Shiatsu erfreut sich im Westen großer Beliebtheit. Gerade in Zeiten großer Herausforderungen. - Warum eigentlich?
Mike Mandl
Shiatsu bedeutet wörtlich übersetzt „Fingerdruck“ und hat seine Wurzeln in fernöstlichen Heilsystemen, vor allem in der japanischen Volksmedizin sowie der Traditionellen Chinesischen Medizin.
Beide Systeme gehen davon aus, dass allen Lebewesen eine dynamische Lebensenergie innewohnt, die maßgeblich für Vitalität, Wohlbefinden und Gesundheit verantwortlich ist. In Japan wird diese Lebensenergie Ki, in China Qi genannt.
Shiatsu: Ziel und Methode
Das Ziel von Shiatsu ist es, den harmonischen Fluss dieser Lebensenergie im gesamten Organismus zu fördern, zu balancieren und aufrecht zu erhalten. Um dies zu erreichen, wird mit den Fingern, aber auch mit den Händen, den Ellenbogen oder den Knien eine ganz spezielle Form von weichem, stabilem und in die Tiefe gerichteten Druck auf das Meridiansystem, ganze Körperzonen oder spezifische Akupunkturpunkte ausgeübt. Ein ganzheitliches Menschenbild, das die Einheit von Körper, Geist und Seele betont, steht dabei im Mittelpunkt, wie auch der salutogenetische Ansatz, der nicht nach dem Ursprung einer Krankheit, sondern nach dem Potential der individuellen Resilienz fragt. Soweit zur Definition. Und nun zur Praxis…
Berühren und berührt werden
Ob man dem Konzept einer vorhandenen Lebensenergie in seinem eigenen Glaubenssystem Raum schenken kann oder nicht, ist für die spürbare Wirkung von Shiatsu wenig relevant. Denn wir sind vor allem eines: Taktile und haptische Wesen. Zu berühren und berührt zu werden ist die Basis unserer Selbst- und Welterfahrung.
In den prägendsten Phasen unserer Entwicklung - der Kindheit - lernen wir primär über Begreifen als physische Erfahrung. Positiv abgestimmter Körperkontakt spielt hierbei eine zentrale Rolle und gilt als wichtiger Einflussfaktor für die Entwicklung von Sicherheit, Vertrauen und konstruktivem Selbstbezug, also im Summe für die Entwicklung einer stabilen Identität.
Aber auch Erwachsene brauchen ein Mindestmaß an regelmäßiger Berührung für ihre emotionale und körperliche Gesundheit. Fehlt uns dieses Mindestmaß, dann werden wir eher krank, ängstlich oder unglücklich. Das ist erwiesen. Und hier kommt Shiatsu ins Spiel. Denn die frappante Modernisierung und Digitalisierung des Lebens hat zwar viele Vorteile, jedoch auch eine generelle Abnahme des Körperkontakts mit sich gebracht. Kurz: Wir spüren uns zu wenig. Wir verlieren uns. Das ist nicht die beste Basis, um turbulenten Zeiten wie diesen optimistisch die Stirn zu bieten.
Eine respektvolle Begegnung
Shiatsu ist - ganz japanisch - eine äußerst respektvolle Begegnung. Gearbeitet wird am bekleideten Körper. Das schafft einen sicheren Rahmen. Die Berührung ist achtsam, klar und nicht offensiv manipulativ, eher wie eine wohl gemeinte Umarmung. Das Gehirn dankt dieser aufmerksamen Zuwendung mit einer Dosis Oxytocin. Die Atmung wird ruhiger. Der Herzschlag langsamer. Der Blutdruck kann sinken. Und sogar Schmerzen werden gelindert.
Regeneration und Entspannung
Der von den permanenten Krisen bei einer Großzahl von Menschen permanent getriggerte Flight-, Fight- oder Freeze-Modus darf einmal in den Pausenmodus gehen. Dringend notwendige Regeneration findet statt. Entspannung. Bis hin zur völligen Tiefenentspannung.
Endlich wieder in Kontakt mit sich selber kommen. Sich selber wieder spüren, erleben, wahrnehmen. Über den Körper die dringend notwendige Erdung erfahren. Eine Stunde sein, ohne etwas zu müssen. Das macht Shiatsu speziell und führt dazu, dass das Körper-Geist-System sich selber wieder besser regulieren kann. - Eine fruchtbarere Selbstregulation führt wiederum dazu, dass der Organismus effizienter arbeiten kann, dass man weniger müde ist, also mehr Energie besitzt. Und da ist sie dann doch wieder, die Lebensenergie Qi. Deutlich wahrnehmbar in vermehrter Vitalität, gestärkter Immunität oder positiver Geisteshaltung.
Etliche Aspekte traditioneller Medizinsysteme werden oft nicht ernst genommen, obwohl ein und dasselbe Phänomen einfach nur mit einer anderen Begrifflichkeit umschrieben wird. Es wird in vielen Fällen lediglich eine andere Sprache verwendet, die es zu entschlüsseln gilt.
Ausgleich von Qi
Neben dem generellen Effekt der Berührung arbeitet Shiatsu gezielt am Ausgleich von Qi im Organismus. Ortet man während einer Behandlung die Stagnation von Qi in einem spezifischen Meridian und versucht diese mittels geeigneter Techniken zu zerstreuen, um den natürlichen Fluss der Lebensenergie wiederherzustellen, dann bedeutet das oft nichts anderes, als dass eine lokale muskuläre Spannung gelockert wird, die über die Faszien und das Bindegewebe Einfluss auf weit größere Körperareale hat - bis hinein in den Organbereich. Trifft man in einem anderen Bereich auf eine Leere des Qi und füllt diese entsprechend den Prinzipien von Shiatsu auf, dann heißt das praktisch, dass bei strukturellen Schwächen spezifische Reize gesetzt werden, um den Tonus oder die Durchblutung des entsprechenden Gewebes zu heben.
Auf Basis dieser Prinzipien wird während einer Shiatsu-Behandlung der gesamte Körper palpiert und behandelt, von Kopf bis Fuß: Es findet ein umfassendes Feintuning in den Bereichen Haut, Faszien, Muskulatur, Gelenke, Bänder und Sehnen statt, das wiederum dazu beiträgt, den Organismus zu einem Zustand höherer Effizienz zu verhelfen und - das hatten wir schon - somit zu einem Mehr an Energie, also auch ein Mehr an Qi. Aber es geht bei Shiatsu nicht ausschließlich um Qi.
Shiatsu für den Weg nach Innen
Es geht um etwas, dass aktuell von vielen Menschen gesucht wird und es ist vor allem der für Shiatsu so spezifische in die Tiefe gerichtete Druck, der maßgeblich dafür verantwortlich ist. Dieser Druck lenkt die Aufmerksamkeit der behandelten Person nach Innen, in Richtung inneres Erleben, dorthin, wo die Seele wohnt. Wieder ein abstrakter Begriff.
Aber ist es nicht genau das, was wir vom Leben wirklich wollen? Tief berührt zu werden? In der Seele? In diesem Sinne ist jede Shiatsu-Behandlung eine Berührung des Lebens an sich!
Mike Mandl
Mike Mandl