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10.05.2024 | Allgemeinmedizin

Hartes Pflaster

verfasst von: Julia Palmai

Obdachlose Menschen sind zahlreichen gesundheitlichen Risikofaktoren ausgesetzt. Diese besondere Randgruppe, die Angebote und Einrichtungen oft nicht in Anspruch nehmen können, werden von freiwilligen Ärztinnen und Ärzten aufgesucht, behandelt und betreut. Vertiefende Einblicke in die Praxis und das Spezialgebiet Straßenmedizin erhalten Sie bei den Ärztetagen in Grado.

Mit Bauchschmerzen den Hausarzt aufsuchen, einen verstauchten Knöchel in der Ambulanz röntgenisieren lassen und das Rezept einfach und unbürokratisch in der nächsten Apotheke einlösen: für den Großteil der Bevölkerung ein ganz alltäglicher Ablauf. Hat Österreich doch ein Gesundheitssystem, um das uns viele Länder dieser Welt beneiden. Doch was tun, wenn der Gang zum Arzt zur Unmöglichkeit wird?

Wer kein Dach über dem Kopf hat, für eine warme Mahlzeit vor Suppenküchen anstehen muss und Nacht für Nacht einen Spießrutenlauf für einen trockenen Schlafplatz absolviert, für den ist eine adäquate medizinische Versorgung bei Schmerzen, Verletzungen oder Erkrankungen um ein Vielfaches schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich. Dabei ist eine bestmögliche medizinische Versorgung ein Anspruch, bei dem weder der Versicherungsstatus noch die Wohnsituation ausschlaggebend sein sollten.

Wohnungslosigkeit macht vor niemandem halt. Jeder könnte eines Tages in eine soziale Notsituation geraten. Ist doch unsere Welt – Pandemie, Krieg, Energie- und Inflationskrise – scheinbar mehr denn je aus den Fugen geraten. Und tatsächlich handelt es sich bei den Betroffenen um eine sehr heterogene Gruppe: „Junge Erwachsene, Männer und Frauen im mittleren Alter, aber auch ältere Menschen – sie kommen aus allen Lebensbereichen, sind ebenso gut ausgebildete Fachleute, die aus unterschiedlichsten Gründen ihren Arbeitsplatz verloren haben, als auch Drifter und Migranten auf der Suche nach Arbeit“, sagt Susanne Peter, seit mehr als dreißig Jahren Sozialarbeiterin und Mitbegründerin der Gruft in Wien. „Sie alle haben gemeinsam, dass sie keinen Ort haben, den sie ihr Zuhause nennen können. Alle sind auf die Unterstützung anderer angewiesen, um zu überleben“, sagt Peter.

Obdachlosigkeit in Zahlen

Laut Statistik Austria waren im Jahr 2022 rund 20.000 Personen obdach- oder wohnungslos gemeldet. Mehr als die Hälfte davon in Wien. Geschätzt mehr als 200 dieser Menschen gehören zu einer besonderen Gruppe, die vorhandene Einrichtungen oder Angebote der Stadt Wien aus unterschiedlichen Gründen nicht in Anspruch nehmen kann. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Die prekäre Art des Wohnens stellt allein schon ein nicht unerhebliches Gefahrenpotenzial für Betroffene dar. Was den Zugang zu medizinischer Versorgung betrifft, haben Obdachlose oft Schwierigkeiten, wodurch viele gesundheitliche Probleme länger unerkannt und unbehandelt bleiben.

Überhaupt ist die medizinische Versorgung für Personen aus sozialen Randgruppen, die noch dazu häufig keinen aufrechten Versicherungsstatus haben, mit großen Hürden verbunden. Selbst Krankheiten oder Zustände, die in der Allgemeinbevölkerung ähnlich häufig auftreten, haben bei Obdachlosen oft einen schlechteren Ausgang. Denn: „Alleine die Tatsache, obdachlos zu sein, limitiert die Lebenserwartung“, bestätigt Peter. Aufgrund der problematischen Lebensumstände leiden obdachlose Personen zudem vermehrt unter chronischen Erkrankungen. Doch wohin können sich Kranke wenden? Bei Unfällen oder Notfällen sollte unabhängig vom aufrechten Versicherungsstatus die Rettung gerufen oder eine Notfallambulanz aufgesucht werden. Gegebenenfalls greift in speziellen Situationen die sogenannte „Unabweisbarkeits-Regelung“. Nicht-Versicherte bekommen allerdings nach der Betreuung eine Rechnung ausgestellt. Dies dürfte viele Personen davon abhalten, adäquate Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Kein „typischer“ Patient

