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Open AccessKlinische Kurzstandards

Erkennung psychiatrischer Symptome in der stationären Langzeitpflege

Published Online:https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003394

Abstract

Zusammenfassung. Als Teilprojekt der nationalen Demenzstrategie der Schweiz wurde untersucht, inwieweit die in den Alters- und Pflegeheimen bereits eingesetzten Bedarfsabklärungsinstrumente BESA und RAI ausreichend sind, um Symptome von Depressionen, Delirien und behavioralen und psychologischen Symptomen der Demenz (BPSD) frühzeitig zu erkennen. Während RAI für die Bewertung von Depressivität als ausreichend aufgefasst wurde, ist für BESA die Ergänzung um den Zwei-Fragen-Test und die geriatrische Depressionsskala zu empfehlen. Für die Erkennung von Delirien sind hingegen nur in BESA geeignete Fokusassessments vorhanden. Weder RAI noch BESA erfassen vollständig das grosse Spektrum der psychologischen und BPSD. Wir sehen in der konsequenten Anwendung dieser Assessments Möglichkeiten eines verbesserten interprofessionellen und -disziplinären Austauschs zwischen den Berufsgruppen und damit eine verbesserte Versorgung der Bewohner mit psychischen Symptomen.

Recognition of Psychiatric Symptoms in Inpatient Long-Term Care

Abstract. As part of the Swiss national strategy on dementia, we investigated to which extent the needs assessment instruments RAI and BESA can early detect symptoms of depression, delirium, and behavioral and psychological symptoms of dementia (BPSD) in long-term care facilities. While we decided that the RAI sufficiently detected depressive symptoms, we suggest to add the two-questions-test and the geriatric depression scale to the BESA assessment. The BESA evaluation had more targeted focused assessments, allowing for better identification of delirium. Neither RAI or BESA cover the whole spectrum of behavioral and psychological symptoms of dementia. We consider the continuous application of these assessment instruments an important step towards interdisciplinary exchange and a better treatment of residents with psychiatric symptoms.

Résumé. Dans le cadre de la stratégie nationale suisse sur la démence, nous avons examiné dans quelle mesure les instruments d’évaluation des besoins RAI et BESA sont adéquats pour détecter les symptômes précoces de dépression, de délire ainsi que les symptômes comportementaux et psychologiques de la démence, ceci dans des maisons de retrait. Le RAI détecte les symptômes dépressifs. Cependant, nous suggérons d’incorporer en plus le test en deux-questions et l’échelle de dépression gériatrique à l’évaluation BESA. Pour la détection du délire, seule le test BESA fournit des évaluations ciblées pertinentes. Ni le RAI ni le BESA évaluent les symptômes comportementaux et psychologiques de la démence dans leur intégralité. Le recours sigulier à de ces instruments d’évaluation permettrait une collaboration interdisciplinaire et une meilleure prise en charge des patients présentant des symptômes psychiatriques.

Ausgangssituation

Im Rahmen der nationalen Demenzstrategie (NDS) der Schweiz wurde im Teilprojekt 6.2 der Fokus gelegt auf Assessment-Tools für Handlungsbereiche, die bei Menschen mit Demenz in der Langzeitpflege im Vordergrund stehen. Durch die Anwendung demenzspezifischer Assessment-Instrumente soll die Beurteilung standardisiert und die Qualität der Betreuung erhöht werden. Die Nutzung von demenzspezifischen Assessment-Instrumenten soll im Einklang mit den Prinzipien, Kernelementen und Forderungen der Charta zur Zusammenarbeit der Fachleute im Gesundheitswesen [1] die interprofessionelle Zusammenarbeit sowie die Implementierung qualitätssichernder Standards fördern.

Teilnehmend am Projekt waren ärztliche und pflegerische Experten aus verschiedenen Versorgungssettings und aus Lehr- und Forschungszentren sowie Vertreter der beiden am häufigsten in der Schweiz eingesetzten Bedarfsabklärungsinstrumente BESA (www.besacare.ch) und RAI (www.qsys.ch).

Als Projektziele definierten wir einerseits den Einsatz demenzspezifischer Assessment-Tools im Rahmen der interprofessionellen Zusammenarbeit und des organisationsinternen Qualitätsmanagements. Zweitens sollten Angehörige verschiedener Professionen und Disziplinen, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit mit demenzkranken Menschen in Kontakt treten, mit den demenzspezifischen Assessment-Instrumenten vertraut gemacht werden.

