Psychiatr Prax 2008; 35(3): 108-110
DOI: 10.1055/s-2007-986183
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tageskliniken vernachlässigen Schizophreniekranke

Day Hospitals Neglect Schizophrenia Pro: Renate  Engfer, Kontra: Thomas  W.  Kallert
Further Information

Publication History

Publication Date:
28 March 2008 (online)

Pro

Nach Auskunft aktueller Studien ist der Anteil der Menschen mit psychotischen Störungen in deutschen Tageskliniken auf unter 20 % zurück gegangen [1] [2]. Dies ist ein durchaus überraschender Befund, denn noch vor wenigen Jahren waren Patienten mit diesem Krankheitsbild dort die Hauptklientel. Wie ist es zu diesem Rückgang gekommen? Drastische epidemiologische Veränderungen sind als Ursache sehr unwahrscheinlich. Die Prävalenz liegt weiterhin bei etwa 1 % der Bevölkerung [3]. Es muss also andere Gründe dafür geben, dass diese Patienten seltener in dieser Behandlungsmodalität versorgt werden: Veränderte gesundheitspolitische Rahmenbedingungen führen zu einem Wandel der Diagnosestruktur. Obwohl der besondere Nutzen einer tagesklinischen Behandlung bei psychotischen Störungen vielfach belegt ist, gibt es unter den neuen Rahmenbedingungen einen Druck auf die Akteure, in Tageskliniken mit größerer Priorität Patienten mit anderen Störungsbildern zu behandeln. Da es sich aus Sicht der Menschen mit psychotischen Störungen um keine begrüßenswerte Entwicklung handelt, kann man von einem Verdrängungsprozess sprechen [4] [5].

An erster Stelle ist der extreme Rückgang der Verweildauern in Kliniken und Tageskliniken zu nennen. Dieser Rückgang ist insgesamt wünschenswert und ein Indikator für positive Veränderungen bei der Therapie und im kommunalen Umfeld der stationären Psychiatrien, denn die teilweise sehr langen Behandlungszeiten in den Tageskliniken waren auch Folge des mangelhaften Ausbaustandes der komplementären und rehabilitativen Einrichtungen. Die „Durchbehandlung” auf Kosten der Krankenkassen von der Akutversorgung bis zur beruflichen Wiedereingliederung oder zur Übergabe an tagesstrukturierende Einrichtungen war früher an der Tagesordnung. Nicht selten hatten Tageskliniken - gerade bei den schwer an Schizophrenie erkrankten Menschen - die Funktion von Tagesstätten. Heute gibt es häufig effizientere Wege der Versorgung im gemeindepsychiatrischen Verbund, und die Managed-Care-Programme der Kostenträger bewirken, dass diese Wege auch beschritten werden.

Trotz der extrem gesunkenen Verweildauern sind die Betten- und Platzzahlen in der Gemeindepsychiatrie weitgehend gleich geblieben. So entsteht unter dem Zwang, diese Behandlungskapazitäten voll auslasten zu müssen, ein „Bedarf an Patientengut”. Da Psychoseerkrankungen anteilsmäßig gleich geblieben sind und deshalb den gestiegenen Durchlauf nicht zu speisen vermögen, behandelt man eine neue Klientel mit anderen Störungsbildern: Ein Teil der Veränderung des Diagnosespektrums lässt sich durch diesen Mechanismus erklären, für das beobachtete Ausmaß des Rückgangs der Psychosen in Tageskliniken ist das jedoch kein hinreichender Grund. Hinzu kommt, dass Menschen mit psychotischen Störungen auch wieder stärker als früher in vollstationärer Behandlung „festgehalten” werden. Bei Neuerkrankungen oder Rezidiven im Bereich der Schizophrenie, also im Rahmen der Akutbehandlung, wird die Tagesklinik - als „minimal invasive” Behandlungsform - nicht in einem Umfang genutzt wie es wünschenswert wäre, und wie es dem medizinischen Forschungsstand entspräche [6]. Denn in den Klinikbetten sind F2-Diagnosen weiterhin (neben den F1-Diagnosen) das häufigste Krankheitsbild [7]. Überspitzt formuliert: Unter dem Zwang, „ein Bett belegen zu müssen”, wird von den Akteuren eine unnötige kostenintensivere Krankenhausbehandlung präferiert. Für die kostengünstigere Krankenhausbehandlung (die Tagesklinik) wird eine neue Klientel erschlossen, die zuvor ambulant versorgt wurde. In diesem Sinne werden Menschen mit psychotischen Störungen aus einer für sie geeigneten (und zugleich kostengünstigeren) Behandlungsmodalität verdrängt.

