Psychiatr Prax 2005; 32(7): 321-323
DOI: 10.1055/s-2005-866988
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tageskliniken für Psychiatrie und Psychotherapie - Quo vadis?

Psychiatric Day Hospitals - Quo Vadis?Karl  Beine1 , Renate  Engfer2 , Manfred  Bauer3
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie St. Marien-Hospital Hamm; Private Universität Witten/Herdecke
  • 2Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Offenbach
  • 3Offenbach
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Publication Date:
11 October 2005 (online)

Nachdem es lange Zeit recht still geworden war um die Tageskliniken und sie im Schatten der Psychiatriereform leise vor sich hin gedümpelt sind, ist plötzlich wieder Bewegung in die Szenerie gekommen. Umfragen wurden gestartet mit dem Ziel zu klären, welche Klientel denn aktuell in Tks behandelt wird [1] [2] [3], Bernd Eikelmann und Thomas Reker [4] gaben einen Sammelband zur Psychiatrie und Psychotherapie in der Tagesklinik heraus, zeitgleich erschien die Monografie von Renate Engfer „Die psychiatrische Tagesklinik: Kontinuität und Wandel” [5] und nicht zuletzt befasst sich die Arbeitsgruppe um Thomas Kallert in Dresden auf nationaler und europäischer Ebene mit dem Thema [1] [6] [ 7]. Soweit das Wichtigste von der schreibenden Zunft. Selbstverständlich werden auch wieder Kongresse zum Thema Tagesklinik veranstaltet. Wo soviel zu einem Thema geredet und geschrieben wird, ist auch die Gründung eines „Vereins” nicht weit, zumindest hier zu Lande. Tatsächlich hat sich inzwischen die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Tageskliniken PsychiatriePsychotherapiePsychosomatik (DATPPP) gegründet. Das wiederum hat „ackpa”, den Arbeitskreis der Chefärzte und Chefärztinnen von Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland auf den Plan gerufen, der eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Andreas Küthmann/Memmingen und Renate Engfer/Offenbach installiert hat mit dem Ziel, ein Eckpunktepapier zu verfassen, das demnächst der Fachöffentlichkeit vorgestellt werden soll. Grund genug also, sich an dieser Stelle die Geschichte der Entstehung psychiatrischer Tageskliniken sowie ihre heutige Stellung und Funktion in einem gegliederten und regional bezogenen Versorgungssystem noch einmal in aller Kürze zu vergegenwärtigen.

Ursprünglich im Russland der 30er-Jahre „erfunden”, nach dem Zweiten Weltkrieg in England und den USA zu einer regelrechten „Tagesklinik-Bewegung” weiterentwickelt, wurden Tageskliniken hier zu Lande erst im Zuge der Psychiatriereform zu einem festen Bestandteil eines regionalen Versorgungssystems. Die Bundesregierung ging noch 1990 in ihrer Stellungnahme zum Bericht der Expertenkommission (1988) davon aus, dass bezogen auf 100 000 bis 150 000 Einwohner 20 Tagesklinikplätze vorgehalten werden sollten. Bezogen auf die Bundesrepublik mit rund 80 Mio. Einwohnern wären das 500 - 600 Tageskliniken mit je 20 Plätzen. Tatsächlich gibt es heute ca. 350 allgemeinpsychiatrische Tageskliniken mit insgesamt ca. 8500 Plätzen. Auch die Entwicklung psychiatrisch-psychotherapeutischer Tageskliniken ist also auf halbem Wege stecken geblieben.

