Z Geburtshilfe Neonatol 2008; 212(3): 114-115
DOI: 10.1055/s-2008-1076835
Kommentar

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Zur Neuauflage der Leitlinie Nr. 024–019 „Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes”

Frühgeburt an der Grenze der LeitlinienfähigkeitNew Version of Recommendation No. 024–019 “Premature Birth at the Boundary of Infant Viability”Premature Birth at the Boundary of Viable RecommendationsC. Roll1
  • 1Abt. für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln, Universität Witten-Herdecke
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2008

2008

Publication Date:
24 July 2008 (online)

Wir haben eine neue Version der Leitlinie „Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes” – AWMF 024–019 von Dezember 2007 –, publiziert in dieser Ausgabe der Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie [1]. Ethische und rechtliche Grundlagen kommen in eigenen Abschnitten ausführlich zur Darstellung, gefolgt von konkreten, am Gestationsalter des Kindes ausgerichteten Handlungsvorschlägen. Seit dem Erscheinen der ersten Version im Jahr 1998 [2] sind zahlreiche Stellungnahmen und Leitlinien aus Ländern mit hohem medizinischen Standard neu erschienen oder überarbeitet worden [3], u. a. aus den USA [4] [5], Großbritannien [6], Australien [7], Italien [8] und zwei ebenfalls in deutscher Sprache, aus der Schweiz [9] und Österreich [10]. Worin sind sich diese Empfehlungen einig, worin unterscheiden sie sich? Alle basieren das Vorgehen auf dem Gestationsalter, und in allen gibt es einen Bereich, in dem keine generellen Empfehlungen gemacht werden, eine „Grauzone” von zumeist zwei Wochen. Wo diese zweiwöchige Grauzone angesiedelt ist, differiert nun zwischen den Empfehlungen von Fachgesellschaften verschiedener benachbarter Länder mit vergleichbarem medizinischem Standard und im Prinzip ähnlichen Wertevorstellungen erheblich. Die hier vorgelegten Empfehlungen aus Deutschland, getragen von der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie und der Deutschen Gesellschaft für Perinatalmedizin, sehen als „Grauzone” ein Gestationsalter von 220/7 bis 236/7 Schwangerschaftswochen an. Damit sind Deutschland und Österreich weltweit die einzigen Länder, in denen Empfehlungen von Fachgesellschaften die Grauzone bis in den Bereich von 220/7 bis 226/7 Schwangerschaftswochen vorverlegen. In Österreich haben sich allerdings die Geburtshelfer gegen ein aktives Vorgehen (Lungenreife, Kaiserschnitt aus kindlicher Indikation) vor 240/7 Wochen ausgesprochen. Auch in der Schweiz wird kein aktives Vorgehen unter 240/7 Wochen empfohlen, und zwar im Einklang aller Fachgesellschaften (Pädiatrie, Neonatologie, Gynäkologie und Geburtshilfe), als Grauzone gilt hier ein Gestationsalter 240/7 bis 256/7 Schwangerschaftswochen. In den meisten Leitlinien [3] wird die Grauzone genau zwischen diesen Extremen angesiedelt, d. h. eine generelle Therapie ab 250/7 Wochen empfohlen und von kurativen Interventionsversuchen unter 230/7 Wochen abgeraten.

Warum hat man in Deutschland und Österreich die Skala nach unten verschoben? Ist die Einstellung zu Sterben und Leiden, zu möglicher oder wahrscheinlicher Behinderung hier anders? Oder sind die Behandlungsergebnisse besser? Wir wissen in Deutschland weder, wie viele Frühgeborene mit einem Gestationsalter von 22 oder 23 Wochen tot geboren werden, und wie viele lebend geboren, aber nicht intensivmedizinisch behandelt werden, noch haben wir populationsbezogene Informationen über die Langzeitprognose von Frühgeborenen an der Grenze der Überlebensfähigkeit. Wir werden verlässliche Daten brauchen, wenn wir begründen wollen, warum wir uns an Grenzen wagen, die andere nicht unterschreiten, oder um uns eines Tages eventuell zu entscheiden, die Grenzen wieder auf das Niveau der meisten anderen Länder anzuheben. Befürworter niedrigerer Grenzen argumentieren, dass das Nicht-Überleben von extrem unreifen Frühgeborenen, aber auch eine Reihe von Folgeschäden der Intensivbehandlung durch die Tatsache bedingt sei, dass man ihnen ein Lebensrecht primär verweigert und sie nicht von Anfang an konsequent genug behandelt habe. Diese These entbehrt nicht der Plausibilität, aber sie bedarf einer Prüfung. Wir haben einen Text wie die aktualisierte Leitlinie, aber wir haben wenig belastbare Zahlen.

