Zusammenfassung
Hintergrund
Zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie wurde das öffentliche Leben in Deutschland durch Kontaktbeschränkungsmaßnahmen (im weiteren Verlauf zur Lesevereinfachung als „Lockdown“ bezeichnet) reduziert, u. a. um Ressourcen des Gesundheitssystems für die Behandlung von COVID-19-Patienten zur Verfügung zu stellen. Parallel dazu konnte man im öffentlichen Gesundheitswesen einen Rückgang von Notfallpatienten feststellen.
Methode
Für zwei 10-wöchige Zeitspannen vor und während des Lockdowns wurden die Einsatzzahlen des Rettungsdiensts in 6 Rettungsdienstbereichen in der Metropolregion Rhein-Main für 6 Tracerdiagnosen analysiert. Zufällige Effekte wurden durch einen Vergleich mit den entsprechenden Zeitspannen 2018 und 2019 und einem errechneten Erwartungswert minimiert.
Ergebnisse
Für Notfalleinsätze des Rettungsdiensts kam es während des Lockdowns zu einer Verminderung der Einsatzzahlen (−16 %). Eine Reduktion unter dem Stichwort kardiale und zerebrale Ischämien fand sich in 20 %. Im Stadtgebiet Frankfurt am Main war der Rückgang bei kardialen Ischämien mit 14 % geringer ausgeprägt als im Umland mit 23 %. Die Einsatzzahlen für Intoxikationen gingen um 27 %, für psychiatrische Notfälle um 16 % zurück.
Schlussfolgerung
Der öffentliche Rettungsdienst wurde durch die COVID-19-Pandemie zahlenmäßig nicht überbelastet, es kam während des Lockdowns zu einem Rückgang der Einsätze. Für die Reduktion bei den zerebralen oder kardialen Ischämien fehlen die Erklärungsmodelle für den Einfluss des Lockdowns. Weitere Studien zum Nutzungsverhalten des Rettungsdiensts während eines Lockdowns erscheinen notwendig, um für das Patientenoutcome möglicherweise fatale Mindernutzungen zu detektieren und durch Aufklärung gegensteuern zu können.
Abstract
Background
To contain the coronavirus disease (COVID-19) pandemic, public life was reduced through contact restriction measures (referred to as “lockdown” in the further course for reading simplicity), among other things to make health system resources available for the treatment of COVID-19 patients. In parallel, a decrease in emergency patients was observed in the public health system.
Methods
For two 10-week periods before and during the lockdown, ambulance service deployment rates were analysed in 6 ambulance service areas for 6 tracer diagnoses. Random effects were minimised by comparing the results with the corresponding 2018 and 2019 time periods and a calculated expected value.
Results
For emergency ambulance service calls, there was a reduction in call numbers (−16%) during the lockdown. A 20% reduction for the categories cardiac and cerebral ischaemia was found. In the urban area, the reduction in cardiac ischaemia was less pronounced at 14% than in the surrounding area at 23%. The deployment figures for intoxications decreased by 27% and for psychiatric emergencies by 16%.
Conclusion
The public ambulance service was not overwhelmed by the COVID-19 pandemic; there was a decrease in depolyments during the lockdown. For the reduction in cerebral or cardiac ischaemias, the explanatory models for the influence of the lockdown are missing. Further studies on the utilisation behaviour of the ambulance service during a lockdown appear necessary in order to detect potentially fatal reductions in utilisation for the patient outcome and to be able to counteract them through education.
Einleitung
In Deutschland wurde während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie u. a. durch Geschäftsschließungen und Einschränkungen sozialer Kontakte das öffentliche Leben reduziert. Vereinfacht, und der öffentlichen Berichterstattung angepasst, werden diese Maßnahmen unter dem Begriff Lockdown beschrieben. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese Maßnahmen nicht mit den Regelungen in anderen europäischen Ländern, wie z. B. in Teilen Italiens oder Spaniens, gleichzusetzen sind.
Die Krankenhäuser sollten sich auf eine unbekannte Zahl an Schwerstkranken mit respiratorischer Insuffizienz vorbereiten und zusätzliche Intensivkapazitäten schaffen.
Kliniken in Deutschland beobachteten während des Lockdowns, dass weniger Patienten mit akuten Erkrankungen ambulant oder stationär behandelt wurden.