Wer ist die neue Klientel der Tageskliniken? Wie die einschlägigen Umfragen zeigen, sind es Menschen mit folgenden Diagnosen: Ängste, Zwänge, Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen, Ess- und sexuelle Funktionsstörungen sowie affektive Störungen. Diese Diagnosegruppen waren bisher vorwiegend in Kliniken der Psychosomatik und vor allem in psychotherapeutischen Rehabilitationskliniken der Rentenversicherungsträger anzutreffen. Sowohl die psychosomatischen Kliniken als auch die psychotherapeutischen Reha-Kliniken haben lange Wartezeiten, und es sind administrative Hürden zu überwinden, um einen Platz zu bekommen. Psychiatrische Tageskliniken sind als Einrichtungen der Akutversorgung dagegen leicht erreichbar und können ohne Antragstellung und Genehmigungsverfahren besucht werden. Es ist keinerlei Vorbehandlung in fachärztlichen Praxen nötig - ein Einweisungsschein vom Hausarzt genügt. Die Grenzen zwischen Akutbehandlung und Rehabilitation verschwimmen bei diesen Erkrankungen - und dies nicht etwa, weil es neue Erkenntnisse zur besseren Behandlung gäbe, sondern allein weil von allen Akteuren der „Weg des geringsten Widerstands” gewählt wird. Die Verordnung von Krankenhauspflege ist unkomplizierter als die Antragstellung für eine Rehabilitationsbehandlung. Die Krankenhausabteilungen übernehmen (in Sorge um die Auslastung ihrer Therapieplätze) „gern die Behandlung auch der Probleme, die eigentlich der Rehabilitation zuzuordnen sind” [8]. Die Patienten mit psychischen Problemen schließlich nehmen die Möglichkeit eines unkomplizierten Zugangs zu gemeindenahen, vergleichsweise wenig stigmatisierten Einrichtungen gern an.

Die in Deutschland schon heute weltweit einzigartige Zersplitterung der Zuständigkeiten für die Behandlung von psychischen Erkrankungen wird noch ein wenig unübersichtlicher. Demnächst haben wir nicht nur die herkömmlichen Einrichtungen der Krankenhauspsychiatrie, der ambulanten Psychotherapie und die stationären wohnortfernen Rehabilitationseinrichtungen, sondern dazu „ambulantisierte” wohnortnahe, teilstationäre Reha-Kliniken für Patienten mit Depressionen und Anpassungsstörungen, Angst und somatoformen Störungen, Psychosomatikstationen und funktionsgewandelte Tageskliniken, in denen Menschen mit Psychosen an den Rand gedrängt sind. Ob diese Vielfalt der Angebotsformen auch ein Hinweis auf eine qualitativ hochwertigere Versorgung impliziert, ist völlig unklar, „weil differenzielle Indikationskriterien nicht erkennbar und die Zuweisungsprozesse zu den verschiedenen Angeboten weitgehend nicht transparent sind. Auch im Hinblick auf die Vergleichbarkeit von Variablen des Behandlungsprozesses und Behandlungserfolges fehlen Basisinformationen” [7].

Während für die an Psychosen erkrankten Menschen in einer jahrzehntelangen Forschungstradition belegt ist, dass Tagesklinken in 20 - 40 % der Fälle eine gute Option bei der Akutbehandlung sind, gibt es für die neuen Patientengruppen kaum Belege zur Effektivität (und Effizienz) dieser Behandlungsform. Wenn solche fachlichen Begründungen zur Rechtfertigung des Wandels im Diagnosespektrum fehlen, wird es schwer, die juristischen und ökonomischen Probleme zu lösen, die mit diesem Wandel verbunden sind. Schließlich ist tagesklinische Behandlung Krankenhaus- und Akutbehandlung, und die Zugangsvoraussetzungen sind vom Bundessozialgericht definiert worden: „Akutbehandlung - und dies gilt für alle Krankheitsbilder - ist nur dann indiziert, wenn die Notwendigkeit einer fortdauernden Einwirkung des Arztes auf den Patienten besteht, die Zuhilfenahme der technischen Apparaturen des Krankenhauses unabdingbar ist und eine ständige Assistenz, Betreuung und Beobachtung des Patienten durch das Pflegepersonal gewährleistet sein muss” [8]. Für kranke Menschen mit Schizophrenie gelten diese Voraussetzungen in der Akutphase sicherlich immer, für schwerste Ausprägungen anderer Diagnosegruppen ebenso. Inwieweit diese Voraussetzungen jedoch bei der klassischen Klientel von Psychosomatik und Rehabilitation vorliegen, kann bezweifelt werden. Deshalb birgt der Funktionswandel der Tageskliniken die Gefahr, dass die Kostenträger sich (wie in anderen Ländern geschehen) aus der Finanzierung dieser Behandlungsmodalität verabschieden, und die traditionellen Patientengruppen schlechter gestellt sind als vorher.

