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Ärzte Woche

20.03.2022 | Gesundheitspolitik

 Achtung! Grün gestrichen!

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Die Kohlendioxidemissionen müssen deutlich reduziert werden. Die EU-Kommission will daher nun die Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke als grüne Investitionen gelten lassen und fördern. Eine umstrittene Idee.

Elf Jahre ist die Reaktorkatastrophe von Fukushima her, zu einer Abkehr von Atomenergie kam es nicht. 2022 begann für die Anti-Atombewegung zudem mit einer Hiobsbotschaft. Die neue Nachhaltigkeitstaxonomie der EU-Kommission stuft Atomenergie aufgrund ihres geringen CO₂-Ausstoßes als grüne Investition ein.

Dagegen formiert sich in Österreich zwar Widerstand, vom Bundespräsidenten abwärts. Allerdings sind das große EU-Land Frankreich mit seinen 56 Atommeilern wie auch das relativ kleine Mitgliedsland Finnland dafür. Für Prof. Dr. Anja Kern, Stiftungsprofessorin für Handel und Führung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, ist dieses Vorgehen Zeitverschwendung. Damit werde dem Klimawandel nicht entgegengesteuert.

Akut notwendig, so Kern, seien praktikable und globale Lösungen, um den CO₂-Ausstoß schnellstmöglich zu senken, beispielsweise eine CO₂-Steuer auf Produkte: „Anstatt über Klassifizierungskriterien der Taxonomie zu streiten, sollte die EU an einer Strategie arbeiten, die zielführend ist, die CO₂-Emissionen tatsächlich zu senken. Außerdem gilt die Taxonomie nur in Europa, und hat aufgrund ihrer Komplexität wenig Aussicht darauf, global umgesetzt zu werden. Wir brauchen aber globale Lösungen, um das Klima zu retten. Das dringendste Problem ist der CO₂-Ausstoß. Wir brauchen einen weltweit standardisierten CO₂-Bericht, damit Unternehmen ihren CO2-Ausstoß erfassen.“

Andere Länder wollen Erdgas als grün qualifizieren, doch auch für diese Gruppe gibt es schlechte Nachrichten. 36 Prozent des europäischen Gasbedarfs werden von Russland gedeckt. Eine Studie des Kreditversicherers Acredia geht davon aus, dass rund 10 Prozent des gesamten Energiebedarfs in Europa bei einem Wegfall der Russlandimporte gefährdet wären, in Österreich wären es sogar 19 Prozent.

Martin Krenek-Burger

Anteil fossiler Energieimporte gestiegen

„In den vergangenen Jahren hat eine Reihe von Ländern erklärt, dass sie aus der Kohlekraft aussteigen und Strom ohne fossile Brennstoffe erzeugen wollen. Europa ist aber weiterhin auf die Einfuhr von Öl, Kohle und Gas angewiesen, weil es ohne diesen Import ihren Energiebedarf nicht decken kann. Großbritannien hat beispielsweise den Ausstieg aus dem Kohlestrom erklärt, importiert aber weiterhin erhebliche Mengen an Kohle zur Herstellung von Stahl und Zement.

In den vergangenen 40 Jahre ist der Anteil inländischer fossiler Energieproduktion am Gesamtenergieverbrauch gesunken, gleichzeitig ist der Anteil der fossilen Energieimporte am Gesamtenergieverbrauch gestiegen. Das geht auf die Zunahme von Importen an Erdgas und Ölprodukten zurück. Rein deskriptiv kann man feststellen, dass der Anteil der fossilen inländischen Energieproduktion am Energiekonsum von etwa 55 auf 29 Prozent gesunken ist, während der Anteil fossiler Energieimporte am Energiekonsum von 30 auf 74 Prozent gestiegen ist. ( Anm.: Zahlen beziehen sich auf den Durchschnitt der europäischen Länder 1978 bis 2017 ).

Bei einem Rückgang des Anteils der inländischen fossilen Energieproduktion am Gesamtenergieverbrauch um 1 Prozent, steigt der Anteil fossiler Energieimporte am Gesamtenergieverbrauch um 8 Prozent. Dementsprechend stellen einige Länder die eigene Stromerzeugung auf erneuerbare Ressourcen um, benötigen aber für die Deckung der inländischen Energienachfrage, welche mehr als nur den Strom beinhaltet, weiterhin aus fossilen Quellen stammende Energie aus dem Ausland.“

Prof. Dr. Doina Radulescu, Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern

Mit dieser Taxonomie lenkt man Gelder zur Atomkraft

„Ich bin sehr enttäuscht, dass nun Gelder in Kernenergie und fossile Projekte fließen sollen und damit der Ausbau der erneuerbaren Energieprojekte verzögert wird. Mit dem – unzutreffenden – Vorwand der Treibhausgas-Neutralität, wird von der Atomwirtschaft erneut versucht, eine Art Renaissance für diese gefährliche und teure Technik zu erzielen. Mit der Taxonomie-Verordnung will die Kommission die Anerkennung von Kernenergie und Erdgas mit einer vorerst zeitlichen Begrenzung als grünes Investment und als förderwürdig anerkennen. In der Folge wären Investitionen in AKW jenen in erneuerbare Energieträger formal gleichgestellt. Klar ist, dass es der Kernenergielobby gerade um dieses grüne Mäntelchen geht. Mit dieser Taxonomie werden Gelder in Richtung Atomkraft gelenkt, die sonst erneuerbaren Energien zur Verfügung stünden. Wir brauchen aber alle verfügbaren Mittel für Erneuerbare und kein Greenwashing von Retro-Technologien.