Eine große Krankenversicherung ermittelte, dass im März 2020 rund 25 % weniger Patienten mit einem Herzinfarkt im Vergleich zum März 2019 in Kliniken aufgenommen wurden [1].
Andere Länder beobachteten eine Reduktion der Notfallinterventionen bei akuten Koronarsyndromen (AKS) oder ST-Hebungs-Infarkten (STEMI; [2,3,4]).
Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie vermutet ursächlich die Angst der Notfallpatienten, durch Einschränkungen in der Elektivversorgung in den Kliniken nicht ausreichend versorgt zu werden bzw. sich dort mit SARS-CoV‑2 zu infizieren [5].
Ziel dieser retrospektiven multizentrischen Untersuchung ist es, den präklinischen Sektor der Notfallversorgung unter dem Einfluss des Lockdowns aus Sicht des öffentlichen Rettungsdiensts zu beleuchten und Veränderungen der Einsatzzahlen des Rettungsdiensts der Rhein-Main-Region während der ersten Welle der nationalen COVID-19-Pandemie auszuwerten. Die Equator-Network-Empfehlungen zur Bewertung dieser retrospektiven multizentrischen Beobachtungsstudie [6] wurden berücksichtigt.
Methodik
Wir verglichen in zwei gleichgroßen Zeitintervallen von je 10 Kalenderwochen die Einsatzzahlen von Primäreinsätzen des Rettungsdiensts in der Stadt Frankfurt am Main und den umliegenden Landkreisen Main-Taunus-Kreis, Hochtaunuskreis, Main-Kinzig-Kreis, Landkreis Offenbach sowie Stadt Offenbach am Main. Beide Zeitintervalle ergaben sich durch einen Erlass des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration zur Reduktion der sozialen Kontakte vom 14.03.2020 [7].
Das Intervall vor der Reduktion der sozialen Kontakte (im weiteren „before lockdown“ [BLD]) umfasst die Kalenderwochen 1–11 (06.01.2020–15.03.2020), die Kalenderwochen 12–21 (16.03.2020–24.05.2020) entsprechen dem Intervall während des Lockdowns („while lockdown“ [WLD]). Als Kalenderwoche wurden jeweils Montag 00:00 Uhr bis Sonntag 24:00 Uhr definiert.
Untersucht wurden die beiden Intervalle für das Jahr 2020, dazu vergleichend die identischen Kalenderwochen der Jahre 2018 und 2019 (als 1_20xx und 2_20xx bezeichnet). Aus den Einsatzzahlen 2018/2019 und der BLD-Phase 2020 wurde ein Erwartungswert für die WLD-Zeitspanne 2020 errechnet und mit den realen Einsatzzahlen verglichen.
Eingeschlossen wurden einige Tracerdiagnosen aus dem Eckpunktepapier zur notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung [8], wie „Polytrauma“, „Schlaganfall“ und „Herzinfarkt“, sowie die Arbeitsdiagnosen „psychiatrischer Notfall“ und „Alkoholintoxikation“. Bei der Tracerdiagnose „Schlaganfall“ wurden alle Arbeitsdiagnosen „stroke“, die aufgrund des klinischen Bilds zur Zuweisung in eine Klinik geführt haben, einbezogen und werden daher zusammenfassend als zerebrale Ischämien geführt. Bei der Tracerdiagnose „Herzinfarkt“ wurden Leitsymptome des nichttraumatischen Brustschmerzes mit oder ohne EKG-Veränderungen (AKS, NSTEMI, STEMI) zusammengefasst und im Folgenden als kardiale Ischämie beschrieben. Es handelt sich immer um präklinische Verdachtsdiagnosen, ein Abgleich mit der bestätigten klinischen Diagnose erfolgte nicht.
Zusätzlich wurden die Gesamteinsatzzahlen, die daraus folgenden Transporte, die Zahl der aufgetretenen präklinischen Reanimationen, primären Todesfeststellungen bzw. erfolglosen Reanimationen untersucht.
Als Datenquellen standen die Zuweisungsdokumentationen aus dem elektronischen Zuweisungssystem IVENA sowie die Leitstellendaten zur Verfügung (Tab. 1).
Infobox IVENA
Der interdisziplinäre Versorgungsnachweis (IVENA) ist eine webbasierte Anwendung, die die aktuellen Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten der Krankenhäuser anzeigt (www.ivena.de). Die Arbeitsdiagnosen werden als Zahlencode (Patientenzuweisungscode [PZC]) verschlüsselt.