„Trifft man obdachlose Menschen in ihrer Umgebung oder in einer Klinik an, muss man sich darüber im Klaren sein, dass diese eine andere Herangehensweise benötigen als der typische Patient im niedergelassenen Bereich. Überproportional viele Obdachlose leiden an psychischen (Vor-) Erkrankungen, nicht wenige haben in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Gesundheitsdienstleistern gemacht – selbst wenn sie krankenversichert waren. Wir reden hier von Menschen am Rande der Gesellschaft, die ohnehin von Hunger, Wohnungslosigkeit, Hitze, Kälte, Existenzängsten oder Depressionen betroffen sind“, schildert Monika Stark aus ihrer jahrzehntelangen Erfahrung als Straßenmedizinerin.

Es sei demnach auch nicht weiter verwunderlich, dass medizinische Hilfe oft erst sehr spät, bei lange vorbestehenden chronischen Erkrankungen und großem Leidensdruck oder lebensbedrohlichen Notfällen aufgesucht wird, ist die Allgemeinmedizinerin und ärztliche Leiterin des „Louisebus“ überzeugt. Auch Scham wegen Verwahrlosung, Gestank und sozialer Absturz spielen dabei eine erhebliche Rolle.

Leistung von Med4Hope

Obwohl es in Wien – abgesehen von Notfall-Ambulanzen – unterschiedliche Organisationen gibt, die auch nicht versicherten Patientinnen und Patienten medizinische Versorgung ermöglichen, sind viele obdachlose Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage, eine solche Einrichtung von sich aus aufzusuchen. So entstand im Jahr 2019 im Zuge einer Vernetzungsreise in die USA die Idee zur Gründung von Med4Hope ( medical aid for homeless people ) als eine unabhängige und gemeinnützige Organisation.

Ein Ziel war es dabei: Straßenmedizin als Spezialgebiet der Medizin zu etablieren, das eine spezielle Ausbildung und Schulungen der darin involvierten niederschwelligen Versorgungsstellen und der Streetworker, aber auch von Krankenhauspersonal und Rettungsorganisationen erfordert (siehe Kasten, S. 7) . „Denn Straßenmedizin ist tagtäglich aufs Neue eine Herausforderung“, betont Stark, Obfrau von Med4Hope. „Neben einer Behandlung, die an die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Betroffenen adaptiert ist, geht es um ein Training in „Beziehungsmedizin“ bei obdachlosen Menschen“.

Med4Hope hat, als Gesellschaft für niederschwellige Medizin, in den vergangenen zwei Jahren neue Akzente und Impulse in der Betreuung obdachloser Menschen gesetzt. „Wir bieten Schulung und Beratung für niederschwellige Medizin und erarbeiten im Rahmen intensiver nationaler und internationaler Vernetzung Guidelines für aktuelle straßenmedizinische Fragestellungen“, umreißt Stark eines der Aufgabengebiete des Vereins. Das gelinge durch ärztliche Fort- und Weiterbildungsangebote, Zertifikatskurse der Ärztekammer in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Allgemeinmedizin Wahlpflichtfach auf der medizinischen Universität Wien im Rahmen der „Akademie für Straßenmedizin“.

Wissenssammlung, Austausch und Vermittlung werde auch in diversen Projektplanungs- und Projektberatungstätigkeiten umgesetzt, ebenso wie Consultings für straßenmedizinische Projekte oder Problemstellungen, vor allem mithilfe von Kooperationen mit in diesem Bereich tätigen NGOs. „Wir sind eine vollkommen unabhängige Organisation, die alle Informationen und Tools, die publiziert werden, kostenlos zur Verfügung stellt und mit vielen anderen Organisationen zusammenarbeitet“, sagt Stark. „Nur indem wir Erfahrungen sammeln, austauschen, festhalten und bündeln, geben wir weiter, was sich bewährt, aber auch was sich nicht bewährt hat“. So wolle man lehren, leichter in Kommunikation mit Menschen zu treten, deren Vertrauen durch ein hartes Leben, viele Zurückweisungen und Scham schwieriger zu gewinnen sei, als man es üblicherweise im medizinischen Alltag in der Arzt-Patienten-Kommunikation gewohnt ist.

