Psychiatr Prax 2005; 32(7): 334-335
DOI: 10.1055/s-2005-866930
Kommentar
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Posttraumatische Belastungsstörungen: Zurückhaltung angebracht

Post-Traumatic Stress Disorder: Reserve is NecessaryKlaus  Dörner
Further Information

Publication History

Publication Date:
11 October 2005 (online)

Zum Beitrag von Ruth Kloocke, Heinz-Peter Schmiedebach und Stefan Priebe: Psychisches Trauma in deutschsprachigen Lehrbüchern der Nachkriegszeit - die psychiatrische „Lehrmeinung” zwischen 1945 und 2002. Psychiat Prax 2005; 32: 327 - 333

Die Autoren haben ihr Vorhaben, mittels Lehrbuchanalyse die psychiatrische „Lehrmeinung” zum psychischen Trauma zu erkunden, empirisch überzeugend umgesetzt. Sie hätten noch mehr Dank verdient, wenn sie sich der bewertenden Schlussfolgerungen enthalten hätten, die ihre Befunde schwerlich zu tragen vermögen. Insofern ist ihr - angesichts der Komplexität des Themas - hoher psychiatriehistorischer und komplexitätsreduzierender Anspruch nicht nur nicht eingelöst, sondern der Leser wird dazu verführt, sich durch die Bestätigung all seiner Vorurteile gegen das schlechte Alte für die historische Rechtfertigung des erst konstruierten guten Neuen instrumentalisieren zu lassen. Dabei hätten wir allen Grund zur Behutsamkeit, da wir immer noch nicht viel mehr wissen, als dass Menschen auf äußere Ereignisse extrem unterschiedlich reagieren.

Die Autoren unterscheiden ein altes Paradigma der „harten Linie” von einem neuen Paradigma seit der Lehrbuchgeneration der 70er-Jahre, das sich, offenbar als weiche Linie, wohltuend von den früheren Zeiten abhebt. Sie diagnostizieren diesbezüglich einen erfreulichen Fortschritt, was spätestens seit Thomas Kuhn gegenüber einem historischen Abwägen der Vor- und Nachteile jedes Paradigmas eher die Unwahrscheinlichkeit auf seiner Seite hat. Schon die Wortwahl macht nachdenklich: da werden den alten, harten Lehrbuchautoren „Polemik und Häme” und eine „aggressive Grundhaltung” unterstellt, sie seien „voreingenommen und abwertend”. Dass viele ihrer Patienten die Rente begehren und daher „simulieren” (Erinnerungsfälschungen unterliegen, würden wir heute vorsichtiger sagen), sei eine Unterstellung, die empörend sei und die Lehrbuchautoren wissenschaftlich und moralisch disqualifiziere. (Man kann das ja mit Recht kritisieren, aber ist das schon die ganze Wahrheit?) Wenn die Militärpsychiater und das Oberkommando der Wehrmacht 1944 den Begriff „Neurose” durch „abnorme seelische Reaktion” ersetzen, kann das nur perfide sein; wenn aber nach dem Generationswechsel in den 70er-Jahren - begrifflich fast deckungsgleich - „abnorme Erlebnisreaktion” in der ICD-8 festgeschrieben wird, ist das ein Symptom für den Fortschritt.

Die Autoren halten das alte, böse Paradigma für „schlicht” und „schwammig”. Als ob die heutige „posttraumatische Belastungsstörung” (PTBS) nach ICD-10 oder DSM-III/IV mit ihren extrem unpräzisen Beschwerden weniger schlicht und schwammig wäre. Ganz zu schweigen von ihrer lebensfremden und unwissenschaftlichen Monokausalitäts-Metaphysik-Wunschtraumerfüllung (die Welt aus einem Punkte zu kurieren), welche die Gefahr vergrößert, das Konzept nicht nur individuell einzelnen Traumatisierten, sondern gleich ganzen Opfergruppen zuzuschreiben. Dabei bedient sich das neue Paradigma des ehemals psychoanalytischen Arguments, beim subjektiven Erleben komme es nicht auf den objektiven Realitätsgehalt an. Überlegungen, die Priebe et al. immerhin noch 2002 in dieser Zeitschrift zu der Prognose bewogen, das PTBS-Konzept werde sich in der jetzigen Form nicht lange halten lassen [1].

Es ist schon merkwürdig, dass ausgerechnet ich in die Verlegenheit komme, die alten Lehrbuchpsychiater gegen ein zu grelles Schwarz-Weiß partiell zu verteidigen. Aber ich bin vom Alter her so weit Zeitzeuge, dass ich viele von ihnen noch persönlich bekriegt und damit auch gekannt habe. Ich weiß, dass sie zwar mit der Blindheit geschlagen waren, z. B. Kriege eo ipso für etwas Vaterländisches zu halten, dass sie aber auch darunter gelitten haben, wie ihre Patienten sich in einem sinnlosen Kampf um Opferstatus und Rente selbst zu chronisch Kranken machten. Man muss sich schon auf den kulturell-historischen Kontext und sein unglaublich wirksames Suggestionspotenzial einlassen, das solche Psychiaterbiografien entstehen ließ - über das hinaus, was Fischer-Homberger [2] verdienstvollerweise beschrieben hat.

