Psychiatr Prax 2005; 32(7): 369
DOI: 10.1055/s-2005-919723
Fortbildung und Diskussion
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Psychiatriegeschichte als Euthanasiegeschichte

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Publication Date:
11 October 2005 (online)

 

Alle Gesamtdarstellungen der Geschichte der deutschen Psychiatrie von deutschen Autoren enden 1914. Was danach kommt, gerät unweigerlich zur Euthanasiegeschichte. Alle Wege der deutschen Psychiatrie nach dem ersten Weltkrieg führen nach Hadamar. Keine Psychiatriegeschichtschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg kann vom nationalsozialistischen Massenmord an psychisch Kranken und geistig Behinderten absehen. Nicht dass es in der Geschichte der deutschen Psychiatrie des 20. Jahrhunderts nichts anderes Mitteilenswertes gäbe. Aber das im Dritten Reich Geschehene ist so beherrschend, so erdrückend, hat die meisten von uns in unserer beruflichen Entwicklung so geprägt, dass alles andere in einer Gesamtdarstellung in den Hintergrund treten muss. Das bedeutet nicht, dass Psychiatriegeschichtsschreibung jenseits der Euthanasie überhaupt nicht möglich ist. Aber wir behelfen uns dann mit der Bearbeitung von Spezialthemen mit begrenzter Reichweite.

Das Westfälische Institut für Regionalgeschichte, das in seinem langjährigen Projekt "Der Provinzialverband Westfalen in der Zeit des Nationalsozialismus - Psychiatrie im Dritten Reich" zahlreiche wichtige Beiträge zur neueren deutschen Psychiatriegeschichte geleistet hat, hat mit dem nunmehr vorliegenden zweiten Band der "Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen" einen Weg gefunden, den Bruch in der Kontinuität der Psychiatriegeschichtschreibung zwar nicht zu überwinden, aber doch zu überbrücken. Die Herausgeber tun das, indem sie auf einen geschlossenen Text verzichten und stattdessen die - sorgfältig ausgewählten - Quellen selber sprechen lassen: 159 aus der Zeit von 1800-1914 im ersten, 210 aus den Jahren 1914-1955 im zweiten Band. Ich wünsche mir, dass sie bald einen dritten nachfolgen lassen, der die Jahre der Psychiatriereform und ihrer Auswirkungen umfasst.

Die Quellen des zweiten Bandes spannen den Bogen zwischen dem Mangeljahrzehnt von 1914-1924 zur Mitte der 50er-Jahre, um "sowohl noch etwas von dem ,Nachkrieg und der ,Vergangenheitspolitikeinzufangen" und von "jener langsamen, eher stillen ,Reform vor der Reform, die aber doch den Boden für die grundlegende Umgestaltung der Psychiatrie im Gefolge des gesellschaftlichen Umbruchs in den späten 60er- und den frühen 70er-Jahren bereitete." Dazwischen präsentieren sie Materialien zu vier Jahrzehnten "voller Brüche, innerer Widersprüche und Spannungen, in denen kühnen Reformentwürfe und katastrophische Zusammenbrüche und Versorgungsstrukturen, therapeutischer Idealismus und Massenmord ohne Schuldgefühl eng verschränkt waren."

Die reichhaltigen Quellen, die sich keineswegs auf den westfälischen Raum beschränken, (die allerdings die Wissenschaftsgeschichte ausklammern), erlauben es dem Leser, sich selbst ein Bild von jener praktischen Psychiatrie zu machen, die die Herausgeber in Anlehnung an Wehler als einen Nebenkriegsschauplatz des "Zweiten Dreißigjährigen Krieges" bezeichnen, der Deutschland und die Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfasst habe. Ihre fundierte Einführung erleichtert den Zugang ungemein. Wegen seines Zeitrahmens muss dieser zweite Band in seinen Quellen im Wesentlichen Euthanasiegeschichte bleiben.

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