Rehabilitation (Stuttg) 2007; 46(6): 381-382
DOI: 10.1055/s-2007-992802
Bericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

10 Jahre European Disability Forum - Bericht über die Delegiertenversammlung im Oktober 2007 in Brüssel

10th Anniversary of the European Disability Forum - Report of its Annual Assembly October 2007 in BrusselsM. Schmollinger 1
  • 1RI-Nationalsekretariat für Deutschland
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Publication Date:
11 January 2008 (online)

Mit seiner Jahresdelegiertenversammlung 2007 in Brüssel und mehreren Festakten beging das European Disability Forum (EDF) am 5. und 6. Oktober 2007 im Brüsseler Sitzungssaal des Europäischen Parlaments sein zehnjähriges Bestehen.

Schon seit etwa 20 Jahren kümmern sich bekanntlich die Institutionen der Europäischen Gemeinschaften - Europarat, EU-Kommission, Europäisches Parlament und Europäischer Gerichtshof - verstärkt um eine Berücksichtigung der Belange behinderter Menschen innerhalb ihrer eigenen Aktivitätsbereiche. 1993 wurden diese Bemühungen zusammengeführt in einem Gemeinschaftsprogramm mit dem Namen HELIOS II, das im Blick auf die Bündelung von Forschungs- und Projektförderansätzen, Gesetzesinitiativen und Beratungs- bzw. Rechtsprechungsgrundlagen eine Vielzahl von schon bestehenden, multilateral kooperierenden Nichtregierungsorganisationen (NGO) im Bereich der Behindertenarbeit in Europa erfasste, ja sogar erste europaweit agierende Nichtregierungsorganisationen (ENGO) mit initiativen, koordinierenden und konsultativen Aufgaben entstehen ließ, darunter auch die Rehabilitation International/European Communities' Association (RI-ECA).

Für RI-ECA gibt es daher satzungsgemäß einen Sitz in den Delegiertenversammlungen des EDF - einen Sitz mit Stimmrecht, den 2007 das RI-ECA-Mitglied „Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR)” zu besetzen hatte, die gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) das RI-Nationalsekretariat für Deutschland bildet.

Das von den Europäischen Gemeinschaften über Jahre fortgeführte Programm HELIOS II brachte gute Öffentlichkeitswirkung („visibility”) für das Bewusstsein über Rechte, Bedürfnisse und Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen in Europa und hatte in die Politikgestaltung der Institutionen Europas eine ganze Reihe wichtiger Grundkenntnisse zur Teilhabeförderung und zur (Be-)Achtung der Anliegen behinderter Menschen hineingetragen. Aber es zeigte auch deutlich einen Bedarf, die „Stimme” der Vielzahl von Behindertenverbänden in einer organisatorisch stimmigen Form zu bündeln.

Deshalb wurde mit Unterstützung und Förderung des Europäischen Parlaments 1997 das EDF gegründet, seinerzeit ein Zusammenschluss der 15 damaligen nationalen Behindertenräte der EU-Mitgliedstaaten, ergänzt um einige Organisationen aus dem europaweiten Netzwerk von Fachorganisationen (wie RI-ECA) oder behinderungsspezifisch organisierten Dachverbänden von Behindertenorganisationen (wie die European Blind Union oder die Europäische Föderation der Verbände geistig behinderter Menschen). In Deutschland musste zur Sicherstellung des Stimmrechts ein nationales Aktionsbündnis bundesweiter Behindertenorganisationen erst gegründet werden, der Deutsche Behindertenrat (DBR).

1997 war damit ein entscheidender Schritt für die Europäische Behindertenpolitik vollzogen: Erstmals existierte ein Forum Betroffener in Europa, das sozusagen mit einer Stimme sprechen konnte, dazu die internen und nationalen Differenzen der breiten Szene organisierter Interessenvertretung behinderter Bürgerinnen und Bürger überwand und für das gesamte Spektrum ihrer Belange politisch eintreten konnte. Diese Bündelung beeinflusst seither alle politischen Initiativen europäischer Institutionen, in denen es Berührung gab mit Anliegen der Rehabilitation und Teilhabe.

Großen Eindruck machte es auch, dass mit dem Belgier Johan Wesemann ein gehörloser Mensch kompetent und mit simultan übersetzter Gebärdensprache den Vorsitz des EDF in der Gründungsphase führte, ein Menschenrechtsaktivist, der vor allem eine äußerst erfolgreiche Allianz mit dem Europäischen Parlament schmiedete und immer den Blick auf ganz Europa, also über die EU-Mitgliedstaaten hinaus richtete.