Maßgeblich bei der Auswertung war die dokumentierte Eintreffzeit am Einsatzort.
Eine Unterscheidung nach eingesetztem Rettungsmittel (arztbegleitet/nicht arztbesetzt) erfolgte ebenso wenig wie die Schweregradklassifizierung z. B. nach dem NACA-Score.
Die Daten wurden anonymisiert in einer Wertetabelle zusammengetragen. Nur dem Studienleiter war die Zuordnung zum Rettungsdienstbereich möglich. Um die Einsatzzahlen der Rettungsdienstbereiche vergleichbar zu machen, wurden sie pro 100.000 Einwohner umgerechnet. Als Divisor wurden jeweils die Einwohnerzahlen vom März des Jahres nach Angaben des Statistischen Landesamts Hessen (Tab. 2) herangezogen [9].
Die Daten der teilnehmenden Rettungsdienstbereiche wurden kumuliert (alle), getrennt für Frankfurt und Umland (5 RD-Kreise) ausgewertet, um mögliche Unterschiede zwischen dem Großstadtbereich und dem Umland aufzudecken und der verminderten Pendlerzahl unter „Lockdown“ gerecht zu werden.
Bei den Subgruppenanalysen zu „kardialer Ischämie“ und Alkoholintoxikationen wurde differenziert zwischen häuslichem Umfeld (Wohnung) und öffentlichem Raum ausgewertet.
Für das Krankheitsbild der kardialen Ischämie führten wir dies, unter der Annahme, dass beruflicher Stress das Krankheitsbild negativ beeinflusst, durch. Der Arbeitsplatz wird als öffentlicher Raum definiert, wohingegen der Homeoffice-Arbeitsplatz dem häuslichen Umfeld zugerechnet wurde.
Konzeption und Durchführung der retrospektiven Kohortenstudie wurden mit den zuständigen Datenschützern abgeglichen und von der Ethikkommission der Landesärztekammer Hessen genehmigt.
Datenanalyse
Die anonymisierten Einsatzdaten der Rettungsdienstbereiche wurden im zentralen Datenmanagement zusammengeführt und mithilfe des Statistikprogramms R, Version 4.0.3 [31], analysiert.
Zunächst erfolgte eine deskriptive Datenanalyse. Zur übersichtlichen grafischen Darstellung wurden alle aufgelisteten Werte auf ganze Zahlen gerundet, die Berechnung erfolgte mit 4 Nachkommastellen. Unter Verwendung der offiziellen Einwohnerzahlen wurde je betrachteter Verdachtsdiagnose und Rettungsdienstkreis aus der Summe der Einsätze die Inzidenz pro 100.000 Einwohner berechnet. Anhand der realen Einsatzzahlen der Zeiträume 1_2018, 2_2018, 1_2019, 2_2019 und 1_2020 (BLD) wurde eine lineare Regressionsanalyse gerechnet. Mithilfe der jeweiligen Regressionsmodelle konnten Prognosen für die jeweiligen Einsatzzahlen im Zeitraum WLD 2020 erstellt werden. Diese Erwartungswerte wurden dann mit der Zahl der real erfolgten Einsätze prozentual auf Zu- oder Abnahme untersucht. Weiterhin wurde die Entwicklung der Einsatzzahlen für die Jahre 2018, 2019 und 2020 zwischen den untersuchten 10-wöchigen Zeitspannen untersucht sowie Abweichungen in Prozent, deren Mittelwert und die Standardabweichung ermittelt (Tab. 3).
Ergebnisse
Für die Gesamtheit der Einsatzzahlen besteht eine 100 %ige Datenvollständigkeit. Lediglich bei der Subgruppenanalyse Alkoholintoxikation und bei der differenzierten Betrachtung psychiatrischer Krankheitsbilder liegt in 2 der 6 Rettungsdienstbereiche nur eine 98 %ige Datenvollständigkeit vor.
In allen Rettungsdienstbereichen zeigten sich deutliche Reduktionen der Einsatzzahlen (Abb. 1). Für alle Bereiche zusammen ergab sich im Zeitraum WLD 2020 ein Prognosewert von 54.051 Einsätzen respektive 2516 Einsätzen/100.000 Einwohner. Die realen Einsatzzahlen lagen mit 47.895 Einsätzen bzw. 2230/100.000 um 12 % unter dem prognostizierten Wert.