In der „Grauzone” gibt es Spielraum für Entscheidungen – aktives Handeln, vorläufige intensivmedizinische Unterstützung, wie es in den Österreichischen und Schweizerischen Leitlinien heißt – oder den primären Behandlungsverzicht. Wovon hängt es ab, welche Option ergriffen wird? Vom Zustand des Kindes bei der Geburt, vom klinischen Eindruck seiner Reife, vom Eindruck seiner Vitalität? Oder von einem grundsätzlichen Konzept der Klinik, in der das Kind geboren wird, respektive der Einstellung des jeweiligen behandelnden Geburtshelfers oder Neonatologen? Oder von den geäußerten oder vermeintlichen Wünschen und Vorstellungen der Eltern, ihren Grundwerten, ihrem Weltbild, ihrer Lebenssituation, ihrem sozialem Status? Hier wichten die Leitlinien – und sicherlich jeder Arzt – unterschiedlich. So wird die Vitalität des Kindes in der Leitlinie aus Österreich als wesentliches Entscheidungskriterium hervorgehoben – und ist in der Praxis sicherlich ein Faktor, der viele Neonatologen im Kreißsaal in ihrem Vorgehen bestimmt – während die hier vorgelegte Empfehlung den klinischen Zustand unmittelbar nach der Geburt, selbst in Zusammenschau mit der perinatalen Anamnese, als so wenig aussagekräftig einstuft, dass er nicht „Grundlage einer Entscheidung gegen die Lebenshilfe” sein könne.

Die Grenze der Lebensfähigkeit nur über das Gestationsalter definieren zu wollen entspricht nicht unserem heutigen Erkenntnisstand. Mädchen haben eine deutlich bessere Prognose als Jungen, Frühgeborene, die in einem Zentrum mit hohem Erfahrungsstand auf die Welt kommen, eine höhere Überlebenschance als solche, die in kleinen oder schlecht geführten Krankenhäusern behandelt werden. Die aktuelle Leitlinie – wie auch Empfehlungen in anderen Ländern – differenziert hier nicht, der erfahrene Neonatologe wird es tun [11].

Die aktuelle Empfehlung stellt die seit drei Jahren überfällige Überarbeitung der ersten Version von 1998 dar – was hat sich geändert im Vergleich zum damaligen Text? Schon in der Leitlinie von 1998 [2] waren die Grenzen der Grauzone wie heute definiert (220/7 bis 236/7 Wochen), aber der Tenor hat sich verändert. Während 1998 noch betont wurde, dass Ärzte als Garanten des Kindes den rechtlichen und ethischen Geboten zur Lebenserhaltung zu folgen und gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern zu handeln hätten, wird der Elternwille in der neuen Leitlinie gleich mehrfach betont: Im ersten Teil (ethische Grundlagen) beschäftigt sich ein Kapitel mit der Rolle der Eltern, stellt diese allerdings nur bedingt als mündige, gleichberechtigte Partner des Arztes dar. Im Teil rechtliche Grundlagen wird das Recht der Eltern deutlicher hervorgehoben, hier heißt es „auch wenn eine zu erwartende Behinderung des Kindes jedenfalls grundsätzlich nicht als Rechtfertigung zur Beendigung einer Therapie angesehen werden kann, wird ein Familiengericht bei unsicherer Prognose bzw. dann, wenn Chancen und Risiken sehr nahe beieinander liegen, sehr zurückhaltend sein, eine Entscheidung der Eltern zu ersetzen, wenn diese eine vom Arzt empfohlene Therapie ablehnen”. In den abschließenden Empfehlungen heißt es für Frühgeborene ab 22 bis 236/7 Schwangerschaftswochen ausdrücklich „Die Entscheidung über eine lebenserhaltende oder eine palliative Therapie hat in jedem Einzelfall den eingangs dargelegten ethischen und rechtlichen Grundsätzen zu entsprechen und sollte im Konsens mit den Eltern getroffen werden”.

Ist es schon schwer genug, den Wunsch der Eltern zu eruieren, fällt es uns oft noch schwerer, ihn zu respektieren. Obwohl etwa die American Academy of Pediatrics in der Grauzone (Gestationsalter 230/7–246/7) den Beginn lebenserhaltender Maßnahmen vom elterlichem Wunsch dazu abhängig macht [4], handeln einer empirischen Untersuchung zufolge Neonatologen in den USA in diesem Bereich oft sehr paternalistisch [12]. Dabei betreffen die Folgen dieser Entscheidung nicht nur das Kind, sondern seine ganze Familie. In der vorliegenden Leitlinie wird betont, dass nicht die Aussicht auf eine Behinderung des Kindes den Therapieverzicht rechtfertigen darf – nicht vertretbares Leiden oder der drohende Tod werden als Begründungen hingegen angenommen. Aber sind wir da ehrlich zu uns? Diejenigen von uns, die ein Frühgeborenes an der Grenze der Lebensfähigkeit im Kreißsaal nicht immer aktiv versorgen und auch diejenigen, die nach einem Therapieversuch diesen wieder abbrechen – sie tun dies vielleicht auch wegen des Leidens des Kindes, aber primär doch wegen der drohenden Aussicht auf schwere Behinderung.