Die Anwendung von demenzspezifischen Instrumenten (z. B. zur Abbildung der Belastung der Betreuer, zur Erfassung von speziellen Symptombereichen und Beeinträchtigungen oder zur Evaluation von BPSD (behaviorale und psychologische Symptome der Demenz), Delirien und Depressionen und deren Auswertung sollen drittens im Rahmen von interprofessionellen Fallbesprechungen über den gesamten Krankheitsverlauf hinweg erfolgen.

Empfehlungen und Richtlinien sowie geeignete Instrumente und standardisierte Prozesse sollten schliesslich die interprofessionelle Zusammenarbeit fördern und zur Verbesserung des Assessments und der Betreuung von Demenzkranken führen.

Zum Projekt wurden folgende Ergebniserwartungen formuliert:

  • Die Rahmenbedingungen (standardisierte Prozesse), um die Nutzung und Evaluation bestehender Instrumente zu fördern (z.B. im Rahmen des organisationsinternen Qualitätsmanagements), sind geschaffen.
  • Leitlinien/Empfehlungen (Guidelines) für die Schulung und den Einsatz geeigneter Assessment-Instrumente unter Berücksichtigung des NDS-Teilprojektes 5.1 «Verankerung ethischer Leitlinien zur Behandlung und Betreuung von demenzkranken Menschen».
  • Die Charta der Zusammenarbeit der Fachleute im Gesundheitswesen wird im Bereich der Demenz (Assessment und Betreuung) umgesetzt.
  • Die finanziellen Fragen, die durch die Einführung und Anwendung der Instrumente entstehen, sind zwecks Klärung definiert.
  • Ein spezifisches Informations- und Fortbildungskonzept für die Beteiligten am interdisziplinären Assessment ist erstellt.

Zielgruppen des Projekts waren in Pflegeheimen tätige Pflegefachpersonen und Heimärzte, alterspsychiatrische und geriatrische Konsiliar- und Liaison-Dienste, hausärztliche Grundversorger, gerontologische Pflegefachpersonen und Pflegewissenschaftler, Leitungen und Qualitätsbeauftragte von Pflegeheimen und anderen Einrichtungen für die Langzeitbetreuung von Menschen mit Demenzerkrankungen, Vertreter der Pflegebedarfserfassungsinstrumente, sowie Organisationen, die in der Beratung und Unterstützung von Personen mit Demenz tätig sind (Schweizerische Alzheimervereinigung, Pro Senectute u.a.).

Im Projektteam wurde festgehalten, dass ein Kompromiss zwischen der Bandbreite der Assessment-Tools und der Häufigkeit deren Einsatzes auf der einen Seite und den verfügbaren personellen bzw. finanziellen Ressourcen andererseits gefunden werden muss. Aus diesen Gründen wurde eine Fokussierung auf die drei Syndrome vereinbart, die bei Menschen mit Demenz in der Langzeitpflege häufig vorkommen und besonders herausfordernd sind:

  • Depression
  • Delir
  • Behaviorale und psychologische Symptome der Demenz (BPSD)

Die Bedeutung weiterer Themen wie z.B. Schmerz, Mangelernährung und Sturzneigung ist unbestritten. Als Folge der Fokussierung wurden diese jedoch nicht weiter diskutiert.

Als Teil eines weiteren Fokussierungsprozesses wurde zunächst geprüft, welche Assessments für die drei oben genannten Syndrome (Delir, Depression, BPSD) bereits in RAI und BESA vorliegen. Beide Instrumente verfügen über Basisfragen zu den drei Syndromen und bieten auch Assessments an (z. B. die Depression Rating Scale in RAI, resp. Geriatric Depression Scale in BESA), auf denen weiter aufgebaut werden kann. RAI und BESA empfehlen den Einsatz von Fokusinterviews, sofern Auffälligkeiten im allgemeinen Assessment vorliegen. Wir halten dieses Vorgehen für sinnvoll und machen Empfehlungen zum gezielten Einsatz von Assessments, die für eine Vertiefung verwendet werden können.