Bezogen auf die in dieser Arbeit näher betrachteten Einsatzstichworte findet man bei allen Entitäten, mit Ausnahme der psychiatrischen Einsätze, eine Reduktion der Einsatzzahlen (pro 100.000 Einwohner) im Vergleich zu den Erwartungswerten (Abb. 2).
Für den Beobachtungszeitraum 2020 ergab sich für die Tracerdiagnose Polytrauma eine Reduktion von 34 % (BLD/WLD: 3/2) , für zerebrale Ischämien von 20 % (BLD/WLD: 67/54).
Bei kardialen Ischämien fand sich eine Reduktion von 20 % (BLD/WLD: 69/55). Für das Stadtgebiet Frankfurt lag die Differenz mit −14,4 % (BLD/WLD: 66/56) niedriger als in den umliegenden Rettungsdienstbereichen (−23 %, BLD/WLD: 71/55).
Die Subgruppenauswertung bezüglich der Örtlichkeit bei kardialen Ischämien fand für Wohnungen in Frankfurt ein Minus von 9,4 % (BLD/WLD: 54/49), im Umland −18 % (BLD/WLD: 62/51). Für den öffentlichen Raum (inklusive Arbeitsstätten) ergab sich in Frankfurt ein Minus von 38 % (BLD/WLD: 11/7), im Umland −56 % (BLD/WLD: 8/4; Abb. 3).
Psychiatrische Notfälle reduzierten sich kumuliert um 16 % (BLD/WLD: 45/38), Intoxikationen um 27 %(BLD/WLD: 30/22).
Wertet man die Alkoholintoxikationen nach dem Einsatzort in Frankfurt aus, ergibt sich ein leichter Anstieg für Wohnungen (BLD/WLD: 10/12), jedoch eine Reduktion um 31 % im öffentlichen Raum (BLD/WLD: 43/25; Abb. 4).
Diskussion
Die in klinischen Studien beobachtete Reduktion von medizinischen Notfällen insgesamt [10] während des Lockdowns zeigt sich auch in unserer Untersuchung zu den präklinischen Einsatzzahlen.
Schon 2018 und 2019 gab es einen Rückgang der Einsatzzahlen im Vergleich der KW 1–11 und der KW 12–21 um etwa 7 %, möglicherweise waren die im 2. Zeitraum liegenden Osterferien dafür ursächlich. Im Jahr 2020 betrug der Einsatzrückgang jedoch 16 %. Auch 2020 fielen die Osterferien in den Beobachtungszeitraum WLD und könnten zur Einsatzreduktion beigetragen haben.
Schließt man den „Ferieneffekt“ mit ein, ergibt sich 2020 trotzdem eine ausgeprägtere Reduktion in Bezug auf den Erwartungswert um 8 Prozentpunkte.
Boender et al. fanden für 10 zentrale Notaufnahmen in Deutschland einen Rückgang täglicher Vorstellungen ab Mitte März um bis zu 40 % [11].
In den USA konnte während der ersten Pandemiewelle ein Rückgang der Fallzahlen in „emergency departements“ um 42 % beobachtet werden; hingegen stieg die Zahl der Patientenkontakte mit infektionsassoziierten Erkrankungen um das Vierfache [12].
Normalerweise scheint für große Teile der Bevölkerung eine niedrige Schwelle für eine „eigenständige“ Vorstellung in einer zentralen Notaufnahme zu bestehen, diese hat dann im Lockdown aus Angst vor COVID-19-Kontakten deutlich zugenommen.
Präklinisch fanden wir eine geringere Reduktion der Einsatzzahlen (−16 %) während des Lockdowns. Möglicherweise wurden die Beschwerdebilder und klinischen Symptome als so gravierend empfunden, dass man nicht aus Angst vor einer SARS-CoV-2-Ansteckung vor einer Alarmierung des Rettungsdiensts zurückschreckte.
Ähnlich wie Ramshorn-Zimmer et al. [13], die einen signifikanten Rückgang traumatologischer Patienten in Leipzig beobachteten, fanden wir eine deutlich geringere Zahl an polytraumatisierten Patienten, bezogen auf den Erwartungswert.
Ursache könnte die Ausweitung von Homeoffice-Arbeitsplätzen sein, die Pendlerströme erheblich reduzierte. Der Verkehr in Frankfurt, einer Großstadt mit einem Pendleranteil von werktätigen 375.000 Pendlern – davon ca. 270.000 aus Hessen –, reduzierte sich während des Lockdowns [14] um bis zu 40 %.