Die Neuauflage der Leitlinie war eine schwere Geburt, ein langes Ringen in einem Delphi-Prozess. Die Neuauflage ist ein Kompromiss, und deshalb nicht perfekt. Kompromisse stellen immer den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, und so werden sich auch in dieser Leitlinie nicht alle Neonatologen, Perinatologen und Geburtshelfer wieder finden und sich mit ihr einverstanden erklären. Und obwohl sie unter der Rubrik „S 2-Leitlinie” firmiert, versteht sie sich nur als Empfehlung. Auf schwierige Fragen gibt es oft keine einfachen Antworten, und vielleicht liegt der Wert des Textes eher darin, zu Fragen und Diskussionen anzuregen, als Antworten zu geben.

Literatur

  • 1 Gemeinsame Empfehlung der DGGG, DGKJ, DGPM und GNPI .Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes. Z Geburtshilfe Neonatol 2008 (dieses Heft) http://www.uni–duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/024–019.htm
  • 2 Gemeinsame Empfehlung der DGGG, DGKJ, DGPM und GNPI . Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes.  Z Geburtshilfe Neonatol. 1998;  202 261-263
  • 3 Pignotti M S, Donzelli G. Perinatal care at the threshold of viability: an international comparison of practical guidelines for the treatment of extremely preterm births.  Pediatrics. 2008;  121 e193-e198
  • 4 American Heart Association; American Academy of Pediatrics . 2005 American Heart Association (AHA) guidelines for cardiopulmonary resuscitation (CPR) and emergency cardiovascular care (ECC) of pediatric and neonatal patients: neonatal resuscitation guidelines.  Pediatrics. 2006;  117 e1029-e1038
  • 5 Aaa A. Committee on Fetus and Newborn. Noninitiation or withdrawal of intensive care for high-risk newborns.  Pediatrics. 2007;  119 401-403
  • 6 Nuffield Council on Bioethics .Critical Care Decisions in Fetal and Neonatal Medicine: Ethical Issues. 2006M http://www.nuffieldbioethics.org/go/ourwork/prolonginglife/publication_406.html
  • 7 Keogh J, Sinn J, Hollebone K, Bajuk B, Fischer W, Lui K. Consensus Workshop Organising Committee . Delivery in the ‘grey zone’: collaborative approach to extremely preterm birth.  Aust N Z J Obstet Gynaecol. 2007;  47 273-278
  • 8 Pignotti M S, Scarselli G, Barberi I, Barni M, Bevilacqua G, Branconi F, Bucci G, Campogrande M, Curiel P, Di Iorio R, Di Renzo G C, Di Tommaso M, Moscarini M, Norelli G A, Pagni A, Panti A, Pela I, Rondini G, Saggese G, Salvioli G, Scarano E, Donzelli G. Perinatal care at an extremely low gestational age (22–25 weeks). An Italian approach: the “Carta di Firenze”.  Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed. 2007;  92 F 515-F 516
  • 9 Arbeitsgruppe der Schweizer Gesellschaft für Neonatologie . Empfehlungen zur Betreuung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit. (Gestationsalter 22–26 SSW).  Schweizerische Ärztezeitung. 2002;  83 1589-1595 ,  http://www.neonet.ch/assets/doc/gestationsalter-d.pdf
  • 10 Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde . Erstversorgung von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit.  Monatsschr Kinderheilkd. 2005;  7 711-715
  • 11 Janvier A, Barrington K J, Aziz K, Lantos J. Ethics ain't easy: do we need simple rules for complicated ethical decisions?.  Acta Pædiatr. 2008;  97 402-406
  • 12 Singh J, Fanaroff J, Andrews B, Caldarelli L, Lagatta J, Plesha-Troyke S, Lantos J, Meadow W. Resuscitation in the “gray zone” of viability: determining physician preferences and predicting infant outcomes.  Pediatrics. 2007;  120 519-526

PD Dr. med. C. Roll

Vestische Kinder-und Jugendklinik Datteln

Dr.-Friedrich-Steiner-Str. 5

45711 Datteln

Email: claudia.roll@kinderklinik-datteln.de

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