Für alle Symptomkomplexe wurde festgehalten, dass auch geringe Ausprägungen Konsequenzen für die Bewohner/innen haben. Aus diesem Grund sprechen wir uns gegen den Einsatz von Grenzwerten aus, ab welchen reagiert werden sollte. In der Praxis dürften beispielsweise nebenwirkungsreiche Therapien (z.B. die Gabe von Antipsychotika) bei gering ausgeprägten Symptomen nur selten gerechtfertigt sein.

Wir sind der Überzeugung, dass sich durch den regelmässigen Einsatz geeigneter Assessments die Haltung des Personals gegenüber den Bewohner/innen ändert («verstehende Diagnostik»). Ein besseres Verständnis für die Situation der Bewohner/innen wird sich auch in einem veränderten, besser auf die Bewohner/innen ausgerichteten Umgang widerspiegeln, wie z. B. im Umgang mit der Ablehnung von Pflegemassnahmen. So lässt sich schlussendlich auch der benötigte zeitliche Aufwand und der psychische Stress bei Bewohnern/innen und Personal reduzieren. Darüber hinaus können Erkenntnisse aus Assessments als Argumentationshilfe in der interdisziplinären und interprofessionellen Zusammenarbeit verwendet werden und z.B. den Einsatz medikamentöser Therapien begründen. Es versteht sich, dass die Einschätzung und Behandlungsplanung beim älteren, vulnerablen Menschen immer in einem interprofessionellen Kontext stattfindet und keines der drei ausgewählten Themen von einer Berufsgruppe allein angegangen werden kann.

Wir empfehlen die Durchführung von Assessments jeweils bei beobachteten Veränderungen des Affekts und des Antriebs.

Die geringe Verfügbarkeit von qualifiziertem Pflegefachpersonal erschwert den häufigen und zeitgerechten Einsatz von Fokusassessments. Eine Delegation der Assessments an weniger ausgebildetes Assistenz- und Hilfspersonal bedingt, dass die Assessments leicht verständlich und einfach umsetzbar sind, dies ist jedoch nicht immer gegeben. Wir stellen wo möglich leicht durchzuführende Assessments vor, trotzdem muss ein Minimalstandard für die Durchführung erfüllt sein.

Depression

Depressionen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Störungen in der Langzeitpflege [2]. Bei Bewohnern/innen mit sich entwickelnder Demenz treten Depressionen oft früh im Krankheitsverlauf auf. Für die Bewohner/innen selber wie auch für das Umfeld verursachen Depressionen einen hohen Leidensdruck. Durch die oft vorhandene Antriebsstörung sinkt beispielsweise die Mitarbeit bei pflegerischen Massnahmen, auch kann eine Depression mit einer Reizbarkeit verbunden sein. Gerade die Depression im Alter ist mit unspezifischen körperlichen Beschwerden verbunden (Schwindel, Bauch- und/oder Rückenschmerzen u.a.) und führt deshalb zu belastenden und aufwändigen somatischen Untersuchungen. Im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz kann die Stimmungslage oft nicht mehr direkt erfragt werden. Verhaltensbeobachtungen nehmen deshalb einen besonderen Stellenwert ein, sind aber schlechter standardisiert.

RAI

In der aktuellen Version des RAI-Systems ist bereits ein Instrument zum Assessment der Depressivität vorhanden (E1-Stimmungslage). Dies umfasst sieben Elemente, die sich auf die international etablierte Depression Rating Scale beziehen (DRS) [3]. In der für die Schweiz erwarteten neuen Version des RAI (LTCF-CH) wird dieses Assessment-Instrument noch um weitere Angaben zur Stimmungslage (z.B. Ausdruck von fehlender Freude) erweitert. Alle Items in der Rubrik E1 beruhen auf der Fremdbeobachtung, was gerade bei fortgeschrittenen Demenzerkrankungen gegenüber Selbsteinschätzungsskalen zu bevorzugen sein dürfte. Da die Stimmungslage der letzten drei Tage abgefragt wird, ist eine vollständige Dokumentation erforderlich. Neu in der für 2020 erwarteten Version LTCF-CH ist auch ein Fragenblock (E2) mit eigenen Angaben des Erkrankten zur Stimmungslage.

