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06.03.2024 | Alkohol

Die Beichte eines Anästhesisten

verfasst von: Patrizia Steurer

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Lange Arbeitstage, bürokratischer Aufwand, belastende Hierarchien. Ein Arzt greift zu Medikamenten, um leistungsfähig zu bleiben. Wie er gegen seine Sucht ankämpft. Und warum er jetzt mit dem großen Tabu unter Ärzten bricht.

Es ist Dienstag, 6.45 Uhr. Es ist noch dunkel, als Martin P. ( Name von Redaktion geändert ) in die Klinik kommt. Der Facharzt für Anästhesie tritt seine Schicht an. Martin P. schlüpft schnell in seine Arbeitskleidung und bereitet sich auf einen weiteren langen Tag im OP vor. Ein Tag, der bis 20.00 Uhr dauern wird, ohne Pause. Ein Tag, der von Druck und Perfektion geprägt ist. Martin fühlt sich erschöpft, körperlich und seelisch. Er zweifelt, ob er den Tag überstehen wird. Plötzlich spürt er es wieder, dieses Kribbeln. Soll er es tun? Er zögert. Die Entscheidung fällt ihm schwer. Doch heute gibt er dem Verlangen nach. Einer seiner größten Fehler im Leben, wie er später eingestehen wird.

Kollegen schauen weg

Martin P. ist Arzt aus Leidenschaft. Er ist 36 Jahre alt. Groß, blond, hat leicht welliges Haar. Er spricht ruhig und überlegt, fast so, als wäre es ihm unangenehm. Verständlich. Hinter seinem ruhigen Auftreten trägt er ein dunkles Geheimnis: Martin ist medikamentenabhängig. Er kämpft gegen seine Sucht, doch er kommt nicht davon los.

Seit neun Jahren arbeitet Martin als Anästhesist. Vor einem Jahr wechselte der junge Mediziner den Arbeitsplatz. Er hoffte auf bessere Arbeitsbedingungen. Doch die Realität sieht anders aus. Die Versprechungen erwiesen sich als Illusion. Gnadenloser Druck und endlose Arbeitstage ohne Pause prägen seinen Alltag. „Irgendwann war ich am Ende“, gesteht Martin. Doch er hielt an seinem Job fest, getrieben von finanziellen Verpflichtungen. Der permanente Stress und die Überlastung führten ihn schließlich in die Abhängigkeit.

Zunächst schienen die Pillen ihm die ersehnte Entspannung zu bringen. Doch bald erkannte Martin, dass er sich auf einem gefährlichen Weg befand. „Ich griff sogar während der Arbeit zu den Pillen, wenn der Druck zu groß wurde“, gesteht der Mediziner. Die Sucht wurde zu einem ständigen Begleiter, den er vor seiner Familie und seinen Kollegen verbirgt, aus Angst vor den Konsequenzen. Deshalb will er auch anonym bleiben. „Meine Kollegen wissen oder ahnen, dass etwas nicht stimmt“, erzählt Martin. Doch sie sagen nichts, aus Angst seine Approbation zu gefährden oder sogar die eigene Karriere.

Jetzt steht der junge Arzt an einem Wendepunkt seines Lebens. Er bricht im Gespräch erstmals das Schweigen über seine Sucht. Mit Fremden darüber zu reden, fällt ihm leichter, wie er sagt. Er weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Ihm ist bewusst, dass er professionelle Hilfe braucht. Doch die Scham, sich jemanden anzuvertrauen, ist groß. Gerne würde er mit Kollegen über sein Suchtproblem sprechen. Doch er hat Angst vor den möglichen Konsequenzen. Wenn auch das Arbeitsklima mit den Kollegen ein sehr gutes ist, weiß Martin nicht, wie sie reagieren würden. Das so wichtige Vertrauen ist nicht gegeben. „Ich liebe meinen Job und bin gut darin. Ich möchte ihn keinesfalls verlieren“, sagt Martin. „Ich habe einen Hauskredit abzubezahlen. Ich kann nicht sagen: Okay, dann gehe ich eben.“

Der junge Anästhesist ist mit seinem Problem nicht allein. Er kennt andere Ärzte, die ebenfalls mit Suchtproblemen kämpfen. Ein Kollege in seinem nahen Umfeld ist seit Langem alkoholabhängig.

