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05.03.2024 | Alkohol

„Frauen trinken mehr, das gilt eventuell auch für Ärztinnen“

verfasst von: Mit Michael Musalek hat Patrizia Steurer gesprochen

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Überarbeitet, gestresst, ausgebrannt. Zahlreiche Ärzte versuchen mittels Alkohol und Pillen zu entspannen und werden süchtig. Prof. Michael Musalek kennt viele solche Schicksale. Die Ärzte Woche traf den erfahrenen Suchtexperten zum Gespräch.

Ärzte Woche: Wie schätzen Sie das Thema suchtkranker Ärzte in Österreich ein?

Michael Musalek: Das Thema der Suchtproblematik bei Ärzten ist ein ernstes und weitverbreitetes Problem in Österreich. Doch es wird kaum diskutiert und thematisiert. Obwohl Suchterkrankungen häufig sind und alle Schichten betreffen, gelten Patienten immer noch als Randgruppe und werden ausgegrenzt. Betroffene erfahren eine deutlich stärkere Stigmatisierung als Patienten mit anderen psychischen Erkrankungen. Bei suchtkranken Ärzten ist das Stigma noch größer. Besonders in Berufen mit hohem psychischem Druck, wie dem Arztberuf, können Zeitdruck und Verantwortung zu einer erhöhten Anfälligkeit für Suchterkrankungen führen.

Ärzte Woche: Und warum ist das Stigma bei Ärzten größer?

Musalek: Die Tabuisierung der Suchtkrankheit unter Ärzten hat zwei Hauptursachen. Erstens fällt es den Ärzten selbst schwer anzuerkennen, dass sie süchtig werden können. Sie denken oft, dass es andere betrifft, nicht sie selbst. Zweitens verstärken massive Probleme am Arbeitsplatz die Tabuisierung. Zudem herrscht immer noch die Meinung vor, dass es sich dabei nicht um eine Krankheit handelt. Das klassische Stereotyp ist, dass der alkoholkranke Mediziner selbst schuld ist an seiner Erkrankung. Ein weiteres Problem ist oft die Bekanntheit der Betroffenen, ähnlich wie bei Politikern. Viele Ärzte haben Angst, entdeckt zu werden und ihren Job zu verlieren. Oft suchen sie erst Hilfe, wenn bereits alles verloren ist.

Ärzte Woche: Gibt es mittlerweile Erhebungen, wie viele Ärzte in Österreich suchtkrank sind?

Musalek: Nein, für Österreich gibt es nach wie vor keine konkreten Zahlen und Statistiken. Der Grund: Das Problem bleibt oft im Verborgenen und wird verheimlicht. Zu groß ist die Gefahr, ertappt zu werden und den Job zu verlieren. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Anzahl der suchtkranken Ärzte höher ist als in der Allgemeinbevölkerung. Schätzungsweise sind etwa 5 Prozent der Ärzte in Österreich alkoholabhängig. Genauere Zahlen zur Medikamentenabhängigkeit gibt es weder für Ärzte noch für die Allgemeinbevölkerung. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Anzahl der medikamentenabhängigen Ärzte höher ist, da der Zugang zu Medikamenten einfacher ist. Je leichter ein Suchtmittel verfügbar ist, desto mehr wird es konsumiert und desto höher ist die Anzahl der problematischen Konsumenten und Abhängigen. In Deutschland wird geschätzt, dass 2,5 bis 3,5 Millionen Menschen medikamentenabhängig sind. Übertragen auf Österreich wären das etwa 250.000 bis 300.000 Suchtkranke. Dabei stellt sich auch die Frage, ob Schmerzmittel als Suchtmittel betrachtet werden sollten. Einige Menschen nehmen Schmerzmittel nicht zur Schmerzbekämpfung ein, sondern wegen ihrer psychoaktiven Wirkung. Ein bekanntes Beispiel ist Tramal, das zur Schmerzbehandlung eingesetzt wird, aber auch eine psychotrope Wirkung hat.

Ärzte Woche: Welche Suchtmittel konsumieren Ärzte am häufigsten?

Musalek: Ärzte greifen am häufigsten zu Alkohol. Sie haben leicht Zugang zu Medikamenten, die zum Beispiel Benzodiazepine oder Opiate enthalten. In den letzten Jahren ist der Kokainkonsum unter Ärzten stark angestiegen. Je nachdem, ob sie sich beruhigen oder aufputschen wollen.

Ärzte Woche: Zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede?

Musalek: Die Anzahl alkoholkranker Männer in der Bevölkerung ist in den letzten 50 Jahren relativ stabil geblieben und sogar leicht zurückgegangen. Im Gegensatz dazu steigt die Zahl alkoholkranker Frauen rapide an. Das liegt daran, dass Frauen heute leichter Zugang zu Alkohol haben und ein Rausch bei Frauen gesellschaftlich akzeptierter ist als vor dreißig Jahren. Der Konsum von zwei oder drei Gläsern nach der Arbeit ist mittlerweile nichts Außergewöhnliches mehr. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies auch bei Ärztinnen der Fall ist. Frauen stehen oft vor der Herausforderung der Doppelbelastung. Eine Frau, die im Krankenhaus Nachtdienst hat, eine Familie zu versorgen hat und möglicherweise auch noch einen kranken Elternteil betreuen muss, steht unter enormem Druck. Die Belastung ist immens und die Versuchung, den Alltag mit Drogen zu bewältigen, steigt enorm an. Es ist anzunehmen, dass die Zahlen nicht nur für die Allgemeinbevölkerung gelten, sondern bei Ärztinnen sogar noch höher sind.