Insgesamt erscheint das Assessment der Depressivität im RAI gut möglich. Zu bedenken ist aber die fehlende Validierung der Übersetzungen der Depression Rating Scale [3]. Obwohl die eingesetzte Fremdbeobachtungsskala und die recht allgemein gehaltene Wortwahl robust gegenüber Übersetzungseffekten sein sollte, zeigt hier die Erfahrung von ähnlichen Skalen zur Schmerzeinschätzung die Wichtigkeit einer Validierung der Übersetzung (siehe auch Referenz [4]).

BESA

Im BESA-System sind die Einzelitems zur Thematik Stimmung, Antrieb o.ä. aus einer Expertenrunde hervorgegangen und ohne expliziten Bezug zu etablierten Diagnoseskalen oder Skalen zur Schwere vorhandener Depressivität. Zum Basisassessment gehört der Pflegeschwerpunkt 8 mit Fragen zum Selbstwertgefühl, zur Grundstimmung und der Angstfreiheit jeweils als Fremdbeurteilung. Weitere Items z.B. zum Antrieb (11.1) bilden auch mögliche Komponenten einer Depressivität ab. Insgesamt erscheint das Assessment von Depressivität im Basisassessment jedoch ungenügend. Vorgeschlagen als Fokusinterview wird innerhalb des BESA die Geriatric Depression Scale [5]. Hier ist jedoch nicht bekannt, wie häufig dieses zusätzliche Werkzeug in den Pflegeheimen tatsächlich verwendet wird. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass Bewohner/ innen mit fortgeschrittener Demenz die entsprechenden Items zuverlässig beantworten können. Von gewissem Nutzen erscheinen die Items im Pflegeschwerpunkt 8 (Selbstwahrnehmung) im fakultativ auszufüllenden Bewohnerfragebogen. Hier enthalten sind Fragen zum Gefühl der Wertschätzung, der Nützlichkeit, der Zuversicht, etc. Ein Bezug zu einer etablierten Skala ist jedoch auch hier nicht vorhanden. Wir empfehlen die Validierung der vorhandenen Items, um deren Nutzen für die Praxis besser einschätzen zu können. Aufgrund der vorhandenen Defizite des BESA-Systems empfehlen wir einerseits den häufigeren Einsatz der Fokusassessments und in Anlehnung an die S3-Leitlinien Depression den Zwei-Fragen-Test («Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?»/«Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?») als Teil des Grundassessments, sofern das kognitive Funktionsniveau dafür ausreichend ist. Sollte in BESA ebenfalls die DRS eingeführt werden, entfallen diese Empfehlungen.

Fokusassessment bei Depression

Bei Verdacht auf Depression wird der Einsatz von geeigneten Fokusassessments empfohlen. Als Verdachtsmoment können einerseits depressionsassoziierte Ergebnisse der ganzheitlichen Assessments RAI oder BESA/Zwei-Fragen-Test, aber auch sonstige Hinweise auf gedrückte Stimmung und/oder Antriebsverminderung genutzt werden.

Fremdbeurteilung

Zur Fremdbeurteilung wird die CSDD, Cornell-Skala für Depressionen bei Demenz, empfohlen [6]. Bei der CSDD handelt es sich um einen strukturierten Fragebogen mit 19 Items, bei dem depressionsassoziierte Symptome über den Verlauf der vergangenen Woche hinweg eingeschätzt werden. Der Cut-off für den Verdacht auf eine Depression bei Demenz liegt bei 8, jedoch kann euch bei niedrigeren Scores Handlungsbedarf bestehen. Die psychometrischen Werte für die englische Version weisen auf hohe Spezifität und Sensitivität sowie gute Interrater-Reliabilität hin. Sowohl in einer Population von älteren Menschen mit Demenz als auch in einer Population von älteren Menschen ohne Demenz ist die Validität des CSDD gegeben. Für die deutsche Version liegt bislang keine Validierung vor.

Selbsturteilung

Zur Selbstbeurteilung wird die 15-Item-Version der GDS, Geriatric Depression Scale [5], empfohlen, die in der deutschen Version eine hohe Sensitivität und Spezifität für Menschen über 65 Jahre aufweist [7]. Die psychometrischen Eigenschaften der englischen Version weisen auf reduzierte Validität der GDS bei mittlerer und fortgeschrittener Demenz hin (5), für die deutsche Version liegt keine Validierung für Menschen mit Demenz vor. GDS und CSDD wurden in einer Studie verglichen [8]. Es zeigte sich eine hohe Übereinstimmung der beiden Skalen, jedoch zeigte die CSDD Vorteile bei Patienten mit Demenz.

