Skip to main content
Erschienen in: ProCare 10/2023

01.12.2023 | PFLEGE & WISSENSCHAFT

Cochrane Pflege Forum

Wirksamkeit von Maßnahmen zur Delirprophylaxe vor herzchirurgischen Operationen

verfasst von: Martin Fangmeyer, BScN, MScN, Markus Nothnagel

Erschienen in: ProCare | Ausgabe 10/2023

Das Delir ist ein akuter und häufig in Kliniken auftretender Verwirrtheitszustand, der mit Bewusstseinsveränderungen einhergeht (1). Es ist keine eigene Krankheitsentität sondern ein Zustand, der auf medizinische Faktoren zurückzuführen ist und durch Organdysfunktion bedingt sein kann (2). Das Delir gehört insbesondere bei älteren Menschen zu den häufigsten psychischen Störungen und kann nach herzchirurgischen Operationen bei bis zu 40 Prozent der Patientinnen und Patienten auftreten (1, 3, 4). Ein Delir kann umfassende und schwere Folgen für die Betroffenen haben. Diese reichen beispielsweise von einer verlängerten Beatmungs- und Verweildauer bis zu längerfristigen Einschränkungen der kognitiven Leistungen (2). Zur Vorbeugung eines Delirs auf Intensivbettenstationen werden in Leitlinien z. B. nicht-pharmakologische Maßnahmen wie aktivierende Maßnahmen am Tag oder auch eine Anpassung der Umgebung empfohlen (2). Es ist unklar, ob präoperative Maßnahmen die Häufigkeit des Auftretens eines Delirs beeinflussen.

Fragestellung & Methode

Eine beschleunigt erstellte Evidenzsynthese (Rapid Review) beschäftigte sich deshalb mit folgender Fragestellung: Hat die präoperative Durchführung nicht-pharmakologischer Interventionen zur Delirprävention auf Bettenstationen im Vergleich zur Standardpflege bei erwachsenen Patientinnen und Patienten mit Herzoperationen einen Einfluss auf die Häufigkeit und Dauer eines postoperativen Delirs? (5)

Auswahl der Studien

Die systematische Literaturrecherche in den Datenbanken CINAHL EBSCO, JBI EBP Database, Ovid MEDLINE® und Cochrane Library im Februar 2023 ergab 696 Treffer. Nach Entfernung aller Duplikate und Durchsicht von 480 Publikationen auf Abstract- und 34 Publikationen auf Volltextbasis konnten drei Studien für die weitere Analyse eingeschlossen werden. In der Recherche waren systematische Übersichtsarbeiten, randomisierte und nicht randomisierte kontrollierte Studien, Kohortenstudien und Fall-Kontrollstudien in Englisch und Deutsch eingeschlossen. Relevant waren Studien, die Erwachsene vor großen herzchirurgischen Operationen einschlossen und präoperative Maßnahmen zur Vermeidung eines Delirs gegenüber keinen derartigen Maßnahmen oder Standardpflege in Bezug auf die Häufigkeit des Auftretens und der Dauer eines Delirs verglichen.

Überblick über die Studien

Zur Beantwortung der Fragestellung konnten drei rezente Studien herangezogen werden (6, 7, 8). Sie schlossen insgesamt 978 Personen mit einem Durchschnittsalter von 57 bis 60 Jahren ein; in einer Studie wurden keine Altersangaben berichtet (8). Die beiden randomisierten kontrollierten Studien wurden in China (6) und dem Iran (7) und die als retrospektive Kohortenstudie beschriebene Untersuchung ebenfalls in China (8) durchgeführt. Die drei Studien untersuchten präoperativ angewandte Interventionen zur Prävention eines postoperativen Delirs und umfassten: individualisierte oder multimediale Patientinnen- und Patientenedukation oder auch ergänzende präoperative Besuche auf der Intensivbettenstation. Ob ein Delir vorlag, wurde in allen drei Studien mit dem Instrument „Confusion Assessment Method for the Intensive Care“ (CAM-ICU) eingeschätzt. Das Verzerrungsrisiko war in allen drei Studien unklar.