Gleichzeitig hat sich jedoch ein inhaltliches Umdenken vollzogen, das zur Sorge Anlass gibt. Während die Tageskliniken der 70er-, 80er- und 90er-Jahre überwiegend chronisch psychisch Kranke, Psychotiker zumal, behandelten und die Rehabilitation und Reintegration dieser Patienten in die Gesellschaft weitgehend unbestrittenes therapeutisches Ziel tagesklinischer Arbeit waren, hat sich die Situation im neuen Jahrtausend grundlegend geändert: Psychotische Störungen machen den Umfragen zufolge nur noch weniger als 20 % der Klientel aus, Ängste, Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen, Ess- und sexuelle Funktionsstörungen sowie jede Form von affektiven Störungen dominieren eindeutig. Dies wäre nicht weiter tragisch, wenn die traditionelle Klientel anderswo hinreichend versorgt würde. Genau dies ist aber nicht der Fall. Kallert et al. [8] weisen mit Recht darauf hin, dass in dieser Personengruppe das Ausmaß klinischer und sozialer Probleme immer noch hoch und ihre Lebenssituation insgesamt prekär ist. Demgegenüber entfallen bei den Krankenkassen drei Viertel der ambulanten Leistungen auf die Richtlinien-Psychotherapie, chronisch psychisch Kranke stehen also in den Praxen niedergelassener Psychiater auch nicht besonders hoch im Kurs. Was bleibt sind die Psychiatrischen Institutsambulanzen. Aber auch dort richtet man das Augenmerk zunehmend auf die so genannten „Verdünnungsscheine”, auf Patienten also mit geringfügigen Problemen, die jedoch über die Quartalspauschalen den gleichen Erlös in die Kassen spülen wie aufwändig zu behandelnde Schwerkranke.

In dieser Situation erscheint die von manchen propagierte Öffnung der Tageskliniken für Patienten mit leichteren Störungen als ein Schritt in die falsche Richtung. Gefördert wird diese Fehlentwicklung allerdings durch mächtige Bündnispartner, allen voran die Rentenversicherungsträger. Bekanntlich unterhalten diese mit ihren psychotherapeutisch ausgerichteten Reha-Kliniken (einem Einrichtungstyp übrigens, der in anderen Ländern gänzlich unbekannt ist) Institutionen, die neuerdings von der grünen Wiese in die Städte drängen. Nach den bereits verabschiedeten Rahmenrichtlinien der Rentenversicherungsträger sollen diese „psychotherapeutischen Fachkliniken” zunehmend ambulantisiert und durch die jetzt wohnortnah mögliche Einrichtung von Tageskliniken mit psychotherapeutischem Schwerpunkt ergänzt werden. Explizit wird dabei abgehoben auf Patienten mit Depressionen und Anpassungsstörungen, Angst- und somatoformen Störungen sowie auf psychosomatisch Kranke. Für den gleichen Typ von Patienten sollen in Zukunft auch neue Versorgungsangebote im Bereich der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie entstehen, die als selbstständige Abteilungen in die allgemeine Medizin integriert werden sollen. So jedenfalls die Absicht derer, die sich dafür stark machen. Eigentlich darf es nicht wahr sein: während an deutschen Universitäten die psychosomatischen Abteilungen aus guten (auch wissenschaftlichen) Gründen in die Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie reintegriert werden (siehe z. B. die Medizinische Hochschule Hannover), sind in der deutschen Provinz die Uhren des Fortschritts stehen geblieben. Dort will man weder wahr haben, dass dem Fach Psychosomatik zunehmend die klassischen Krankheitsbilder abhanden gekommen sind, noch dass die reformierte Psychiatrie der letzten 30 Jahre das (organozentrische) Feindbild ist, auf das sich getrost einschlagen lässt. Die Reklamation des so genannten biopsychosozialen Modells als eine Erfindung der Psychosomatischen/Psychotherapeutischen Medizin ist dabei der Gipfel der Ignoranz, mit der man zwar einige Hinterbänkler in den Ministerien beeindrucken mag, freilich nur deswegen, weil diese die Entwicklung der Psychiatrie und der psychotherapeutischen Medizin verschlafen haben. Das 2005 im Auftrag des Hessischen Sozialministeriums erstellte Gutachten des IGSF [9] ist hierfür ein beredtes Beispiel.