Delir

Ältere Menschen haben oft viele Risikofaktoren für die Entwicklung eines Delirs. Mit dem Eintritt in eine Institution (Umgebungswechsel) besteht bereits ein hohes Risiko für Delir. Kommen weitere Risikofaktoren dazu, erhöht sich das Risiko für ein Delir stark.

Es ist daher zentral, frühzeitig die Risiken zu kennen und, wo möglich, diese auszuschliessen. Zudem sollten von Eintritt weg delirpräventive Massnahmen ergriffen werden, um die Entwicklung eines Delirs zu vermeiden. Delirrisikofaktoren und delirpräventive Massnahmen sind bei Savaskan und Kollegen [9] sowie auch von Gunten und Kollegen [10] aufgelistet und könnten anhand einer Checkliste eingeschätzt werden.

Zusammenfassung Depression
  • Im RAI insgesamt ausreichend erscheinendes Assessment der Depressivität
  • Im BESA ungenügend abgebildet. Zwei-Fragen-Test und GDS sollten regelmässig zusätzlich eingesetzt werden.
  • Im Fokusassessment liegen mit der CSDD und der GDS geeignete Skalen für die Fremd- und Selbstbeurteilung vor.
  • Für die Praxis empfehlen wir, dass
  • Delirrisikofaktoren und delirpräventive Massnahmen auf deren Notwendigkeit bei Eintritt mittels Checkliste eruiert werden;
  • die Identifikation der Risikopatienten/-bewohner bei Eintritt in eine Institution beginnt und ein Delir-Assessment durchgeführt wird;
  • das Delir-Assessment grundsätzlich bei Verhaltensänderung durchgeführt wird, nachdem andere Bedürfnisse oder Beschwerden als Ursache der Verhaltensänderung ausgeschlossen wurden (Obstipation, Schmerz …). Die Beobachtungen der Betreuer/innen sind entscheidend bei der Beurteilung bezüglich Verhaltensveränderung.

Es gibt keine Allround-Skala hinsichtlich des Screenings oder des Assessments vom Delir, die in allen Settings gleichermassen gut eingesetzt werden kann. RAI und BESA sind nicht für akute Ereignisse konzipiert, trotzdem sind DOS und CAM im BESA als Fokusassessments implementiert. Alle vorgeschlagenen Skalen haben Vor- und Nachteile und sollen auf der Basis von individuellen Anforderungen und vom Setting ausgewählt werden. Folgende Skalen werden empfohlen und sind mit einer Ausnahme als elektronisches Supplement hinterlegt bzw. über www.delir.info verfügbar:

Delirskalen

DOS: Delirium Observation Screening Scale

Die DOS ist eine auf der Basis von DSM-IV entwickelte Beobachtungsskala für Pflegefachpersonen [11]. Die Skala beschreibt im Pflegealltag beobachtbare Verhaltensweisen. Vorteile der Skala sind, dass sie keine belastenden Fragen beinhaltet und die Kriterien am Pflegealltag orientiert sind. Die Nachteile sind, dass die Skala nicht sensitiv für das hypoaktive Delir ist und nicht trennscharf zur Demenz. Die revidierte Version erreichte eine Sensitivität von 94,4 % und eine Spezifität von 76,7 %, was die niedrige Trennschärfe zwischen Demenz und Delir erklärt. Übersetzung und Manual sind unter «www.delir.info» zu finden.