Die Aufnahme in die Taxonomie beruht wesentlich auf der Initiative Frankreichs. Der Vorsatz, dort den Anteil der Atomenergie an der Stromaufbringung bis 2050 von derzeit 75 auf dann 50 Prozent zu reduzieren, wurde offenbar ad acta gelegt. Neben der Errichtung neuer Reaktoren, wie etwa dem seit 2007 in Bau befindlichen Reaktor am Standort Flamanville, tritt Präsident Emmanuel Macron für den Bau sogenannter Small Modular Reactors (SMRs) ein. Das sind kleinere Reaktoren, die den durch die geringe Größe entstehenden Kostennachteil gegenüber Kernkraftwerken durch Serienproduktion, Standardisierung und Vereinfachung, Modularisierung und kürzere Bauzeit kompensieren sollen. Die meisten dieser SMR existieren nur als Konzepte auf dem Papier. Lediglich in Russland sind zwei solcher Reaktoren in Betrieb. Die angestrebten Wettbewerbsvorteile – Serienproduktion, Modularisierung, Vereinfachung und Standardisierung, kürze Bauzeiten, geringere Investitionskosten – sind aktuell daher nicht nachzuweisen und nicht seriös zu quantifizieren.

Fazit: Neben großen sicherheitstechnischen Bedenken bleibt auch bei den SMR der wirtschaftliche Nachteil der Kernenergie aufrecht. Derzeit liegt der finanzielle Gesamtaufwand für Atomenergie etwa beim Dreifachen von Fotovoltaik und Windkraft. Umso wichtiger ist es, dass die Mittel daher sinnvoll anders für wirklich klimaschutzrelevante Technologien verwendet werden.“

Jürgen Czernohorszky, Klimastadtrat Wien (SPÖ)

Brauchen globale Lösungen, um das Klima zu retten

„Die EU-Taxonomie teilt Unternehmen nicht streng in grüne und braune ein, sondern klassifiziert sämtliche Wirtschaftsaktivitäten innerhalb eines Unternehmens in grüne und braune Aktivitäten. So sollen Unternehmen die Chance bekommen, sich zu wandeln und nachhaltiger zu werden. Der Gedanke funktioniert in der Theorie, die Umsetzung jedoch sehe ich sehr problematisch. Begründung: Es handelt sich um einen Berichtstandard. Dieser zielt darauf ab, sämtliche Unternehmensaktivitäten über Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und Investitionen in grün und braun zu klassifizieren und dann zu kommunizieren. Das bedeutet einen erheblichen Aufwand für die Unternehmen. Es fehlen oft Kapazitäten und Kompetenzen. Unternehmen müssen daher externe Beraterfirmen beauftragen, die ihnen bei der Bewältigung dieser Aufgabe helfen. Die werden sich über die vielen Aufträge freuen. Viele Kriterien sind nicht praktikabel, weil die Informationen nicht vorliegen. Dies wird dazu führen, dass die Taxonomie unterschiedlich umgesetzt wird und die Vergleichbarkeit der Unternehmen leidet. Innerhalb der EU wird es zu Problemen kommen.

Auch gibt es grundsätzliche Diskussionen. Ist Atomkraft grün oder nicht? Länder wie Frankreich oder Finnland befürworten das, weil dadurch weniger CO₂ ausgestoßen wird. Andere wollen im Gegenzug Erdgas als grün klassifizieren. Diese Diskussionen tragen nicht dazu bei, die CO₂-Emissionen zu reduzieren. Anstatt über Klassifizierungskriterien der Taxonomie zu streiten, sollte die EU an einer Strategie arbeiten, die zielführend ist, die CO₂-Emissionen tatsächlich zu senken. Außerdem gilt die Taxonomie nur in Europa und hat aufgrund ihrer Komplexität wenig Aussicht darauf, global umgesetzt zu werden. Wir brauchen aber globale Lösungen, um das Klima zu retten.

Das dringendste Problem ist der CO₂-Ausstoß. Wir brauchen einen weltweit standardisierten CO₂-Bericht, damit Unternehmen ihren CO₂-Ausstoß erfassen. Unternehmen sind globale Akteure. Wenn sich die großen Player, also eine kritische Masse von Unternehmen, zusammenschließen und einen CO₂-Berichtsstandard und einen globalen CO₂-Preis fordern, könnte dies den Weg zu einer globalen Lösung erleichtern und Regierungen dazu bewegen, dieser Lösung zuzustimmen.“

Prof. Dr. Anja Kern, Leiterin des Studiengangs Internationaler Handel, Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW);Teil eines Interviews mit dem Magazin „6.0. Wir zeigen Zukunft“ (Dezember 2021).

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Metadaten
Titel
 Achtung! Grün gestrichen!
Schlagwort
Gesundheitspolitik
Publikationsdatum
20.03.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 12/2022

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