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26.01.2024

„Für eure und unsere Freiheit“

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Die Lebensgeschichte einer Sowjet-Dissidentin fasziniert den Journalisten Christian Schüller seit Jugendtagen. Der Herausgeberin einer Untergrundzeitung in Moskau widmet der langjährige Russland-Korrespondent des ORF nun ein Buch. Natalja Gorbanewskaja steht dabei stellvertretend für die vielen ebenso unbekannten wie unbeugsamen Intellektuellen, die sich schon gegen den Zar, später gegen die kommunistische Partei und jetzt auch gegen Putin stellten und stellen.

Moskau, 25. August 1968. Die Übersetzerin und Dichterin lenkt einen Kinderwagen zum Roten Platz. Hier steigt Christian Schüller ein und liest vor: „Zu den Windeln stopft sie zwei Spruchbänder, die sie in der Nacht genäht hat und stopft noch einen ausreichenden Vorrat bulgarischer Zigaretten in ihre Handtasche, denn niemand weiß, wie lange dieser Tag dauern wird. Was sie plant, hat Natalja nur wenigen Freundinnen anvertraut. Sie kann sich nicht damit abfinden, dass die Sowjetunion das kleine, wehrlose Bruderland Tschechoslowakei überfallen hat. Sie muss etwas unternehmen. Zumindest Einspruch möchte sie erheben. Niemand soll behaupten können, die sowjetische Bevölkerung sei einhellig mit dem Vorgehen der Kremlführung einverstanden.“ Auf den Transparenten ist zu lesen: „Für eure Freiheit und unsere Freiheit!“ Keine Kamera hat die kleine Kundgebung festgehalten, doch Augenzeugen schildern später einen Tumult, zwei Männer zerreißen die Spruchbänder, eine Frau schlägt mit einer Tasche auf einen reglos dasitzenden Demonstranten ein. „Verhaftet die Hure“, schreit jemand, und deutet auf die junge Mutter mit dem Kinderwagen. „Schande“, krakeelt ein anderer. „Wogegen wird denn hier demonstriert“, erkundigen sich Passanten. „Diese Leute haben doch recht“, sagt ein junger Mann halblaut, entfernt sich aber schnell, als er einen „Wolga“ mit KGB-Beamten näher kommen sieht. Später sollte Gorbanewskaja über ihren einsamen Protest sagen – mit ihr fanden sich nur sieben Mitstreiter ein: „Niemals hätte ich meinen Kindern in die Augen sehen können, hätte ich damals tatenlos zugesehen.“

Zunächst kommt Natalja aber in eine psychiatrische Zwangsanstalt, nicht nur wegen der Demonstration am Roten Platz, sondern auch, weil sie die Herausgeberin der ersten sowjetischen Untergrundzeitschrift war – „Die Chronik der laufenden Ereignisse“, erschienen im Selbstverlag (Samisdat), erreichte Hunderttausende Leser.

Zivilgesellschaft entsteht

Die Bedeutung dieses frühen sozialen Mediums kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Obwohl die Bewegung in den 1970er-Jahren vom KGB zerstört wurde, legten die Dissidenten doch die Basis für Perestroika und Glasnost zehn Jahre danach, sagt der Autor. Diese nicht-systemkonformen Netzwerke „haben überhaupt erst ein Bewusstsein in der Bevölkerung wach werden lassen, auf dem dann später Reformer wie Michail Gorbatschow aufbauen konnten“.

Schüller wuchs am Eisernen Vorhang östlich von Wien auf. Mit 14 Jahren hörte er zum ersten Mal von Natalja Gorbanewskaja. Er beschloss, in der Schule ein Referat über sie zu halten, und meldet sich bei der verantwortlichen Redakteurin. Schüller bleibt dran, verfolgt die Lebensgeschichte der Dissidentin, mal von weiter weg, mal aus der Nähe – zu einem persönlichen Treffen kommt es leider nie, Gorbanewskaja stirbt im November 2013, wenige Wochen vor einem Interviewtermin, in Paris. Nicht zuletzt handelt das Buch aber auch von der Berufsauffassung eines Journalisten, „der sich immer die Frage gestellt hat: Wie hätte ich mich verhalten? Wie würde ich in einer Diktatur handeln und auf welche Seite würde ich mich stellen? Hätte ich den Mut, Widerstand zu leisten?“

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Metadaten
Titel
„Für eure und unsere Freiheit“
Publikationsdatum
26.01.2024

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