CAM: Confusion Assessment Method

Die CAM wurde auf der Basis von DSM-III-R-Kriterien entwickelt. Die Kurzversion enthält fünf Kriterien, die Langversion zehn. Beide Versionen liefern ein dichotomes Resultat: Delir «ja» oder «nein». Im Manual zur CAM wird auf zwei unterschiedlich sensitive Varianten des Algorithmus hingewiesen: Die sogenannte «Oder»-Variante verlangt das Vorhandenseins des akuten Beginns oder des fluktuierenden Verlaufs und führt dadurch zu einer höheren Sensitivität, die «UND» Variante ist strenger und verlangt das Vorhandensein beider Kriterien. Gegenüber der Kurzversion liefert die Langversion mehr Informationen, verlangt jedoch die Erfüllung des Algorithmus der Kurzversion. Die CAM [12, 13, 14] ist in mehreren klinischen Settings validiert worden und liegt in deutscher Sprache in verschiedenen Versionen vor. Die Einschätzung ohne strukturiertes Vorgehen, d.h., ohne ein formales Assessment, ist fehleranfällig. Für die Durchführung der Skala braucht es ein vorangehendes Training. Eine Übersetzung ist auf www.delir.info zu finden.

Zwei neue, sich in der Entwicklungsphase befindliche Instrumente, werden in absehbarer Zukunft die Assessment-Verfahren ergänzen:

I-AgeD: Assessment of Geriatric Delirium Scale

I-AgeD [15] basiert auf der Einschätzung von Laien wie z.B. Angehörige oder der primären Bezugsperson des Betroffenen. Gegenwärtig befindet sich die Skale in der Übersetzung und Validierung. Weil sie die Informationen der Drittpersonen wiedergibt, ist sie eine gute Ergänzung. In der Langzeitpflege wird sie in den Pflegeheimen von Curaviva in der Region Basel als Delirerfassungsinstrument für die Pflegenden eingesetzt.

4AT: 4-A-Test

Die Entwicklung von 4AT [16] wird von der European Delirium Association vorangetrieben. Die Skala ist inzwischen übersetzt und befindet sich in der Validierungsphase. In der Anwendung geht sie schnell, und sie ist ohne spezielle Schulung auch bei unkooperativen Bewohnern/innen einsetzbar.

Behaviorale und psychologische Symptome der Demenz

Ein Grossteil der Menschen mit Demenz zeigen während einer oder mehrerer Phasen des Krankheitsverlaufs verhaltensbezogene und psychische Symptome (Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia BPSD), die für die Betroffenen selbst und für ihr soziales Umfeld eine grosse Herausforderung und Belastung darstellen [17]. Dabei sind unter verhaltensbezogenen Symptomen z.B. Agitation, Umherwandern, Aggression, Apathie oder sexuelle Enthemmung zu verstehen, während zu den psychischen Symptomen z. B. Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Angst oder Euphorie gehören. Der aktuelle Stand der Diagnostik sowie der auf Evidenz und klinische Erfahrung basierenden Therapiemöglichkeiten finden sich bei Savaskan und Kollegen [9].

Um das Vorhandensein und den Schweregrad von BPSD sowie deren Auswirkungen auf das soziale Umfeld der Betroffenen verlässlich zu ermitteln, sind validierte, in der Praxis einfach anwendbare Assessment-Instrumente nötig. Diese bieten einerseits die Grundlage für die interprofessionelle Behandlungsplanung und unterstützen andererseits die Qualitätssicherung und -entwicklung. Insbesondere bei Bewohnern/innen mit schweren BPSD (z.B. mit Schreien, schwerer Agitation, wiederholter körperlicher Aggression) braucht es Grundlagen für Entscheidungen bezüglich der internen Ressourcenverteilung und Versorgungsmöglichkeiten.

Das Assessment von BPSD ist die Grundlage interprofessioneller, individueller Behandlungsplanung und muss deshalb neben Informationen über das Vorhandensein und den Schweregrad bestimmter Symptome auch die Suche nach deren Ursachen und Auslöser unterstützen. Letztere sind komplex und multifaktoriell [17]. In der aktuellen Literatur zu diesem Thema sowie in internationalen Leitlinien zum Management der BPSD wird zum Verständnis der Entstehungsdynamik von BPSD ein biopsychosoziales Modell propagiert [17]. BPSD werden demnach nicht ausschliesslich als Folge von hirnorganischen Beeinträchtigungen, sondern immer auch als potenzieller Ausdruck von beeinträchtigten körperlichen, psychischen und sozialen Bedürfnissen interpretiert. Professionelles Management von BPSD bedingt deshalb eine systematische Ermittlung dieser hochindividuellen Bedürfnisse.