Akademie der Straßenmedizin

Durch die Gründung der „Akademie für Straßenmedizin“ will Med4Hope das Fachgebiet leb- und lehrbar machen, damit Empathie und Professionalität zum Standard für alle engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird; weg vom empathischen, aber hilflosen Helfer, hin zur professionellen Wissenschaft und daraus abgeleiteten State-of-the-Art-Guidelines.

Gleichsam besteht aus Sicht der ehrenamtlich tätigen Mediziner die dringliche Notwendigkeit, einen Qualitätsstandard für alle zu etablieren, die in ihrer beruflichen Tätigkeit mit obdachlosen Menschen, nicht Versicherten oder aus anderen Gründen aus dem Sozialsystem herausgefallenen Menschen arbeiten. Dazu zählen Ärzte, Streetworker, Sozialarbeiter, Pflegepersonal, Rettungsdienste, Krankenbeförderungsdienste, Polizisten, Mitarbeiter von Spitalsambulanzen und anderen Stellen des Spitals- und Gesundheitswesens sowie auch jene, die sich in Ausbildung dieser Berufe befinden.

Über die Wiener Ärztekammer und das Zentrum für Allgemeinmedizin werden bereits laufend Ausbildungen und Supervisionsgruppen für erfahrene und interessierte Ärztinnen und Ärzten angeboten (siehe Kasten) . Parallel dazu finden auch Schulungen für Sozialarbeiterinnen/-arbeiter und Streetworkerinnen/-worker statt, da diese Art der niederschwelligen medizinischen Versorgung „nur gemeinsam mit Sozialarbeit optimal funktionieren kann“, sind sich Stark als Medizinerin und Peter als Sozialarbeiterin einig. Doch was bedeutet Straßenmedizin und was muss sie leisten?

Gefährliches Leben

Obdachlosigkeit ist per se gefährlich – vor allem für Frauen. Persönlicher Besitz oder Dokumente werden häufig gestohlen. Gewalt ist auf der Tagesordnung. Oft könne man im öffentlichen Bereich nur sitzend schlafen, da liegend das ständige Risiko bestünde, vertrieben zu werden – vor allem wenn Betroffene psychisch krank sind und sich in der Öffentlichkeit auffällig verhalten. „Wenn sie dann in Kliniken und Krankenhäusern Hilfe suchen, werden sie oft aus Ekel, Überforderung und in Ermangelung von Wissen wie und wohin mit diesen Menschen nicht adäquat behandelt. Sie sind nicht die Art von Patienten, auf die Ärzte und Krankenschwestern normalerweise in ihrer Ausbildung vorbereitet werden. Sie sind anders“, sagt Peter. „Oft sind sie auch nicht in der Lage, die ärztlichen Anweisungen zu befolgen, selbst wenn diese in ihrem Interesse sind. Sie können einfach nicht verstehen, was man von ihnen will“, sagt die Sozialarbeiterin nachdrücklich.

Kognitive Beeinträchtigungen führen aber nicht nur zu Verzögerungen bei der Inanspruchnahme medizinischer Versorgung, sondern häufig sogar auch zur Nichteinhaltung der Behandlung. Darüber hinaus ist Obdachlosigkeit an sich schon ein stressiger Lebensstil. Weshalb Obdachlose im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine höhere Rate an schweren Erkrankungen aufweisen.

Obdachlosigkeit führt per se zu vorzeitiger biologischer Alterung, wobei Personen in ihren Vierzigern und Fünfzigern Gesundheitsprobleme entwickeln, die normalerweise bei viel älteren Personen auftreten. Außerdem weisen Obdachlose eine statistisch signifikant höhere Mortalitätsrate aufgrund der exponierten Risikofaktoren auf. Die Wahrscheinlichkeit eines Todes durch Suizid, unbeabsichtigte Verletzungen, Verbrechen oder unbekannte Ursachen, liege weit über dem Durchschnitt der Normalbevölkerung, teilweise um das Fünffache, schildert Peter aus der Praxis.

