Psychiatr Prax 2008; 35(2): 99
DOI: 10.1055/s-2008-1064883
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Albrecht Paetz (1851-1922)

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Publication Date:
17 March 2008 (online)

 

In der im letzten Heft an dieser Stelle bereits umrissenen Debatte um die sog. Asylierung psychisch Kranker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand neben der Psychiatrischen Familienpflege eine zweite Versorgungsstruktur häufige Erwähnung, die sog. agrikole Kolonie. Beide Systeme fanden sich bereits 1868 in Wilhelm Griesingers programmatischem Beitrag "Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland", vorwiegend zur Versorgung chronisch Kranker. Agrikole Kolonien boten arbeitstherapeutische Möglichkeiten, einen geschützten Raum für die Resozialisierung von Patientinnen und Patienten, der an die ärztlich-psychiatrische Leitung gebunden war und so im Unterschied zur Familienpflege mehr als komplementärer Baustein, denn als Alternative zur sog. Anstalt verstanden wurde. Diese Kolonien produzierten Nahrungsmittel für das zugehörige Haus. Der Verkauf der Produkte stellte in manchen Fällen eine substanzielle Einnahmequelle dar. Solche Kolonien entstanden auf Landgütern oder wurden aus einem Krankenhaus heraus errichtet. Internationale Bedeutung, weit über Europa hinaus, erlangte die "Provinzial-Irren-Anstalt Rittergut Alt-Scherbitz" bei Schkeuditz im Raum Leipzig. 1876 unter Moritz Koeppe gegründet, war die Pavillon-Anlage unter der Leitung seines Nachfolgers Albrecht Paetz durch das erste kontinentale Offen-Tür-System gekennzeichnet, gänzlich ohne Mauern und Gitter. Man verfügte über Wachsäle, moderne Arbeitstherapie, Familienpflege und eine vorbildliche agrikole Kolonie, die Paetz mit der "Centralanstalt" zur ersten "kolonialen Irrenanstalt" vereinigte. Wie Konrad Alts "Über familiäre Irrenpflege" 1899 erlangte Paetz Monografie "Die Kolonisirung der Geisteskranken in Verbindung mit dem Offen-Thür-System" 1893 einen enormen impact in internationalen Kreisen, der bis heute nachwirkt.

Dr. Thomas Müller

Email: th.mueller@zfp-weissenau.de

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