Selbstverleugnung, Selbstzerstörung, emotionale Leere

„Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können“, steht im Ärztlichen Gelöbnis der Deklaration von Genf. Doch sind Ärzte tatsächlich so „unverwundbar“, wie es der gesellschaftliche Status des Berufsstandes impliziert? Studien belegen Gegenteiliges. Kaum eine Berufsgruppe ist so suchtgefährdet wie die der Mediziner. „Ärzte sind weitaus stärker von Suchtkrankheiten betroffen als der Rest der Bevölkerung“, bestätigt Dr. Andreas Jähne, Direktor der Oberbergklinik Rhein-Jura, die sich auf die Behandlung suchtkranker Mediziner spezialisiert hat. Es gibt zwei Hauptgründe: Ärzte befinden sich häufig in Ausnahmesituationen, müssen Entscheidungen über Leben und Tod treffen. Zu ihnen kommen Menschen mit schweren Erkrankungen, das kann sehr an die Substanz gehen. Zum anderen kommen Ärzte wesentlich leichter an Medikamente und Substanzen heran.

Suchtmittel Nummer eins bei Ärzten ist wie in der Allgemeinbevölkerung Alkohol. Genaue Zahlen und Statistiken gibt es allerdings nicht. Weder für Deutschland noch für Österreich. Suchtexperte Prof. Michael Musalek geht davon aus, dass schätzungsweise fünf Prozent der Ärzte in Österreich alkoholkrank sind.

Um herunterzukommen, Spannungs- und Angstzustände abzubauen oder um sich aufzuputschen und weiter leistungsfähig zu sein, greifen Mediziner auch zu anderen potenziell süchtig machenden Substanzen, von denen die meisten für sie auch leicht zugänglich sind – wie Sedativa und Amphetamine, manche zu Opiaten. Auch nicht stoffgebundene Süchte wie die Spielsucht sind bei Ärzten auf dem Vormarsch.

Das Problem der Sucht unter Ärzten ist nach wie vor ein Tabuthema. Es bleibt im Verborgenen und wird verheimlicht. Für Mediziner steht zu viel auf dem Spiel. Zu groß ist die Angst, die Approbation zu verlieren. Und: Ärzte haben mehr Mühe, sich Krankheiten einzugestehen - gerade gesellschaftlich stigmatisierte wie die Sucht. „Das liegt auch am Arztbild vom unverwüstlichen Helfer“, sagt Jähne. Es existiert das Traumbild vom unverwundbaren Wunderdoktor. Sie kämpfen im Stillen gegen ihre Dämonen, therapieren sich selbst, oft mit fatalen Folgen. Professionelle Hilfe wird, wenn überhaupt, erst sehr spät in Anspruch genommen. Wenn der Führerschein weg ist, Patienten sich beklagen, schwerwiegende Fehler passieren.

Bruch mit dem Tabu

In Österreich gibt es kaum spezielle Therapieangebote oder Ansprechpartner für suchtkranke Ärzte. Es fehlen passende Einrichtungen, die von der Ärztekammer gefördert werden, sagt Musalek. Nur wenige Mediziner vertrauen sich freiwillig einem Fachkollegen an. „Hier müssen endlich notwendige Schritte gesetzt werden“, betont Musalek. „Es bedarf Einrichtungen, in denen suchtkranke Ärzte anonym behandelt werden können. Die größte Hürde für Martin P. ist die Angst, seine Sucht öffentlich einzugestehen. Indem er anonym darüber spricht, setzt er einen ersten Schritt. Er möchte Kollegen helfen und ihnen vermitteln: Schaut, ihr seid nicht allein. „Es ist entscheidend, dass Mitarbeiter in Not rechtzeitig Unterstützung erhalten“, sagt Martin. Er plädiert für ein Umfeld, in dem das Stigma der Suchterkrankungen gebrochen wird und Betroffene sich ohne Angst vor beruflichen Konsequenzen öffnen können.

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Metadaten
Titel
Die Beichte eines Anästhesisten
Schlagwörter
Alkohol
Suchterkrankungen
Publikationsdatum
06.03.2024

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