Literatur

  • 1 Kallert T W, Schützwohl M, Matthes C. Aktuelle Struktur- und Leistungsmerkmale allgemeinpsychiatrischer Tageskliniken in der Bundesrepublik Deutschland.  Psychiat Prax. 2003;  30 72-82
  • 2 Diebels E, Tschuschke V, Benz C, Günther A, Schmitz H J. Aspekte einer aktuellen Bestandsaufnahme psychiatrisch-tagesklinischer Arbeit in Deutschland. In: Eikelmann B, Reker T (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie in der Tagesklinik. Grundlagen und Praxis. Stuttgart; Kohlhammer 2004
  • 3 Häfner H. Das Rätsel Schizophrenie, 2. Aufl. München; CH Beck 2001
  • 4 Engfer R. Die psychiatrische Tagesklinik: Kontinuität und Wandel. Bonn; Psychiatrie-Verlag 2004
  • 5 Beine K, Engfer R, Bauer M. Tageskliniken für Psychiatrie und Psychotherapie - Quo vadis?.  Psychiat Prax. 2005;  32 321-323
  • 6 Kallert T W, Matthes C, Glöckner M, Eichler T, Koch R, Schützwohl M. Akutpsychiatrische tagesklinische Behandlung: ein effektivitätsgesichertes Versorgungsangebot?.  Psychiat Prax. 2004;  31 409-419
  • 7 Barghaan D, Harfst T, Watzke B, Dirmaier J, Koch U, Schulz H. Merkmale stationärer psychotherapeutischer Versorgung in Deutschland.  PID. 2007;  8 79-83
  • 8 Braner H, Hildenbrand G, Irle H, Krüger C E, Sturm J, Weidenhammer J. Krankenhausbehandlung und/oder Rehabilitation - eine Kontroverse.  PID. 2007;  8 5-15
  • 9 Kluge H, Becker T, Kallert T W, Matschinger H, Angermeyer M C. Auswirkungen struktureller Faktoren auf die Inanspruchnahme Sozialpsychiatrischer Dienste - eine Mehrebenenanalyse.  Psychiat Prax. 2007;  34 20-25
  • 10 Becker T, Kluge H, Kallert T W. Standardisierte Dokumentation und Psychiatrieberichterstattung. In: Kallert TW, Becker T Basisdokumentation in der Gemeindepsychiatrie. Bonn; Psychiatrie-Verlag 2001: 155-182
  • 11 Spießl H, Binder H, Cording C, Klein H E, Hajak G. Klinikpsychiatrie unter ökonomischem Druck.  Dtsch Ärztebl. 2006;  103 (39) A 2549-2552
  • 12 Marshall M, Crowther R, Almaraz-Serrano A, Creed F, Sledge W, Kluiter H, Roberts C, Hill E, Wiersma D, Bond G R, Huxley P, Tyrer P. Systematic reviews of the effectiveness of day care for people with severe mental disorders: [1] Acute day hospital versus admission; [2] Vocational rehabilitation; [3] Day hospital versus outpatient care.  Health Technology Assessment. 2001;  5 21
  • 13 Kallert T W, Priebe S, McCabe R, Kiejna A, Rymaszewska J, Nawka P, Očvár L, Raboch J, Stárková-Kališová L, Koch R, Schützwohl M. Are day hospitals effective for acutely ill psychiatric patients? A European multicenter randomized controlled trial.  J Clin Psychiatry. 2007;  68 278-287
  • 14 Schützwohl M, Koch R, Kallert T W. Prädiktoren für den psychopathologischen Entlassungsbefund bei akutpsychiatrischer tagesklinischer und vollstationärer Behandlung.  Psychiat Prax. 2006;  33 226-232
  • 15 Kallert T W, Schönherr R, Schnippa S, Matthes C, Glöckner M, Schützwohl M. Direkte Kosten akutpsychiatrischer tagesklinischer Behandlung.  Psychiat Prax. 2005;  32 132-141
  • 16 Wiersma D, Kluiters H, Nienhuis F J, Rüphan M, Giel R. Costs and benefits of hospital and day treatment with community care of affective and schizophrenic disorders.  Brit J Psychiatry. 1995;  116 (suppl 27) 52-59
  • 17 Kallert T W. Versorgungsbedarf und subjektive Sichtweisen schizophrener Patienten in gemeindepsychiatrischer Betreuung. Darmstadt; Steinkopff 2000
  • 18 Gesundheitsministerkonferenz der Länder 2007 .Psychiatrie in Deutschland - Strukturen, Leistungen, Perspektiven. http://www.gmkonline.de/
  • 19 World Health Organization .The World Health Report 2001. Mental Health: New Understanding, New Hope. Geneva; WHO 2001
  • 20 Möller H J. Therapie psychischer Erkrankungen. Stuttgart; Thieme 2006

Dr. Renate Engfer

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Offenbach

Starkenburgring 66

63069 Offenbach

Email: renate.engfer@klinikum-offenbach.de

Prof. Dr. med. habil. Thomas Kallert

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Park-Krankenhaus Leipzig-Südost GmbH

Morawitzstraße 2

04289 Leipzig

Email: thomas.kallert@parkkrankenhaus-leipzig.de

    >