Zuallererst Beziehungsarbeit

An erster Stelle steht der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, der noch entscheidender als sonst für den Erfolg oder Misserfolg der Behandlung ist. Regelmäßige Kontrollbesuche und Nachuntersuchungen zeigen, dass Patientinnen geschätzt und ernst genommen werden. „Es ist wichtig, den Krankheitsverlauf, den Erfolg der Therapie und etwaige Veränderungen im Zustand des Patienten zu beurteilen“, so die Expertinnen von Med4Hope. „Ist der Patient nicht bereit zu interagieren, sollte man Geduld haben, eine Beziehung langsam aufbauen, indem man anbietet, zunächst nur das zu behandeln, das für die betreffende Person den größten Leidensdruck verursacht“, sagt die Sozialarbeiterin den Ablauf. Schließlich sei eine therapeutische Beziehung auch erforderlich, um einen Behandlungsplan zu erstellen.

Einfache Behandlungspläne

Die Aufgaben der Medizinerinnen und Mediziner bestünde dann darin, alles möglichst einfach zu halten. Obdachlose haben oft mehrere chronische Krankheiten. Damit die Kommunikation überschaubar bleibt, sollte der Behandlungsplan sich auf ein oder zwei Probleme konzentrieren, die den Patienten am meisten stören oder lebensbedrohlich sind. „Die Behandlung zu vieler Probleme während eines Besuchs kann Obdachlose, die nicht an den Umgang mit Ärzten gewöhnt sind, überfordern“, sagt Stark. Auch das Abwägen der geeigneten Medikamente, die an die Bedingungen auf der Straße angepasst sein müssen, gilt es für Straßenmediziner immer im Hinterkopf zu behalten: „Unsere Patientinnen und Patienten haben keinen Zugang zu einem Kühlschrank oder einen Ort, an dem sie ihre Medikamente aufbewahren können“, gibt Monika Stark zu bedenken. „Oft fällt es ihnen schwer, überhaupt die Reihenfolge der Medikamenteneinnahme einzuhalten, das Einlösen eines Rezeptes vom Krankenhaus sei überhaupt unrealistisch und für die meisten unmöglich“.

Um die Therapietreue zu erleichtern, sollte man beispielsweise auf Medikamente mit retardierter Galenik zurückgreifen, die nur einmal täglich eingenommen werden müssen, sagt die Expertin. Diuretika sollten nur im Notfall eingesetzt werden, da die Betroffenen weder über eine Toilette noch über eine zweite Hose verfügen und „wer weiß, wie lange eingenässt in ihrer Kleidung verbringen“. Abgesehen davon seien geschwollene Beine bei obdachlosen Menschen meist aufgrund einer Stauungsdermatitis durch Schlafen im Sitzen und die Tatsache, dass sie den ganzen Tag auf den Beinen sind, bedingt und mit Kompressionstherapie wesentlich sinnvoller behandelt, gibt die Medizinerin zu bedenken.

Der Fall: Kontaminierte Bahnsitze

Wie wichtig der Aufbau von persönlichem Vertrauen und adäquater medizinische Betreuung ist, zeigte sich jüngst im Zuge einer medialen Berichterstattung über einen obdachlosen Mann in Wien, der aufgrund eines starken Lausbefalls mehrere Garnituren der Österreichischen Bundesbahn kontaminierte. Zugausfälle und hohe Kosten für die chemische Reinigung waren die Folge. Ein Aufschrei ging durch die heimische Medienlandschaft. Leserinnen und Leser waren gleichsam erschüttert über die Zustände in der Bundeshauptstadt: Warum hatte niemand diesem Mann geholfen? Welches Schicksal steht hinter dieser Geschichte? Warum leidet ein Mensch an massivem Lausbefall? Warum ist der Mensch nicht in der Lage, Hilfe anzunehmen?

Fakt ist, der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zum Betroffenen ist wichtig, da die Behandlung auf Freiwilligkeit beruht. Das erfordert eine Bereitschaft auf beiden Seiten – der des behandelnden Arztes und der des Patienten. Beziehungsmedizin eben.

Julia Palmai, MA ist Büroleiterin und Pressesprecherin vom Verein Med4Hope (Medical Aid for Homeless People) in Wien.

Metadaten
Titel
Hartes Pflaster
Schlagwort
Allgemeinmedizin
Publikationsdatum
10.05.2024

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