Wohin aber sollten und könnten sich psychiatrisch-psychotherapeutische Tageskliniken in Zukunft entwickeln? Sicher ist eines: sie können nicht so bleiben wie sie sind. Die Zeit der Tageskliniken als „Lebensschulen” ist ebenso vorbei wie die eines monatelangen Behandlungssettings für chronisch psychisch Kranke. Dass Mitarbeiter und Patienten in Tageskliniken gemeinsam alt werden, lässt diese Gesellschaft nicht mehr zu, und dies mit gutem Grund. Ambulant vor teilstationär, vor stationär ist zwar leichter gesagt als getan, deswegen aber nicht unrichtig. Und richtig ist auch, dass den Schwerstkranken die fachlich qualifiziertesten Behandlungsmöglichkeiten offen stehen sollten, während leichter Kranke weit weniger Ressourcen des medizinischen Systems benötigen. Thornicroft und Tansella [10] haben dies in ihrem Konzept des „well targeted model” versus des „poorly targeted model” einprägsam skizziert. Obwohl die Zielsetzungen eines „well targeted model” theoretisch hoch plausibel sind, hat sich in vielen Ländern immer wieder gezeigt, dass die Eigendynamik real existierender Versorgungssysteme dazu führt, dass ein Abdriften in Richtung „poorly targeted model” droht: psychisch schwerst erkrankte Menschen werden bereits jetzt häufig nicht auf dem höchsten Niveau der Versorgung behandelt.

Psychiatrisch-psychotherapeutische Tageskliniken sind auf der spezialisiertesten und kostenintensivsten Stufe des Versorgungssystems angesiedelt. Nur ein psychiatrisches Bett ist noch teurer. Demgemäß sollten sie auch die besonders schwer von psychischen Krankheiten betroffenen Patienten versorgen. Traditionell gehören die psychotischen Störungen, insbesondere die Schizophrenie, zu dieser Gruppe. Zu einem hohen Prozentsatz werden akut psychotisch erkrankte Personen primär stationär aufgenommen und lange in diesem Status gehalten, was die Kosten in die Höhe treibt. Die internationale Evaluationsforschung der letzten Jahre hat jedoch gezeigt, dass etwa 20 - 40 % der akut behandlungsbedürftigen Patienten nicht unbedingt vollstationär, sondern häufig mit gleich gutem Erfolg (und bei mehr Patientenzufriedenheit) auch teilstationär behandelbar sind [5] [6]. Wenn dem aber so ist, spricht alles dafür, dass in Zukunft Klinikbetten zugunsten von tagesklinischen Plätzen abzubauen sind. Sind diese Plätze jedoch durch leichter Kranke blockiert, ist alle Liebesmüh' vergebens: dann nämlich bleiben die schwerer Kranken im Bett, die „klassische” Tagesklinikklientel pendelt als „Drehtürpatienten” zwischen Bett und Institutsambulanz und gerät letztlich zwischen alle Stühle. Die psychotherapeutisch-psychosomatischen Tageskliniken werden sicher gut nachgefragt sein und zwar von Personen mit weniger schweren Störungen, die eigentlich ambulant behandelt werden müssten. Die Chance für eine strukturelle Weiterentwicklung des psychiatrischen Versorgungssystems wäre damit in weite Ferne gerückt.