Bei den Einsatzzahlen für eine zerebrale Ischämie fanden wir eine Reduktion während des Lockdowns von 21 % gegenüber dem Erwartungswert.
Morelli et al. untersuchten die Fallhäufigkeit in einer italienischen Stadt und fanden während des Lockdowns eine drastischere Reduktion von 88 % pro Monat [15].
Sie hielten die These, dass Patienten aus Angst vor einer Infektion oder mit der Intention, das Gesundheitssystem nicht zusätzlich zu belasten, freiwillig zu Hause blieben, für nicht haltbar.
Stattdessen postulieren sie, dass in der Pandemie apoplektische Insulte wegen respiratorischer Begleitsymptome übersehen wurden.
Bezogen auf unsere Untersuchung halten wir diesen Erklärungsansatz für nicht gegeben. Wenn man davon ausgeht, dass bei nur 6,5 % aller Transporte des Rettungsdiensts ein COVID-Verdacht (bzw. ein Nachweis) bestand, dürfte der Anteil der pulmonalen Probleme, die die Symptome einer zerebralen Ischämie kaschierten, sehr gering sein.
Vertritt man die Hypothese, dass Symptome aus Angst vor Ansteckung in der Klinik übergangen wurden, könnte man eine Zunahme der Klinikzuweisungen mit zerebralen Ischämien älter als 24 h (als mögliches Zeichen, dass die Leute „bis zum Schluss gewartet haben“) erwarten. Die Datenauswertung ergab aber auch für diesen Zuweisungscode verringerte Einsatzzahlen während des Lockdowns.
In Deutschland, weiteren europäischen Ländern und den USA [16] zeigte sich ein Rückgang diagnostizierter kardialer Ischämien.
Auch Dreger et al. berichten an der Berliner Charité über um 20 % geringere Aufnahmeraten von kardialen Ischämien während der Pandemie [17].
Eine österreichische Arbeitsgruppe ermittelte eine 40 %ige Reduktion für das akute Koronarsyndrom zwischen der 10. und 14. Kalenderwoche 2020 [18].
Eine spanische Arbeitsgruppe verglich die klinischen kardialen Interventionen aus 73 Zentren. Sie fand eine Reduktion an diagnostischen Katheterinterventionen um 56 % sowie Gefäßeröffnungen bei STEMI um 40 % [19].
De Fillipo et al. erhoben einen signifikanten Abfall von AKS-assoziierten Krankenhausaufnahmen in 15 italienischen Zentren in der Anfangsphase der Pandemie. Sie postulierten, dass mehr Patienten in Zusammenhang mit einem AKS verstarben, weil sie während der ersten Welle der Pandemie keine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hätten. Die Zunahme an außerklinischen Todesfällen sei aber nicht völlig mit den COVID-19-assoziierten Todesfällen erklärbar [20].
Auch wir fanden eine Reduktion (−20 %) der kardialen Ischämien bei Rettungsdiensteinsätzen während des Lockdowns. Eine Subgruppenanalyse für Frankfurt zur kardialen Ischämie bezogen auf den Einsatzort ergab eine Reduktion um 37 % für den „öffentlichen Raum“, zu dem auch die Arbeitsstätte zählt. Für die häusliche Umgebung fand sich in Frankfurt ein Rückgang der Einsätze um 9,4 %. Es wäre zu vermuten, dass die Rate der Einsätze in Privatwohnungen im Umland konstant bleiben oder gar steigen würde, da dies als überwiegender Wohnort der Einpendler anzusehen ist und während des Lockdowns oft für Homeoffice-Tätigkeit genutzt wurde. Diese Vermutung bestätigten die Einsatzzahlen (Umland −18 %) im häuslichen Umfeld nicht.
