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22.04.2024

Danke, lieber Borkenkäfer!

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Insekten sind ein Erfolgsmodell der Evolution, man geht von 5 Millionen Arten aus. Sie besiedeln Regenwälder, Gletscher, Wüsten und Großstädte. Dennoch wissen wir noch immer viel zu wenig über sie.

Der Ohrenschlürfer, der unter dem Kasten hervorkroch und meiner Frau einen Schreckensschrei entlockte – mit der stillschweigenden Aufforderung, das Untier zu töten –, ist eine der wenigen Begegnungen zwischen Mensch und Insekt, die wir bewusst registrieren.

Eine weitere Begegnung stellt der Anblick von Borkenkäfern in Wäldern dar, genauer gesagt ihre Hinterlassenschaften. Es war ein wagemutiger Schritt der Verwaltung des Nationalparks Bayerischer Wald, der Natur freien Lauf zu lassen. Unter dem großen Begriff des „Prozessnaturschutzes“ liegt die Annahme, dass sich Ökosysteme selbst regulieren können. Und genau das geschah: Im Kerngebiet übernahm der Buchdrucker (Ips typographicus) die Kontrolle und hinterließ ausgedehnte Flächen mit Totholz. Ein Schock für viele Wanderer, aber eine Wohltat für die Biodiversität. So entstand eine von Licht durchflutete, sonnenbeschienene Fläche mit einer Habitatvielfalt, die in Mitteleuropa ihresgleichen sucht. Insbesondere Arten auf der Roten Liste profitierten davon, darunter viele holzbewohnende Käfer, Hautflügler und Spinnen, aber auch Moose, Flechten sowie seltene Vögel wie das Auerhuhn oder der Dreizehenspecht. Das von der Insektenforscherin und Autorin Dr. Dominique Zimmermann beschriebene Beispiel lässt erahnen, welchen Schaden der Mensch in der Natur anrichtet und wie trostlos und leer unsere Welt ohne Naturschutz bereits wäre.

Die Geschichte der Insekten reicht mehr als 400 Millionen Jahre zurück. Einige ihrer ältesten Vertreter wie das noch flügellose Silberfischchen existieren seit 30 Millionen Jahren, was sie älter als die Dinosaurier macht. Ihre nächsten Verwandten innerhalb der Gliederfüßer sind Gegenstand von Diskussionen. Lange Zeit galten die Hundert- und Tausendfüßer als die wahrscheinlichsten Kandidaten, doch heute stehen Krebstiere an erster Stelle, insbesondere die sogenannten „Remipedia“ – farb- und augenlose Krebse von 1 bis 5 cm Größe, die räuberisch in Höhlen mit Meereszugang leben. Aufgrund ihrer verborgenen Lebensweise wurden sie erst in den 1980er-Jahren entdeckt.

Zimmermann vermag es, für ihr Fachgebiet zu begeistern. Sie erklärt, warum es sinnvoll ist, Laden in Museen mit aufgespießten Insekten zu bestücken, warum die korrekte Bestimmung nah- und nächstverwandter Wildbienen für viele Naturschutzprojekte unerlässlich ist und wie die schier unübersehbare Menge an noch unentdeckten Insektenarten quantifiziert werden kann. Das Buch kommt ohne Farbfotos aus, was eine kluge Entscheidung ist; die Zeichnungen sind ästhetisch ansprechend. Dieses Werk ist kein populärwissenschaftliches Bestimmungsbuch, sondern erinnert eher an die beliebte Berliner „Naturkunden“-Reihe von Judith Schalansky.

Zimmermanns Empathie erstreckt sich auch auf Menschen. Dies wird zwischen den Zeilen spürbar, wenn sie von einer Besucherin berichtet, die ihr während einer „Langen Nacht der Museen“ eine Frage gestellt hat: „Kann sich ein Schmetterling an seine Zeit als Puppe erinnern?“ Zimmermann: Die Frage faszinierte mich. Sie gleicht fast einem buddhistischen Koan, einer Frage, auf die es keine Antwort gibt und die allein der Erleuchtung dient. Sie verdeutlicht, wie wenig wir über die Welt wissen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Das Gehirn der Larven erinnert sich tatsächlich an die Futterpflanze, und diese Erinnerung überdauert das Puppenstadium. Dies ist sinnvoll, denn die Futterpflanze – denken Sie nur an die Osterluzei für den Osterluzeifalter – ernährt das Tier als Larve, weshalb diese Art auch vom erwachsenen Tier zur Eiablage bevorzugt wird. Diese Eigenart kann innerhalb einer Insektenpopulation zu Abweichungen führen und letztlich zur Bildung einer neuen Art. Wir Menschen können diese Beziehungen fördern, oder wir können zerstören, was uns ästhetisch nicht zusagt. Die Wahl liegt bei uns. Den Insekten bleibt diese Wahl verwehrt.

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Metadaten
Titel
Danke, lieber Borkenkäfer!
Publikationsdatum
22.04.2024

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