Ein Ausweg aus der sich abzeichnenden tagesklinischen Misere könnte allerdings aus einer ganz anderen Ecke kommen: der Einführung eines regionalen Psychiatriebudgets. Tatsächlich könnte ein regionales Psychiatriebudget und dessen administrativer Rahmen, so wie es gerade eben von Christiane Roick et al. [11] am Beispiel der Klinik Itzehoe dargestellt worden ist, die im vorstehenden benannten Kontroversen rund um die Tagesklinik weitgehend gegenstandslos werden lassen. Denn dann wäre klar: auch die zukünftige Tagesklinik hat ihren Platz in einem regional bezogenen Versorgungssystem und sie wäre überdies in einer recht komfortablen Lage; konkurriert sie doch (gewollt) mit ihren Plätzen gegen die Betten im stationären Bereich, die, so zeigen es auch die ersten Ergebnisse in Itzehoe, keineswegs immer nur von denjenigen Patienten genutzt werden, die sie wirklich brauchen. Ein tagesklinischer Anteil von ca. 30 % an der stationären Gesamtkapazität von RPB-Einrichtungen wäre dann eine realistische Größe, auf die sich Kostenträger und Krankenhausträger leicht verständigen könnten, da jeder davon profitiert - nicht zuletzt aber die Patienten. Man darf gespannt sein, ob sich letzten Endes die Stimme der Vernunft, von der Sigmund Freud seinerzeit meinte, sie sei leise, aber auf Dauer nicht unwirksam, durchsetzen wird.

Literatur

  • 1 Kallert T W, Schützwohl M, Matthes C. Aktuelle Struktur- und Leistungsmerkmale allgemeinpsychiatrischer Tageskliniken in der Bundesrepublik Deutschland.  Psychiat Prax. 2003;  30 72-82
  • 2 Haltenhof H, Garlipp P, Machleidt W, Seidler K P. Die Klientel allgemeinpsychiatrischer Tageskliniken in Deutschland - Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage. Typoskript. 2004
  • 3 Diebels E, Tschuschke V, Benz C, Günther A, Schmitz H J. Aspekte einer aktuellen Bestandsaufnahme psychiatrisch-tagesklinischer Arbeit in Deutschland. In: Eikelmann B, Reker T (Hrsg) Psychiatrie und Psychotherapie in der Tagesklinik. Grundlagen und Praxis. Stuttgart; Kohlhammer 2004: 19-24
  • 4 Eikelmann B, Reker T (Hrsg). Psychiatrie und Psychotherapie in der Tagesklinik. Grundlagen und Praxis. Stuttgart; Kohlhammer 2004
  • 5 Engfer R. Die psychiatrische Tagesklinik: Kontinuität und Wandel. Bonn; Psychiatrie-Verlag 2004
  • 6 Kallert T W, Matthes C, Glöckner M, Eichler T, Koch R, Schützwohl M. Akutpsychiatrische tagesklinische Behandlung: ein effektivitätsgesichertes Versorgungsangebot?.  Psychiat Prax. 2004;  31 409-419
  • 7 Kallert T W, Schönherr R, Schnippa S, Matthes C, Glöckner M, Schützwohl M. Direkte Kosten akutpsychiatrischer tagesklinischer Behandlung: Ergebnisse aus einer randomisierten kontrollierten Studie.  Psychiat Prax. 2005;  32 132-141
  • 8 Kallert T W, Leisse M, Winiecki P. Needs for care of chronic schizophrenic patients in long-term community treatment.  Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2004;  39 386-396
  • 9 Institut für Gesundheits-System-Forschung .Gutachten zur Strukturanalyse und Bedarfsermittlung im Bereich der Psychotherapeutischen Medizin (Psychosomatik) in Hessen. Kiel; 2005
  • 10 Thornicroft G, Tansella M. The planning process for mental health services. In: Thornicroft G, Szmukler G (eds) Textbook of community psychiatry. Oxford, New York; University Press 2001: 179-192
  • 11 Roick C, Deister A, Zeichner D, Birker T, König H, Angermeyer M C. Das Regionale Psychiatriebudget: Ein neuer Ansatz zur effizienten Verknüpfung stationärer und ambulanter Versorgungsleistungen.  Psychiat Prax. 2005;  32 177-184

Dr. rer. med. Renate Engfer

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Offenbach

Starkenburgring 66

63069 Offenbach

Email: renate.engfer@klinikum-offenbach.de

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