Postuliert man, dass weiterhin die Mehrzahl der Arbeitnehmer während des Lockdowns vor allem im Homeoffice arbeiteten, könnte vermutet werden, dass die Tätigkeit im Homeoffice weniger AKS „auslöst“. Für die These eines erniedrigten Stresslevels beim Arbeiten im häuslichen Umfeld spricht eine von der Deutschen Angestellten-Krankenkasse beauftragte Befragung von rund 7000 Mitgliedern vor und während der Pandemie. Sie ermittelte einen Rückgang des Stressempfindens im Homeoffice um 29 % [21]. Zu klären wäre, ob im Homeoffice ein anderer „arbeitsassoziierter“ Stress als am klassischen Arbeitsplatz vorliegt und durch die vermehrte Arbeit im Homeoffice weniger Menschen ein stressinduziertes kardiales Ereignis erleiden. Nicht außer Acht lassen darf man die Aspekte des veränderten Lebensstils im häuslichen Umfeld. Cransac-Miet et al. [22] fanden eine Zunahme des Nikotinkonsums und eine schlechtere Medikamentencompliance, Faktoren, die sich eher negativ auf ein Krankheitsgeschehen wie das AKS auswirken könnten.
Folgt man der These, dass weniger Patienten mit Symptomen einer kardialen Ischämie medizinische Hilfe während des Lockdowns in Anspruch genommen haben, müsste man vermehrt Todesfälle durch einen ischämiebedingten Kreislaufstillstand erwarten.
In unserer Untersuchung fand sich insgesamt eine erniedrigte Rate an Todesfällen (tot aufgefunden oder erfolglose Reanimation) von −10 % zwischen den beiden Vergleichsintervallen 2020 bzw. eine Reduktion von 16 % bezogen auf den Erwartungswert – für Frankfurt allein interessanterweise aber ein gegenläufiger Trend mit einem Anstieg um 16 %, für den jedoch keine schlüssige Erklärung vorliegt.
Eine italienische Arbeitsgruppe berichtete einen Anstieg außerklinischer Kreislaufstillstände (52 %) während der COVID-19-Pandemie. Drei Viertel des Anstiegs der detektierten OHCA waren assoziiert mit dem Verdacht auf oder bestätigter COVID-19-Infektion. Diese könnten durch respiratorische Komplikationen, Elektrolytverschiebungen oder seltenere erfolgreiche Bystander-Reanimationen erklärt sein.
Auch die Angst vor eine Infektion und damit Vermeidung von Rettungsdienst- und Krankenhauskontakt wird als Ursache diskutiert [23].
Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Autorengruppe in Paris: Hier stieg die Rate der OHCA während der Beobachtungsperiode signifikant von 13 auf 27/Mio. Einwohner. Auch sie fand eine höhere Rate an OHCA im häuslichen Umfeld, eine geringere Bystander-CPR und ein verzögertes Eintreffen des Rettungsdiensts [24].
Betrachtet man das weite Spektrum der psychiatrischen Notfälle, fällt ein Rückgang der Einsatzzahlen auf. Während 2018 die Rettungsdiensteinsätze unter dem Schlagwort psychiatrischer Notfall (u. a. Suizidalität, akute Erregung etc.) zwischen KW 1–11 und 12–21 nur um 6 % stiegen, mussten wir 2019 einen unerklärten Rückgang von 32 % registrieren.
Für die Zeitphase BLD und WLD 2020 fanden wir einen Rückgang um 16 %.
In Bezug auf den mit der Regressionsanalyse berechneten Erwartungswert fanden wir jedoch eine Zunahme der Einsatzindikationen. Dies korreliert mit einer vorangegangenen Untersuchung, mit einem verkürzten Beobachtungszeitraum von 6 Wochen und ausschließlich auf Frankfurt begrenzt (10.02.–22.03.2020 und 23.03.–03.05.2020), die ebenfalls eine Zunahme der psychiatrischen Einsätze aufzeigte [25].
Usher et al. beschrieben für Australien eine Zunahme der häuslichen Gewalt durch einen gesteigerten psychologischen Stresslevel während der COVID-19-Pandemie [26].
Von Gilian et al. wurden für China und Indien erhöhte Belastungen, eine Zunahme der posttraumatischen Belastungsstörung, Angstsymptome und Schlafstörungen während der Pandemie beschrieben. Für Deutschland beschrieb man eine Zunahme folgender Gefühlsstörungen: Niedergeschlagenheit, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit [27].
Entgegen dem beobachteten Anstieg des Alkoholkonsums [28] fanden wir eine kumulierte Reduktion der rettungsdienstlichen Einsatzzahlen für Alkohol- und Drogenintoxikationen um 21 %.
Eine Umfrage von Pollard et al. ergab einen allgemeinen Anstieg des Alkoholkonsums in den USA um die 20 %, bezogen auf die vergleichbaren Umfrageergebnisse aus 2019 [29].