Ergebnisse

Häufigkeit eines postoperativen Delirs. Alle drei Studien berichten von einem Vorteil bei der Anwendung edukativer Präventionsmaßnahmen in Bezug auf die Häufigkeit des Auftretens eines postoperativen Delirs. Die Ergebnisse der Studien wurden in einer Metaanalyse zusammengefasst, um daraus aussagekräftigere Ergebnisse ableiten zu können. Inkludiert wurden die Daten von insgesamt 978 Patientinnen und Patienten. Dabei zeigte sich, dass das Risiko, postoperativ ein Delir zu entwickeln, in der Gruppe mit präoperativen edukativen Maßnahmen (Interventionsgruppe) um die Hälfte geringer war als in der Gruppe mit Standardpflege (Relatives Risiko [RR] 0,52; 95% Konfidenzintervall [KI]: 0,38-0,69). In der Interventionsgruppe entwickelten 11,2 Prozent (55 von 491 Personen) ein postoperatives Delir. In der Vergleichsgruppe mit Standardpflege 21,6 Prozent (105 von 487 Personen). Die zusammengefassten Daten sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren, da sich die edukativen Maßnahmen im Detail unterscheiden und mögliche Risikofaktoren in den einzelnen Studien nicht immer ausreichend beschrieben wurden. Alle drei Studien zeigten, unabhängig vom Studiendesign, eine geringere Anzahl an postoperativem Delir bei Anwendung diverser präoperativer edukativer Maßnahmen wie z. B. individualisierte bzw. multimediale Edukation oder präoperative Besuche auf der Intensivbettenstation. In der Kohortenstudie mit mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmern war der Effekt etwas geringer ausgeprägt (RR 0,57; 95% KI 0,39-0,84) als in den beiden randomisierten kontrollierten Studien (RR 0,45; 95% KI 0,29-0,71).
Dauer des postoperativen Delirs. Die Dauer des postoperativen Delirs wurde in einer Studie mit 735 Patientinnen und Patienten beschrieben (8). In der Gruppe mit präoperativem Besuch auf der Intensivbettenstation und multimedialer Edukation dauerte das Delir um durchschnittlich neun Stunden kürzer an als in der Gruppe mit Standardpflege. Bei den Patientinnen und Patienten mit präoperativen edukativen Maßnahmen dauerte das Delir durchschnittlich 23 Stunden (Spannbreite: 15-28) und in der Vergleichsgruppe mit Standardpflege 32 Stunden (Spannbreite: 22-60)

Fazit

Alle drei Studienergebnisse zeigen, dass präoperative edukative Maßnahmen vor großen Herzoperationen die Häufigkeit des Entstehens eines Delirs im Vergleich zu Standardpflege reduzieren können. Auch die Dauer eines aufgetretenen Delirs kann durch diese Maßnahmen verkürzt werden. Die methodische Güte der Studien ist unklar und unser Vertrauen in die Evidenz ist moderat bis niedrig.
Die detaillierten Ergebnisse des Rapid Reviews sind auf der Website des Evidenzbasierten Informationszentrums für Pflegende (www.ebninfo.at) kostenlos verfügbar. Um weitere aktuelle evidenzbasierte Informationen für die Pflegepraxis zu erhalten, besteht die Möglichkeit den kostenlosen Newsletter unter www.ebninfo.at zu abonnieren

COCHRANE PFLEGE FORUM: WISSEN WAS WIRKT

Das „Cochrane Pflege Forum“ ist eine Serie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Cochrane Zentrum und dem Cochrane Zentrum Österreich. Es zeigt in regelmäßigen Abständen den aktuellen Stand der Forschung in Form von Zusammenfassungen von Cochrane Reviews auf. Dabei werden unterschiedliche pflegerische Themen aufgegriffen. Ziel der Serie ist es, den Pflegekräften Forschungsergebnisse schneller und direkter zur Verfügung zu stellen.

