Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(46): 2663
DOI: 10.1055/s-2005-922053
Pro & Contra
Hypertensiologie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Akutbehandlung der Hypertonie bei Schlaganfall - Contra

Treatment of high blood pressure in acute stroke - contraD. G. Nabavi1 , E. B. Ringelstein1
  • 1Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Münster
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Publication History

eingereicht: 27.9.2005

akzeptiert: 28.9.2005

Publication Date:
10 November 2005 (online)

Etwa 80 % aller Patienten weisen beim akuten Schlaganfall erhöhte Blutdruckwerte auf, die sich meist innerhalb von 48 - 72 Stunden spontan normalisieren. Es ist bekannt, dass stark hypertensive Blutdruckwerte (systolisch > 160 - 180 mm Hg) beim akuten Schlaganfall mit einem ungünstigen Outcome assoziiert sind [3]. Tatsächlich können potenziell schädliche Effekte durch hypertensive Blurtdruckwerte beim akuten Schlaganfall entstehen (z. B. Zunahme des Hirnödems, Verstärkung der hämorrhagischen Transformation). Aber kann daraus die generelle Empfehlung abgeleitet werden, hypertensive Blutdruckwerte beim akuten Schlaganfall zu senken? Keineswegs! Folgende Argumente sprechen dafür, hypertensive Blutdruckwerte in der Akutphase zu tolerieren, sofern keine Zeichen der akuten Organdysfunktion (z. B. hypertensive Enzephalopathie, akute Herzinsuffizienz, Lungenödem) vorliegen:

Druckpassive Perfusion in der Penumbra: Um den Infarktkern herum befindet sich die sog. Penumbra - also noch vitales aber stark infarktgefährdetes Hirngewebe mit kritischer Minderdurchblutung. In dieser Region sind die Gefäße maximal dilatiert, die Gewebeperfusion hängt linear vom systemischen Blutdruck ab. Ein plötzlicher Blutdruckabfall würde eine sofortige Verstärkung der Ischämie erzeugen und die Transformation der Penumbra hin zum Infarkt fördern. Hypertoniker sind an hypertensive Blutdruckwerte adaptiert: Bei etwa Ÿ aller Patienten hatte bereits vor dem Schlaganfall eine arterielle Hypertonie bestanden, die häufig nicht oder nicht ausreichend behandelt wurde. Dadurch sind die Hirndurchblutung und ihre Steuerungsmechanismen (sog. zerebrale Autoregulation) an hypertensive Blutdruckwerte adaptiert. Bei einem plötzlichen Blutdruckabfall kann so eine massive zerebrale Minderperfusion entstehen oder verstärkt werden. Klinische Studien zeigen keinen Nutzen der akuten Blutdrucksenkung: In den wenigen, bislang vorliegenden Interventionsstudien konnte kein Vorteil durch die Blutdrucksenkung nachgewiesen werden 1. Offensichtlich besitzt die abrupte Änderung des Blutdrucks insgesamt mehr schädliche als nützliche Effekte. Interessanterweise konnte dieses Phänomen auch für Lysepatienten nachgewiesen werden, bei denen eine Blutdruckentgleisung oberhalb der erlaubten Grenzwerte auftrat: Protokollverletzer ohne antihypertensive Therapie und Blutdruckwerten von > 185/105 hatten in der NINDS-Studie ein besseres Outcome als solche Lysepatienten mit Protokoll-konformer Blutdrucksenkung 2. Leitlinien empfehlen Tolerierung akuter hypertensiver Blutdruckwerte: Sämtliche nationalen und internationalen Leitlinien empfehlen eine Blutdrucksenkung beim akuten ischämischen Schlaganfall erst ab Werten von systolisch > 200 - 210 mm Hg und diastolisch > 105 - 110 mm Hg 4. Dies stellt eine bewusste Abkehr von der noch in den 80er Jahren empfohlenen Praxis einer drastischen Blutdrucknormalisierung dar. Zugegeben, sämtliche dieser Empfehlungen basieren auf einem niedrigen Evidenzlevel (Grad C). Gleichwohl besitzen diese Leitlinienempfehlungen nicht nur medizinische, sondern auch juristische Relevanz. Legale Aspekte haben in den letzten Jahren dramatisch an Bedeutung gewonnen. Daher sollten Leitlinienempfehlungen bei der Entscheidung für oder gegen eine Blutdrucksenkung beim akuten Schlaganfall nicht gänzlich ignoriert werden.

Zusammenfassend raten wir von einer unkritischen Blutdrucksenkung bei spontan hypertensiven, akuten Schlaganfallpatienten ab. Wir empfehlen die frühzeitige Erfassung des zerebralen Gefäßstatus (z. B. mittels multimodaler Ultraschalldiagnostik), um das Blutdruckmanagement individuell zu gestalten. Im Falle einer stark reduzierten zerebralen Hämodynamik sollte sogar eine passagere blutdrucksteigernde Therapie erwogen werden. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Evidenzlage zu dieser Problematik noch auf absehbare Zeit unbefriedigend bleibt.

Literatur

  • 1 Blood pressure in Acute Stroke Collaboration (BASC) . Interventions for deliberately altering blood pressure in acute stroke.  Cochrane Database. 2001;  3 CD000039
  • 2 Brott T. et al . Hypertension and its treatment in the NINDS rt-PA Stroke Trial.  Stroke. 1998;  29 1504-1509
  • 3 Leonardi-Bee J. et al . Blood pressure and clinical outcomes in the International Stroke Trial.  Stroke. 2002;  33 1315-1320
  • 4 Toni D. et al . Acute treatment of ischaemic stroke. European Stroke Initiative.  Cerebrovasc Dis. 2004;  17 (Suppl 2) 30-46

Priv.-Doz. Dr. med. Darius G. Nabavi

Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Münster

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