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Open Access 22.04.2024 | Freies Thema

Differenzialdiagnosen bei Verletzungen der (oberen) Halswirbelsäule

Serie spezifischer und unspezifischer Rückenschmerz: Teil VIII

verfasst von: Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner

Erschienen in: Schmerz Nachrichten

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Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Welche Diagnosen können durch Verletzungen der Halswirbelsäule, speziell der oberen Halswirbelsäule entstehen? Barré-Lieou-Syndrom, zervikozephales Syndrom, sympathisches hinteres Zervikalsyndrom, kraniomandibuläre Dysfunktion, Peitschenschlag-Trauma, atlantoaxiale Instabilität, Arteria-vertebralis-Insuffizienz.
Ich fasse Beschwerden und Erkrankungen, die mit einer kraniozervikalen Instabilität zu tun haben können, zusammen. Eigentlich handelt es sich hier um Probleme mit dem Nacken und deren Auswirkungen auf das näher oder ferner lokalisierte Gewebe oder insgesamt um die Gewebszusammenhänge.
Die Symptome Kopfschmerz, Nackenkopfschmerz, Nackenschmerzen sind häufige Beschwerden unserer Patient:innen. Die Ursachen werden in der Regel nicht identifiziert, so ergibt sich therapeutisch nur allgemein eine Aufforderung zu mehr Bewegung und Aktivität, was sehr gut ist, aber letztendlich wirkungslos bleiben wird, wenn es nicht zu einer nachhaltigen Aktivierung der Muskulatur kommt, die zu einer Änderung der krankmachenden Haltung führt.
Die Haltungsänderung ist ein bewusster Prozess und passiert nicht von alleine. Sie müssen die Patient:innen führen. Die Richtigkeit ihres Führens und Agierens wird durch die Schmerzreduktion ihrer Patient:innen dokumentiert. Sie wissen, dass es nach einer Phase der Besserung zu vorübergehenden Phasen von Schmerzen kommen kann, da die Haltungsänderung auch zu Änderungen in den Belastungen von Muskulatur, Sehnen, Bändern und Gelenken führen wird. Muskuläre Balance ersetzt muskuläre Dysbalance, die im Älterwerden immer mehr in den Vordergrund rücken würde, wüssten wir nicht darum – und reagieren entsprechend.
Und da treffen wir wieder auf unser altes Problem: Globale Muskulatur, auch phasische Muskulatur genannt, dient der Bewegung. Lokale Muskulatur, auch tonische Muskulatur genannt, dient der Haltung und der Stabilität. Beide Systeme sollten möglichst ausgeglichen trainiert und aktiviert sein, um nicht Beschwerden einer muskulären Dysbalance (M62.98 Muskuläre Dysbalance im Wirbelsäulenbereich) heraufzubeschwören, denn die meisten vorbeschriebenen Beschwerden und Krankheiten sind ja Ergebnis dieser muskulären Dysbalance. Laufen, Gehen, Radfahren, Fitnessstudio etc. trainieren die globale Muskulatur und die Bewegungsmuskulatur. Wie sollen wir es unseren Kolleg:innen klarmachen, dass die unterversorgte und teilweise massiv verkümmerte tonische Muskulatur entlang der Wirbelsäule, die segmental stabilisierende Muskulatur, das Ziel der Aktivitäten sein soll? Im Studium habe ich davon nichts gehört. In den sozialen Medien wird das Thema eher von alternativmedizinischen Gruppen aufgegriffen, und manche nutzen die Problematik der muskulären Dysbalance, um ihre Produkte zu Verbesserung der Wirbelsäule unter das Volk zu bringen und Umsatzzahlen zu erhöhen. Andere bieten ihr Konzept der muskulären Dehnung als globales Heilmittel gegen alle Beschwerden des körperlichen Haltesystems an.