Nicholls und Conroy stellten in ihrer Umfrage in Großbritannien fest, dass ein Viertel der Befragten mehr Alkohol als gewöhnlich konsumierte [30].
In unserer Studie fand sich kein Unterschied in der Einsatzhäufigkeit im häuslichen Umfeld, jedoch eine Reduktion im öffentlichen Raum (−37 %).
Limitationen
Es gelten die prinzipiellen Limitationen einer retrospektiven Registerstudie. In unserem Fall arbeiteten wir mit den Verdachtsdiagnosen durch den Rettungsdienst, Aussagen über die Validität der gemeldeten Daten können nicht getroffen werden. Die Datenqualität und Vollständigkeit selbst waren gut. Aus den analysierten Daten selbst können keine Rückschlüsse auf die Versorgungsqualität und das medizinische Outcome, insbesondere auf etwaige negative Folgen einzelner Patienten, abgeleitet werden. Die Fallzahl in dem Beobachtungszeitraum ist begrenzt. Aufgrund der begrenzten Gruppengrößen und Beobachtungszeiträume erschien eine valide statistische Auswertung (z. B. mit Kruskal-Wallis-Test) nicht sinnvoll und wir haben uns auf die Beschreibung von Trends beschränkt. Gerade in Hinblick auf die vollständige Abbildung einer Region muss berücksichtigt werden, dass keine Rettungsdienstbereiche südlich von Frankfurt beteiligt waren. Weiterreichende Analysen und Ableitungen von strukturellen Entscheidungen benötigen eine differenziertere Betrachtung z. B. der Bevölkerungsstruktur und der Pendlerflüsse.
Schlussfolgerung
Durch die initiierten Maßnahmen des Lockdowns zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie sind die Einsätze des Rettungsdiensts in der Metropolregion mit ca. 2 Mio. Einwohnern um 15 % zurückgegangen. Nachvollziehbar ist die Reduktion bei Schwerverletzten von ca. 50 % aufgrund des deutlich verringerten Verkehrsaufkommens.
Für den 20 %igen Rückgang der Rettungsdiensteinsätze aufgrund kardialer oder zerebraler Ischämien lassen sich keine schlüssigen Erklärungen herleiten.
Kurzfristige negative Folgen mit einer gesteigerten (außer-)klinischen Sterblichkeit waren durch geringere Inanspruchnahme des Rettungsdiensts nicht zu verzeichnen.
Ausblick
Zieht man Schlüsse aus den Ergebnissen der ersten Welle der COVID-19-Pandemie, kann man feststellen, dass der öffentliche Rettungsdienst in der untersuchten Region dadurch nicht an seine Belastungsgrenzen gebracht wurde und das System dekompensierte. Die hier gefunden Daten dürfen jedoch nicht zu Überlegungen führen, dass rettungsdienstliche Ressourcen weiter reduziert werden könnten. Bei der derzeit geführten Diskussion zur Schaffung von Sekundärverlegungsressourcen, die gezielt eingesetzt werden sollen, um mit strategischen Patientenverlegungen regional unterschiedlich ausgelastete COVID-19-Normal- und -Intensivstationen von Krankenhäusern vor einem Kollaps zu bewahren, darf der gefundene Rückgang des Einsatzaufkommens beim öffentlichen Rettungsdienst von 15 % nicht überbewertet werden. Weiter ist zu vermuten, dass durch einen erheblich höheren zeitlichen und organisatorischen Aufwand durch strikte Nutzung umfangreicher persönlicher Schutzausrüstung und weitere verschärfte hygienische Anforderungen – und damit im Mittel möglicherweise gestiegene Einsatzdauern – der Rettungsdienst trotz weniger beobachteter Einsatzzahlen gleichbleibend belastet wird.
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Interessenkonflikt
F. Naujoks, U. Schweigkofler, W. Lenz, J. Blau, I. Brune, V. Lischke, H. Adler, I. Schindelin, H. Rouchi, H. Chobotsky und R. Gottschalk geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Die Autoren F. Naujoks und U. Schweigkofler haben zu gleichen Teilen zum Manuskript beigetragen.
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Naujoks, F., Schweigkofler, U., Lenz, W. et al. Veränderungen der rettungsdienstlichen Einsatzzahlen in einer Metropolregion während der ersten COVID-19-Pandemie-bedingten Kontaktbeschränkungsphase. Notfall Rettungsmed 26, 30–38 (2023). https://doi.org/10.1007/s10049-021-00875-z
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