Pneumologie 2006; 60(6): 360-365
DOI: 10.1055/s-2006-932133
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zwischen Erbleiden und Infektionskrankheit: Wahrnehmung und Umgang mit Tuberkulose im Nationalsozialismus

Between Hereditary Ailment and Infectious Disease: the Perception and Treatment of Tuberculosis under National SocialismA.  Ley1
  • 1Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Oranienburg
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Publication Date:
08 June 2006 (online)

„Tb ist auch eine politische Seuche” - so titelte eine große bayerische Regionalzeitung anlässlich des Welttuberkulosetags im März 2005. Denn für die derzeitige starke Zunahme der Erkrankungsfälle seien vor allem politische Faktoren verantwortlich, wie die „riesige Armut” in der Dritten Welt, „gepaart mit chronischer Unterernährung, sozialer Verelendung in den Slums wachsender Millionenstädte” sowie „Bürgerkriege mit Vertreibung der Bevölkerung” [1]. Diese Wahrnehmung der Tuberkulose als eine auch „politische” Angelegenheit ist nicht neu: Bereits in früheren Jahrhunderten wurde ein Zusammenhang zwischen „Krankheit und sozialer Lage” - so der Titel eines sozialmedizinischen Klassikers aus dem Jahr 1913 [2] - hergestellt und auch im Nationalsozialismus wurde der Tuberkulose unter anderem mit politischen Maßnahmen zu begegnen versucht. Im Unterschied zur Zeit vor 1933 zielten diese Maßnahmen aber nicht mehr auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen Erkrankter und Gefährdeter ab, sondern auf die soziale Ausgrenzung Tuberkulöser zum „Schutze des Volkskörpers”. Denn Tuberkulose galt im „Dritten Reich” als eine „asoziale Krankheit”.

Literatur

1 Otto P. Hornstein, Tb ist auch eine politische Seuche, in: Nordbayerische Zeitung vom 24.3.2005, S. 7.

2 Max Mosse und Gustav Tugendreich, Krankheit und soziale Lage, München 1913.

3 Die Ausführungen zur kollektiven Wahrnehmung der Tuberkulose folgen der Darstellung von Sylvelyn Hähner-Rombach, Sozialgeschichte der Tuberkulose. Vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung Württembergs, Stuttgart 2000, S. 29 - 35.

4 Geprägt wurde der Begriff „Proletarierkrankheit” allerdings erst im Jahre 1912 durch den Sozialhygieniker und späteren Begründer der Arbeitsmedizin in Bayern, Franz Koelsch (1876 - 1970): Koelsch zufolge hatte die Krankheit in der Arbeiterschaft „einen so erschreckenden Umfang an[genommen]”, dass ihm „die Bezeichnung ‘Proletarierkrankheit’ gerechtfertigt” schien: Franz Koelsch, Tuberkulose und Beruf, in: Handwörterbuch der sozialen Hygiene, hgg. von Alfred Grotjahn und J. Kaup, Bd. 2, Leipzig 1912, S. 650 - 655, hier S. 650.

5 Zum Konzept der „Leistungsmedizin”: Karl-Peter Reeg, Friedrich Georg Christien Bartels (1892 - 1968). Ein Beitrag zur Entwicklung der Leistungsmedizin im Nationalsozialismus, Husum 1988.

6 Franz Klein, Die Aufgaben der Tuberkulosefürsorge und die hierbei erforderliche Zusammenarbeit der Gesundheitsämter mit den praktischen Aerzten, Heilstätten und Parteistellen, in: Veröffentlichungen aus dem Gebiet Volksgesundheitsdienstes 50 (1938), S. 595 - 622, hier S. 602.

7 Richard Bochalli, Die Geschichte der Schwindsucht, Leipzig 1940; Jürgen Voigt, Tuberkulose. Geschichte einer Krankheit, Köln 1994.

8 Alfred Grotjahn, Soziale Pathologie, Berlin 1912, S. 91.

9 Karl Diehl und Otmar von Verschuer, Zwillingstuberkulose, Jena 1933; dies., Der Erbeinfluß bei der Tuberkulose. Zwillingstuberkulose II, Jena 1936.

10 Karl Diehl, Erkrankungen der Atemorgane und die Tuberkulose unter dem Gesichtspunkt der Vererblichkeit, in: Wer ist erbgesund und wer ist erbkrank? Praktische Ratschläge für die Durchführung des Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” [...], hgg. von Wilhelm Klein, Jena 1935, S. 56 - 88, hier S. 87.

11 Siehe: Kerstin Kelting, Das Tuberkuloseproblem im Nationalsozialismus, Diss. med. Kiel 1974.

12 Zu Inhalt und Auswirkungen des NS-Sterilisationsgesetzes: Astrid Ley, Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934 - 1945, Frankfurt/M. 2004, bes. S. 34 - 120.

13 „Gesetz zur Verminderung der Arbeitslosigkeit” vom 1.6.1933, Abschnitt V, in: Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 377; „Zweite Durchführungsverordnung des Reichsministers der Finanzen über die Gewährung von Ehestandsdarlehen” vom 26.7.1933, in: ebd., S. 540. Vgl. hierzu auch: Hähner-Rombach (Anm. 3), S. 264 f.

14 „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes” vom 18.10.1935, in: Reichsgesetzblatt I, 1935, S. 1246; Arthur Gütt, Herbert Linden und Franz Maßfeller, Blutschutz und Ehegesundheitsgesetz, München 1937. Siehe auch: Hähner-Rombach (Anm. 3), S. 265 f.