Ärzte Woche: Was führt Ärzte in die Abhängigkeit und macht sie süchtig, abgesehen von der Verfügbarkeit?

Musalek: Es gibt verschiedene Faktoren, die zusammenwirken. Eine Suchterkrankung entsteht nie isoliert. Der immense Druck, dem Ärzte ausgesetzt sind, spielt eine entscheidende Rolle. Kein anderer Beruf ist mit einem vergleichbaren Druck verbunden, da es nicht selten um Leben und Tod geht. Zudem gibt es unter den Ärzten immer noch viele Idealisten, die hohe ethische und moralische Ansprüche an sich selbst stellen, denen sie nicht immer gerecht werden können und daran scheitern. Hinzu kommt die zunehmende Belastung. Die umfassende Dokumentation, die zur Absicherung erforderlich ist, nimmt immer mehr Zeit in Anspruch. Gleichzeitig sind Suchtmittel leicht verfügbar. Ein schneller Griff zu einem Glas Wein zur Entspannung kann dazu führen, dass man regelmäßig trinkt. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir nicht vorhersagen können, wann jemand abhängig wird. Es ist ein schleichender Prozess. Wenn man regelmäßig konsumiert, kaum alkoholfreie Tage hat und trinkt, um eine Wirkung zu erzielen, gehört man zu den problematischen Konsumenten. In diesem Fall kann es leicht passieren, dass man in die Sucht abrutscht. Kommen noch Probleme mit dem Partner oder eine Krankheit hinzu, kann man die Sucht nicht mehr kontrollieren.

Ärzte Woche: Was können Ärzte tun, damit es gar nicht so weit kommt?

Musalek: Ein zentraler Aspekt, der mich in der Ausbildung von Ärzten stark beunruhigt, ist die Auseinandersetzung mit den Belastungen und Risiken des Berufs sowie die Entwicklung von Bewältigungsstrategien. Der psychische Druck im Arztberuf ist enorm, aber es gibt Möglichkeiten, damit umzugehen. Man kann lernen, sich selbst zu pflegen und zu regenerieren, indem man bewusst Auszeiten nimmt und weiß, wie man diese sinnvoll gestaltet.  Es existiert umfangreiches Fachwissen zum Thema, das Ärzten in der Ausbildung jedoch nicht ausreichend vermittelt wird. Eine wichtige Maßnahme zur Vorbeugung besteht darin, den Umgang mit unserem Beruf frühzeitig bewältigen zu lernen.

Ärzte Woche: Welche Anzeichen deuten auf eine Suchterkrankung hin?

Musalek: Ein deutliches Anzeichen ist der Verlust der Kontrolle. Zum Beispiel beim Alkohol: Wenn man keinen einzigen Tag mehr ohne Alkohol auskommt, sollte man aufmerksam werden. Wenn man sich vornimmt, nichts zu trinken, es aber immer wieder nicht schafft, deutet das auf ein Problem hin. Bei regelmäßigem Konsum von Beruhigungsmitteln besteht nach 2 bis 3 Monaten die Gefahr, zu den Hochrisikopersonen zu gehören. Bei Opiaten und Kokain stellt bereits der tägliche Konsum eine Gefahr dar.

Ärzte Woche: Was sollen Mitarbeiter tun, wenn sie merken, dass ein Kollege Suchtmittel konsumiert?

Musalek: Vor allem hinschauen und nicht wegschauen. Vermitteln Sie den Betroffenen das Gefühl, dass sie Ihnen vertrauen können. Wir sprechen nur offen darüber, wenn wir jemandem sehr vertrauen und sicher sind, dass es nicht gegen uns verwendet wird. Denn das kann ernsthafte Konsequenzen haben.

Ärzte Woche: Wie hoch ist das Risiko, die Approbation zu verlieren?

Musalek: Öffentliches Bekanntwerden eines Problems führt nicht automatisch zum Verlust der Approbation. Allerdings beeinflusst es natürlich den Beruf. Der Entzug der Approbation hängt nicht von der Suchterkrankung an sich ab, sondern von den Handlungen im Zusammenhang damit. Wenn Handlungen durchgeführt werden, die Patienten gefährden, kann dies zum Entzug der Approbation führen.

Ärzte Woche: Was muss getan werden, um die Situation für Ärzte zu verbessern?

Musalek: Die Schwelle, sich so früh wie möglich behandeln zu lassen, ist sehr hoch. Ein wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang „Anonymität“. Leider fehlt es in Österreich an Einrichtungen, die sich auf die Behandlung suchtkranker Ärzte spezialisiert haben. Das Projekt in Niederösterreich „Arzt und Sucht“ ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, aber nur ein kleiner Beitrag zur Lösung des Problems. Es wäre toll, wenn es auch in Österreich Einrichtungen gäbe, wo nicht gleich klar wäre, warum man in Behandlung geht. Ein gutes Modell gibt es in Südtirol in Bad Bachgart und in Norwegen mit der „Villa Sana“. Das sind auf Ärzte spezialisierte Suchtkliniken, die gleichzeitig auch Burnout-Kliniken sind. Eine interne Liste mit spezialisierten Ärzten, an welche man sich wenden kann, wäre ebenfalls sinnvoll. Wichtig ist, dass Ärzte zugeben, wenn sie etwas nicht schaffen, und Hilfe suchen. Hilfe anzunehmen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.

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Metadaten
Titel
„Frauen trinken mehr, das gilt eventuell auch für Ärztinnen“
Publikationsdatum
05.03.2024

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