Das fing etwa mit den menschheitsgeschichtlich völlig neuen und entsprechend erschütternden Eisenbahnunfällen an, aus denen das Konzept der traumatischen Neurose entstand. Letzteres konnte aber nur wirksam werden, weil zeitgleich die ebenfalls neuen Sozialgesetze in Kraft traten. Das Helfen in Krankheit und Not wurde durch diese Gesetze von der Währung der Zeit der Bürger auf die Währung des Geldes der Bürger (Steuern/Beiträge) umgestellt. Im Zuge der damit verbundenen, hoch emotionalisierten Rechtserwartungen sahen alle die riesigen Vorteile des Systems (und profitierten gern davon), aber die alten Psychiater nahmen auch die menschenschädigenden Nachteile wahr. Deshalb hätte in dem jetzigen Beitrag von Priebe u. Mitarb. Viktor von Weizsäcker nicht nur mit seinem Konzept der „Rechtsneurose”, sondern auch mit seinem Konzept der „sozialen Krankheit” (womit er den entwürdigenden Simulationsvorwurf überwinden wollte) zitiert werden sollen.

Wenn die alten Psychiater tatsächlich so „hart” gewesen sind, kann man sich auch fragen, wieso es dann doch zur Rentenentschädigung der Traumaopfer gekommen ist. Die Abschaffung der Rentenentschädigung im Jahr 1926 ließ im Übrigen die Diagnose der traumatischen Neurose fast schlagartig verschwinden, während selbst psychoanalytisch reflektierte Psychiater danach im Zweiten Weltkrieg Kriegstraumatisierte auch mit elektrischen Strömen behandelten.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes das Ausmaß der Gesundheitsschäden bei ehemaligen KZ-Häftlingen begutachtet werden. Ich selbst habe Hunderte dieser Opfer des nationalsozialistischen Regimes kennengelernt, weil ich mich um die Gutachten gerissen habe, um mehr mir als den Opfern zuliebe politisch etwas wieder gutmachen zu können. Natürlich habe ich stets die Anerkennung der Entschädigung befürwortet. Dazu stehe ich politisch und moralisch auch noch heute, aber psychiatrisch habe ich in den meisten Fällen damit die Wahrheit verdreht, worüber die zu Begutachtenden mich oft nach der Begutachtung aufklärten, wenn sie sich des positiven Urteils sicher waren und wenn zwischen uns ein hinreichendes Vertrauen entstanden war. Den Mut, dies hier öffentlich zu bekennen, verdanke ich vor allem einer Gruppe junger Israelis, die mir vor kurzem vorwarfen: „Mit euren Gutachten und Therapieversuchen wollt ihr doch nur eure Schuld abarbeiten, indem ihr uns bis ins 2. oder 3. Glied als Hitler-Opfer festschreibt, was ja gerade in der Linie der Naziabsichten liegt; wir spielen da nicht mehr mit, zumal es Dimensionen des Leidens gibt, für die eure Therapietechniken nicht gedacht sind; dies zuzugeben, wäre erst Opferwürdigung.”

Dies macht vielleicht auch verständlich, wie in ähnlicher Weise die kollektive Reaktion auf den Vietnamkrieg zur „Erfindung” der PTBS in der Version der DSM-III und der ICD-10 geführt hat. Wer es nicht glaubt, lese Allan Young „The Harmony of Illusions. Inventing Post-Traumatic Stress Disorder” [3].

Und heute? Bei der immer weitreichenderen Marktsteuerung des Gesundheitswesens ist für den ihr inhärenten Expansionszwang das Trauma das ideale Konzept: es macht kollektivierend jede Katastrophe und jede Generation (gerade sind es die Kriegskinder) sowie individualisierend jede persönliche Krise anschlussfähig. Dabei folgen wir immer noch dem Mythos der Moderne von der Machbarkeit einer leidensfreien Gesellschaft. Den wenigen, denen das PTBS-Konzept tatsächlich gerecht wird, stehen aber viele gegenüber, die es biografisch schädigt. Hans Stoffels hat das in seinem Beitrag „Pseudoerinnerungen oder Pseudologien? Von der Sehnsucht, Traumaopfer zu sein” beschrieben [4]. In diesem Zusammenhang sei auch auf Jan Philipp Reemtsma verwiesen, der nach seiner eigenen Geiselhaft feststellte, dass es zwar ein kultureller Fortschritt sei, nicht mehr nur wie früher die Täter, sondern auch die Opfer zu würdigen; dass sich aber die Traumatherapeuten gerade beeilten, dies mit ihren vorschnellen technischen Zugriffen wieder rückgängig zu machen [5].

Entgegen dem Vorwurf der Autoren sind auch die Lehrbuchschreiber der neuen Generation (inkl. „Irren ist menschlich”) mit ihrer PTBS-Zurückhaltung vielleicht doch gut beraten.

Literatur

  • 1 Priebe S, Nowak M, Schmiedebach H-P. Trauma und Psyche in der deutschen Psychiatrie seit 1889.  Psychiat Prax. 2002;  29 3-9
  • 2 Fischer-Homberger E. Die traumatische Neurose. Vom somatischen zum sozialen Leiden. Bern; Huber 1975
  • 3 Young A. The Harmony of Illusions. Inventing Post-Traumatic Stress Disorder. Princeton; Princeton University Press 1995
  • 4 Stoffels H. Pseudoerinnerungen oder Pseudologien? Von der Sehnsucht, Traumaopfer zu sein. In: Vollmoeller W (Hrsg) Grenzwertige psychische Störungen. Stuttgart; Thieme 2004: 33-45
  • 5 Reemtsma J P. „Trauma” - Aspekte der ambivalenten Karriere eines Konzepts.  Sozialpsychiatr Inf. 2003;  33 37-43

Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner

Nissenstraße 3

20251 Hamburg

    >