Alles in allem befinden wir uns aber auf dem richtigen Weg der Erkenntnis. Die Nomenklatur ist inzwischen sehr verwahrlost und bedarf etwas Fürsorge, um Missverständnisse zwischen den Arztgenerationen erst gar nicht aufkommen zu lassen. Rückenschmerzen heißen Lumbalgien und nicht Lumbago. Ein akuter Rückenschmerz heißt Lumbago. Es gibt radikuläre Beschwerden und nicht eindeutig radikuläre Schmerzen. Das sind aber keineswegs pseudoradikuläre Schmerzen! Pseudoradikuläre Schmerzen werden besser als myofasziales Syndrom (M79.1) bezeichnet, weil für unsere Patient:innen das „pseudo“ missverständlich ist, wie ich schon früher ausgeführt habe. Ein wichtiges Kriterium sind die positiven Triggerpunkte, die beim radikulären Syndrom fehlen. Die Nomenklatur ist von Prof. Dr. Edward Senn, dem großen Erneuerer der Physikalischen Medizin, geschaffen worden, den ich hier ehren will!
Alle Elemente der integrativen Schmerztherapie tragen mehr oder weniger zur Verbesserung unserer Wirbelsäule bzw. unseres Stütz- und Haltesystems bei. Schon eine positive Vorstellung durch Motivation oder eine andere Bewertung von Schmerz kann eine Verbesserung der Beschwerden bringen, was uns der nachfolgende Absatz eindrücklich zeigen wird.
Kollegin Yoni Asher PhD von der Psychiatrie der Weill Cornell Medical University in New York beschrieb im Oktober 2021: „retraining the brain may eliminate chronic back pain“ [1]. Psychologische Therapie verändert die individuelle Vorstellung über Schmerzen und ist in der Lage, eine anhaltende Schmerzlinderung zu bewirken. Es würden sich durch das individuelle „retrain the brain“ auch Gehirnregionen verändern, die in der Schmerzgeneration beteiligt sind. Asher führte aus, dass durch die Idee, dass sich Patient:innen Schmerz als etwas Sicheres, und nicht als etwas Bedrohliches vorstellen, schmerzverstärkende Gehirnbereiche so verändert werden konnten, dass die Schmerzverstärkung ausblieb oder der Schmerz sogar neutralisiert wurde. Die Methode der Pain Reprocessing Therapy (PRT) arbeitete daran, die Vorstellung zu reduzieren, dass Schmerz ein Indikator für eine Gewebsschädigung darstelle. Die Effekte der PRT konnten experimentell evozierten Schmerz und auch spontanen Schmerz in fMRT-Untersuchungen reduzieren. Die Studienteilnehmenden waren körperlich aktiv und hatten einen relativ hohen Bildungsstand. Die Methode zeigte auch Wirkung bei Knieschmerzen und Spannungskopfschmerz.
Viele neurologische Krankheiten führen zu Beschwerden in der Halswirbelsäule und den Kopfgelenken. Ich zähle diese Krankheiten auf, ohne sie groß zu beschreiben. Es würde den Rahmen dieser Kolumne bei weitem übersteigen. Die kraniozervikale Instabilität, oder Instabilität der oberen Halswirbelsäule, haben wir schon besprochen. Erkrankungen wie die zervikale Dystonie, die temporomandibuläre Dystonie, die Parkinson-Krankheit, die amyotrophe Lateralsklerose (Lou-Gehrig-Krankheit), Myasthenia gravis, isolierte Nackenstrecker-Myopathie mit Dropped-Head-Syndrom, Bethlem-Myopathie, die verschiedenen Formen von Muskeldystrophien, Ehlers-Danlos-Syndrom, Krebserkrankungen im Kopf-Hals-Bereich, metastatische Prozesse … – sie alle können Schmerzen, Funktionsstörungen, Ausfallserscheinungen am oberen Ende der Wirbelsäule und der Bewegungssteuerung des Kopfes verursachen.
Kommt es zu einer Verletzung von Bändern/Ligamenten und/oder zu einer muskulären Atrophie, resultiert daraus eine Hypermobilität in der Halswirbelsäule. Aus der physiologischen Halswirbelsäulenkrümmung (Lordose) entwickelt sich durch einen kompensatorischen muskulären Hypertonus eine Steilstellung der Halswirbelsäule mit Auflösung der physiologischen Lordose und eine kyphotische Fehlstellung (Krümmung nach vorne/ventrale Knickbildung). Vergessen Sie bitte nicht meine Ausführung in den früheren Ausgaben bzgl. der Auswirkung der lumbosakralen Hyperlordose auf die Krümmung in der Halswirbelsäule. Die fehlende Beckenaufrichtung hat Auswirkungen in beide Richtungen, nach unten und nach oben.