Das EDF - mit Sitz in Brüssel - wurde bald zum gesuchten Ansprechpartner auch der EU-Kommission. Sie sorgte schließlich für die Absicherung der Aktivitäten über einen auf Dauer angelegten Haushaltszuschuss, mit dem das EDF, wie deren Vizepräsident Bastiaan Treffers heute sagt, „seine einmalige Balance zwischen politischer Repräsentanz und Sachkompetenz in allen Fragen der Sicherung technisch-ökonomischer Beteiligung, gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Emanzipation der Behindertenbewegung ausbauen und weiter differenzieren konnte”. Schon bei der Fassung des Amsterdamer Vertrags der EU von 1997 hatten die Vorläufer des EDF sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass in diesem Grundlagentext behinderte Menschen und ihr Gleichberechtigungsanspruch als prioritäres Gemeinschaftsziel Erwähnung finden. Dies stellte sich schnell als Schlüssel für die Wirksamkeit aller Kampagnen des EDF wie auch seiner politikberatenden Arbeit auf EU-Ebene heraus. Ein erster Kulminationspunkt, für alle Bürger Europas sichtbar wie auch von großer Bedeutung für den Prozess allgemeiner Bewusstwerdung über den noch immer politisch großen „Aufholbedarf” behinderter Europäerinnen und Europäer, war 2003 das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen.

Was mit all dem erreicht wurde in 10 Jahren harter Arbeit des EDF ist nicht weniger als die Durchdringung aller Politikbereiche und Administrationsebenen in den Institutionen Europas. Der Einfluss des EDF lässt sich mittlerweile auf europäischer Ebene nachweisen

in der Gesetzgebung, ihrer Anwendung und Weiterentwicklung bei Bürger- und Menschenrechtsfragen, in der Bildungs-, Ausbildungs-, Beschäftigungs- und Marktordnungspolitik, in der Strukturförderung sowohl im Hinblick auf die Harmonisierung als auch auf den Erweiterungsprozess der EU, in der Technologie- und Innovationspolitik, der Verkehrspolitik, der angewandten Normengebung und bei vielen Versuchen, von der EU aus Konvergenzprozesse für nationale Gesundheits- und Sozialrechtsentwicklungen in Gang zu bringen.

Kein Wunder also, dass der amtierende Präsident des EDF, der Grieche Yannis Vardakastanis, und sein Vize Bas Treffers die Gelegenheit der zehnten. EDF-Jahresdelegiertenversammlung mit Stolz für eine Bilanzierung des Erreichten nutzten. Darin spielte natürlich auch die mit großer Beteiligung aus dem EDF formulierte und im März 2007 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen angenommene UN-Konvention über Rechte und Würde behinderter Menschen eine gebührende Rolle.

Das EDF hat sich in zehn Jahren beachtlich vergrößert (nicht nur wegen der EU-Erweiterung, sondern auch darüber hinaus) und dies bei gleichzeitiger struktureller Konsolidierung als Organisation. Anstehende Aufgaben betreffen nun immer stärker die Umsetzung gegebenen Rechts und den Konvergenzprozess für die Lebensbedingungen behinderter Menschen in ganz Europa. Das sieht sehr nach dezentralem „multiple campaigning” und viel Kleinarbeit auf allen Ebenen aus. „Die Zukunft kann nicht warten - auch das EDF nicht” ist dafür das Motto. Denn es kommt nicht auf geschriebene Politikziele und kodifizierte Ansprüche an, auch nicht allein auf eine repräsentativ abgewogene Formulierung gemeinsamer Forderungen aus einer fast unüberschaubaren Vielfalt der Interessen behinderter Menschen, sondern darauf, ob und wie weit die Millionen Europäerinnen und Europäer mit Behinderungen ein gelingendes, selbstbestimmtes Leben inmitten ihrer sozialen Gemeinschaft tatsächlich führen können.

Weil es dies erkannt hat und fest entschlossen ist, danach auch zu handeln, kann man dem European Disability Forum zu seinem zehnjährigen Jubiläum nur gratulieren!

Korrespondenzadresse

Martin Schmollinger

Deutsche Vereinigung für Rehabilitation

Friedrich-Ebert-Anlage 9

69117 Heidelberg

Email: m.schmollinger@dvfr.de

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