Mit den in der Deutschschweizer Langzeitpflege verwendeten Bedarfsermittlungssystemen BESA und RAI/RUG werden einige Formen von BPSD erfasst. Allerdings sind Anzahl und Inhalt der entsprechenden Items in den beiden Systemen sehr unterschiedlich. Keines der Systeme ist auf Reliabilität und Validität hinsichtlich der BPSD-Erfassung getestet worden. Bei beiden Systemen werden nur das Vorhandensein und die Frequenz von BPSD ermittelt, nicht jedoch der Schweregrad und die daraus folgende Belastung für das Umfeld. Vor diesem Hintergrund ist der Einsatz von zusätzlichen, validierten Assessment-Instrumenten für BPSD für Fokusassessments aus mehreren Gründen zu empfehlen. Einerseits zur zuverlässigen und vollständigen Erfassung der verschiedenen Formen von BPSD und zur Ermittlung des Schweregrades der BPSD und der daraus folgenden Belastung für die Pflegenden/ Angehörigen. Darüber hinaus auch für die Interpretierbarkeit und Vergleichbarkeit der Daten und als Grundlage für die Evaluation von Verläufen.

Neben einer hinreichenden Testgüte sollte ein praktikables Assessment-Instrument zur Erfassung von BPSD folgende Kriterien erfüllen: Die Testdurchführung sollte von praxiskompatibler Dauer (max. 15 Minuten) und der Test sollte von diplomierten Pflegefachpersonen FH/HF ohne intensives Training anzuwenden sein. Das eingesetzte Instrument sollte bekannt und weit verbreitet und zudem kompatibel mit dem biopsychosozialen Modell sein.

Nach Sichtung der aktuellen wissenschaftlichen Literatur zu den auf Deutsch validierten Assessment-Instrumenten für BPSD erfüllt das Neuropsychiatrische Inventar NPI von Cummings [17] diese Kriterien am besten. Mit dem NPI werden nicht nur Häufigkeit und Schweregrad der verschiedenen Formen von BPSD erfasst, sondern auch die Belastungen, die für die Pflegenden durch diese Symptome entstehen. Es ist ein weitverbreitetes Instrument, das in einer validierten deutschsprachigen Version vorliegt [18]. Die deutschsprachige Originalversion des NPI kann bezogen werden unter: https://eprovide.mapi-trust.org/instruments/neuropsychiatric-inventory#languages.

Die Arbeitsgruppe empfiehlt bei deutlichen Veränderungen in der Stimmung, dem Verhalten und/oder bei einem oder mehreren der in Tabelle 1 genannten Merkmalen im Basisassessment von BESA oder RAI/RUG ein Fokusassessment mittels NPI durchzuführen.

Eine Ermittlung von Vorhandensein und Schweregrad von BPSD und der dadurch entstehenden Belastung ist möglich, liefert aber noch zu wenige Informationen für die Planung einer individuellen Behandlung und Pflege. Es ist deshalb ein weiterführendes Assessment erforderlich, das den Ursachen und Auslösern der vorkommenden BPSD auf den Grund geht. Dabei wird in der internationalen Fachliteratur ein systematisches Vorgehen empfohlen. Ein validiertes Assessment-Instrument für die Ermittlung von Ursachen und Auslösern von BPSD liegt noch nicht vor. Es wurden aber von internationalen Expertenarbeitsgruppen Algorithmen erarbeitet, die die Behandlung- und Pflegeteams bei dieser Suche und gleichzeitig bei der Interventionsplanung unterstützen. Tible und Kollegen [19], eine Arbeitsgruppe von Schweizer Universitätskliniken, empfehlen den BPSD-DATE-Algorithmus (Übersetzung aus dem Englischen durch die Arbeitsgruppe) (Abb. 1).

Tabelle 1 BPSD-Merkmale im Basisassessment
Abbildung 1 BPSD-DATE-Interventionsalgorithmus.
Zusammenfassung BPSD
  • Weder RAI noch BESA erfassen alle Formen von BPSD
  • NPI als Fokusassessment zu empfehlen
  • Ursachensuche und Behandlung am ehesten im BPSD-DATE abgebildet

Elektronisches Zusatzmaterial

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Prof. Dr. med. Stefan Klöppel, Direktor und Chefarzt, Universitätsklinik für Alterspsychiatrie und Psychotherapie, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern, Murtenstrasse 21, 3008 Bern,