Kraniomandibuläre und temporomandibuläre Dysfunktion

Eine Vielzahl von Faktoren führt zu einer komplexen schmerzhaften Störung, die vier anatomische Strukturen beinhaltet: Kaumuskulatur, Kiefergelenk, Zahnapparat, limbisches System (im Großhirn).
Beginnen wir mit Letzterer: Das limbische System ist das Belohnungssystem unseres Gehirns. Hier spielen emontionale Ereignisse wie Rausch, Lust, Befriedigung, Angst, Angriff und Flucht eine große Rolle. Letzteres (Angst) wiederum ist der Akteur für die sich aufbauende Stress- und Belastungssituation, die durch bewussten und unbewussten Stress zu Verspannungen der Kopf- und Halsmuskulatur führen kann. Die Dysfunktion kann sich in zwei Varianten entwickeln:
  • Der absteigende Weg wird durch psychosozialen Stress wie Ängstlichkeit, Katastrophisierung und geringer Fähigkeit, mit Stress und Schmerzen fertig zu werden, verursacht. Es bilden sich Verspannungen in der Muskulatur von Kopf, Hals und Nacken aus, die mit der Zeit immer schmerzhafter werden. Die Belastung kann sich auch im Kauapparat samt Muskeln, Zähnen und im Kiefergelenk manifestieren. Sie können es gut daran erkennen, dass ihre Patient:innen sogar in Ruhe die Kiefer aufeinandergepresst haben. Der M. masseter zeigt dann sichtbare Kontraktionen. Zähneknirschen, Bruxismus und mahlende Kieferbewegungen schleifen die Kauflächen der Zähne ab. Unter normalen Bedingungen berühren sich in Ruhe und entspannter Situation die Zahnflächen nicht. Die Kiefer liegen nicht aufeinander.
  • Beim aufsteigenden Weg führt ein Schaden an der Kaumuskulatur oder im Kiefergelenk zu chronischen Schmerzen. Diese führen – in umgekehrter Weise zum absteigenden Weg – aufsteigend zu einer Belastungsreaktion durch Stress zu psychosozialen Belastungsreaktionen, bis hin zu Schlafstörungen und zu Depressionen. Letztere führen die Patient:innen dann zu Ihnen in die Praxis; das Erkennen der primären Ursache ist dadurch, dass uns die Gnathologie unbekannt ist, erschwert.
Die Kaumuskulatur kann positive Triggerpunkte aufweisen und ein myofasziales Syndrom darstellen. Es ist sogar beschrieben, dass ständiges Kaugummikauen zu Überlastungsschmerzen führen kann. Zudem treten im höheren Alter zunehmend degenerative Veränderungen im Kiefergelenk in Sinne von Arthrose und/oder Diskusschäden auf. Ein nicht korrekter Biss kann zu einer Malokklusion der Zahnreihen führen, was die Kiefergelenke und die Kaumuskulatur überlasten kann.
Die Schmerzen einer temporomandibulären Dysfunktion (TMD) sind meist Muskelschmerzen mit dumpfem oder stechendem Charakter. Sie zeigen häufig wechselnde, belastungsabhängige Intensitäten, Crescendo- und Decrescendo-Charakter. Anders zeigen Patient:innen mit einer TMD chronische Schmerzen mit Ausbreitungstendenz außerhalb der Kopf- und Halsregion mit Senkung der Schmerzschwelle und zusätzlicher bindegewebiger Schmerzausbreitung. Die Faszien sind mit nozizeptiven Fasern innerviert. Ein erhöhter Sympathikotonus als Schmerzauslöser wird schon lange diskutiert. Unterstützt wird diese These durch Aussagen von Patient:innen, wonach ihr unspezifischer Rückenschmerz (Faszien‑, Bindegewebeschmerz) unter psychischen Stress deutlich zunimmt, dies einerseits durch Vasokonstriktion in der Fascia thoracolumbalis mit (durch Minderdurchblutung verursachter) Gewebsazidose, welche die Nozizeptoren stimuliert. Die Sympathikusfasern sind in der Regel in der Nähe der Blutgefäße und gelten als vasomotorische Fasern. Langsames Dehnen durch langsamen und anhaltenden Zug mit mehreren Fingern und Daumen an der Haut und dem darunter liegendem Bindegewebe führt zu einer Schmerzlinderung und zu einem Lösen von Adhäsionen, was als Fascial Release bezeichnet wird.
