffnet in neuem Fenster)

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