EXPERTEN- UND EXPERTINNENKOMMENTAR

Markus Nothnagel BSc; Pflegeexperte Herzchirurgie Bettenstation, Universitätsklinikum St. Pölten; Masterstudent Advanced Nursing Practice
Pflegepersonen haben den Anspruch, eine umfassende Betreuung von Patientinnen und Patienten im Sinne des Pflegeprozesses an den Tag zu legen. Im akutstationären Setting wird von professionell Pflegenden für Vorbereitung, Aufklärung und Information vor allem vor herzchirurgischen Eingriffen ein hohes Maß an Expertise erfordert. Auf der einen Seite erlebt die Praxis eine vermehrte Arbeitsverdichtung und immer mehr hochaltrige und multimorbide Patientinnen und Patienten. Auf der anderen Seite zeigt die Evidence, dass vor allem präoperative Maßnahmen im Sinne der Edukation einen Einfluss auf den postoperativen Verlauf haben. Der vorliegende Rapid Review beschäftigt sich genau mit diesem Thema, wobei im Speziellen die häufige Komplikation des Delirs nach herzchirurgischen Eingriffen betrachtet wird. Die Ergebnisse bieten eine wertvolle Perspektive für die praktische Anwendung in der klinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten vor Herzoperationen. Die Erkenntnis, dass nicht-pharmakologische präoperative Interventionen das Risiko eines postoperativen Delirs reduzieren können, hat das Potenzial, die Patientinnen- und Patientenversorgung zu verbessern und die Lebensqualität der Betroffenen zu steigern. Basierend auf meiner eigenen praktischen Erfahrung bestätigen die Ergebnisse unser aktuelles Vorgehen, zeigen jedoch auch Verbesserungspotenziale auf. Es braucht noch mehr und vor allem strukturierte präoperative Information, Schulung und Beratung. Hierbei sind alle am Behandlungsprozess beteiligten Disziplinen ins Boot zu holen. Außerdem bieten die Ergebnisse eine Argumentationsgrundlage, um bei Entscheidungsträgerinnen und -trägern mehr Zeitressourcen genau für diese Maßnahmen einzufordern.

Unsere Produktempfehlungen

Abo für ProCare kostenpflichtig

Literatur
4.
Zurück zum Zitat Ettema RG, Van Koeven H, Peelen LM, Kalkman CJ, Schuurmans MJ. Preadmission interventions to prevent postoperative complications in older cardiac surgery patients: a systematic review. Int J Nurs Stud. 2014;51(2):251–60.CrossRefPubMed Ettema RG, Van Koeven H, Peelen LM, Kalkman CJ, Schuurmans MJ. Preadmission interventions to prevent postoperative complications in older cardiac surgery patients: a systematic review. Int J Nurs Stud. 2014;51(2):251–60.CrossRefPubMed
5.
Zurück zum Zitat Fangmeyer M, Neubauer C, Klerings I. Delirprävention auf der Bettenstation vor herzchirurgischen Eingriffen. Rapid Review. Evidenzbasiertes Informationszentrum für Pflegende. 2023. Fangmeyer M, Neubauer C, Klerings I. Delirprävention auf der Bettenstation vor herzchirurgischen Eingriffen. Rapid Review. Evidenzbasiertes Informationszentrum für Pflegende. 2023.
8.
Zurück zum Zitat Chen B et al.: Nurs Crit Care. 2022;20:20. Chen B et al.: Nurs Crit Care. 2022;20:20.
Metadaten
Titel
Cochrane Pflege Forum
Wirksamkeit von Maßnahmen zur Delirprophylaxe vor herzchirurgischen Operationen
verfasst von
Martin Fangmeyer, BScN, MScN
Markus Nothnagel
Publikationsdatum
01.12.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
ProCare / Ausgabe 10/2023
Print ISSN: 0949-7323
Elektronische ISSN: 1613-7574
DOI
https://doi.org/10.1007/s00735-023-1781-2

Weitere Artikel der Ausgabe 10/2023

ProCare 10/2023 Zur Ausgabe

EditorialNotes

inhalt

PFLEGEBILDUNG

PFLEGEBILDUNG

PFLEGE & WISSENSCHAFT

Pflege & Wissenschaft