15 Ebd., S 266 f.

16 „Verordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten” vom 1.12.1938, in: Reichsgesetzblatt I, 1938, S. 1721 - 1724. Mit dieser Verordnung vereinheitlichte die NS-Regierung die auf Länderebene bestehenden Regelungen aus der Zeit vor und nach 1933. Die damit reichsweit statuierte allgemeine Meldepflicht bei Tuberkulose war zwar schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert worden, sie hatte sich aber - nicht zuletzt wegen des Widerstands frei praktizierender Ärzte - bisher politisch nicht durchsetzen lassen. Zur Diskussion um die Meldepflicht siehe: Flurin Condrau, Lungenheilanstalt und Patientenschicksal. Sozialgeschichte der Tuberkulose in Deutschland und England im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 83 f. Zur Tuberkulosegesetzgebung 1871 - 1975 sowie zum ärztlichen Widerstand gegen die Meldepflicht: Hähner-Rombach (Anm. 3), S. 240 - 243, 271 f.

17 Zu den Aufgaben der Gesundheitsämter in der „Tuberkulosefürsorge” im einzelnen: Klein (Anm. 6).

18 Ebd., S. 601 f.

19 Hähner-Rombach (Anm 3), S. 272 - 274.

20 A. Aschenbrenner, Die Wirkung der Zwangsasylierung auf asoziale Offentuberkulöse, in: Beiträge zur Klinik der Tuberkulose 94 (1940), S. 635 - 641, hier S. 637; Gerhard Kloos, Die Durchführung der Zwangsunterbringung von rücksichtslosen Offentuberkulösen, in: Deutsches Tuberkulose-Blatt 16 (1942), S. 222 - 229, 242 - 246, hier S. 228. Zum Vorgehen in Stadtroda siehe auch: Hähner-Rombach (Anm. 3), S. 275 - 279.

21 Günther Wackernagel, Zur Errichtung und Funktion des Häftlingsreviers von 1937 bis 1940, S. 3 (Manuskript: Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen [AS], P3 Wackernagel).

22 Zeugenaussage von Leo Clasen im Strafverfahren gegen Heinz Baumkötter u. a. vor dem Landgericht Münster 1961/62 (Kopie: AS, JD 1/11, S. 82 - 87).

23 Vgl.: Protokoll von Berichten und Diskussionen beim Workshop „Der Umgang mit geschwächten Häftlingen in Konzentrationslagern [...]”, 20. - 22.6.2004, Gedenkstätte Buchenwald (Kopie: AS); Emilio Büge, 1047 KZ-Geheimnisse (Manuskript: AS, LAG I/3).

24 Zur Problematik medizinischer Experimente an KZ-Häftlingen im Allgemeinen: Gerhard Baader, Menschenversuche in Konzentrationslagern, in: Johanna Bleker und Norbert Jachertz (Hg.), Medizin im Dritten Reich, Köln 1989, S. 103 - 111; Astrid Ley und Marion Maria Ruisinger (Hg.): Gewissenlos - gewissenhaft. Menschenversuche im Konzentrationslager. Katalog zur Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin, Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen 2001.

25 Ernst Klee, Auschwitz, die Medizin und ihre Opfer, Frankfurt/M. 1997, S. 40 f.

26 Christine Wolters, „Zur Belohnung wurde ich der Malaria-Versuchsstation zugeteilt ...” Die Karriere des Dr. Rudolf Brachtel, in: Ralph Gabriel u. a. (Hg.), Lagersystem und Repräsentation. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Tübingen 2004, S. 29 - 45.

27 Günther Schwarberg, Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm, Göttingen 1988; Paul Weindling, Genetik und Menschenversuche 1940 - 1950. Hans Nachtsheim, die Kaninchen von Dahlem und die Kinder vom Bullenhuser Damm, in: Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Rassenforschung an den Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933, Göttingen 2003, S. 245 - 274; Herbert Diercks, Gesucht wird: Dr. Kurt Heißmeyer, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 9, Hamburg 2005, S. 102 - 115.

28 Wie Paul Weindling kürzlich herausgearbeitet hat, ging es bei den Versuchen offenbar nicht nur ein therapeutisches Verfahren sondern auch um Fragen aus den Bereichen „Rassenforschung” und Erbpathologie: So war Heißmeyer an einem möglichen Zusammenhang von Rassenzugehörigkeit und Tbc-Anfälligkeit interessiert, der beteiligte Pathologe aus dem Virchow-Krankenhaus forschte zur sogenannten Pelger-Anomalie (heute: Pelger-Huet-Kernanomalie), die im Verdacht stand, die Anfälligkeit für Tuberkulose zu erhöhen. Siehe: Weindling (Anm 27).

29 Zeugenaussage von Heinz Baumkötter im Strafverfahren gegen Anton Kaindl u. a. vor dem Militärtribunal der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland 1946/47 (Kopie: AS, JSU 1/21, S. 14 - 17, hier S. 14).

30 Zeugenaussage von Wilhelm Thierhoff im Ermittlungsverfahren gegen Ludwig Ehrsam vor dem Landgericht Köln 1968 (Kopie: AS, JD 8/2, Teil 2, S. 170 - 180).

31 J.E.A Post Uiterweer, Versuchsanstalt für Tbc im KZ Sachsenhausen, 1990, S. 1 f. (Kopie: AS, P3 Thierhoff). Grammatikalische Fehler in dem Bericht des Niederländers wurden von der Verfasserin korrigiert.

32 Zeugenaussage Baumkötter (Anm. 29).

Dr. Astrid Ley

Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

Heinrich-Grüber-Platz

16515 Oranienburg

Email: ley@gedenkstaette-sachsenhausen.de

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