Wissen Sie, dass es mindestens 20 s dauert, bis Faszienzellen auf Tonusänderungen reagieren? Das heißt, ab 20 bis 30 s reagieren die Zellen, und wenn sie dann schon mit ihrer Übung aufhören, dann war sie umsonst, denn es kommt zu keinem Lernen. Die Bindegewebszellen haben einen Zyklus von zwei Jahren, was mit radioaktiv markierten Bindegewebszellen nachgewiesen werden konnte. Erstreckt sich die Behandlung auch auf Muskelgewebe, wird es als Myofascial Release bezeichnet. Neben der Beseitigung von bindegewebigen Verklebungen kommt es zu einer mechanischen Reizung von Mechanorezeptoren der Haut, was zu einer segmentalen Schmerzhemmung in den WDR-Neuronen (Wide-Dynamic-Range-Neurone) des Hinterhorns führen kann. Was die Wirksamkeit von bindegewebigen Techniken bei myofaszialen Schmerzsyndromen erklären kann. Unter diesen Aspekten erklärt sich die Bedeutung von Dehnung, Kräftigung, Aktivierung von Bindegewebe und Muskulatur, kombiniert mit Bewusstmachung der Ziele und Absichten der Therapie sowie mit passiven Methoden wie Massagen. Was für uns Ärzt:innen für das Verständnis und Sinnhaftigkeit von Massagetherapien wichtig ist, denn die meisten von uns wissen nicht, wieso was gemacht wird. Berührung tut gut, aber besser ist die aktive Bewegung – ja, das ist schon richtig, aber ziehen Sie an Ihrer Haut und an Ihrem Bindegewebe am Rücken, um das Bindegewebe und die Faszien, Muskeln, Muskelsehnenübergänge und Sehnenperiostübergänge zu behandeln?
Infobox
In seiner Kolumne arbeitet Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner, Universitätsklinik für Neurochirurgie an der MedUni Innsbruck und Präsident der ÖSG, die unterschiedlichen Rückenschmerz-Entitäten für den klinischen Alltag auf und gibt praktische Tipps für Diagnose- und Therapieansätze. Reaktionen an: wilhelm.eisner@i-med.ac.at
Die bereits erschienenen Beiträge zu dieser Serie finden Sie auf pains.at:www.​pains.​at/​schmerzmedizin/​serie-spezifischer-und-unspezifischer-rueckenschmerz

Interessenkonflikt

W. Eisner gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Ashar YK, et al. Effect of Pain Reprocessing Therapy vs Placebo and Usual Care for Patients With Chronic Back Pain. JAMA Psychiatry. 2022;79(1):13–23.CrossRefPubMed Ashar YK, et al. Effect of Pain Reprocessing Therapy vs Placebo and Usual Care for Patients With Chronic Back Pain. JAMA Psychiatry. 2022;79(1):13–23.CrossRefPubMed
Metadaten
Titel
Differenzialdiagnosen bei Verletzungen der (oberen) Halswirbelsäule
Serie spezifischer und unspezifischer Rückenschmerz: Teil VIII
verfasst von
Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner
Publikationsdatum
22.04.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Schmerz Nachrichten
Print ISSN: 2076-7625
Elektronische ISSN: 2731-3999
DOI
https://doi.org/10.1007/s44180-024-00184-0