Psychiatr Prax 2004; 31(8): 431
DOI: 10.1055/s-2004-836959
Fortbildung und Diskussion
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychopathologie als Grund voraussetzung psychiatrischer Forschung

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Publication Date:
23 November 2004 (online)

 

Anzuzeigen ist die unveränderte Neuausgabe eines klassischen Textes der deutschsprachigen Psychiatrie, nämlich Klaus Conrads Werk "Die beginnende Schizophrenie". Wie die Herausgeber einleitend betonen, entstand der Wunsch nach einem Neudruck aus dem Umstand, dass der Verlag das Buch seit Jahren nicht mehr aufgelegt hat. Dadurch war dieser für praktische ebenso wie für theoretische Fragen so wichtige Text kaum noch zugänglich und insbesondere der studentischen Ausbildung und ärztlichen Weiterbildung weit gehend entzogen. Diese Lücke wird nunmehr geschlossen.

Einige Bemerkungen seien noch gestattet, die die Bedeutung des Textes erläutern sollen: Klaus Conrad gehörte zu denjenigen Psychiatern, die sich, obwohl selbst klar einem empirischen, im bestimmten Sinne auch naturwissenschaftlichen Verständnis psychiatrischer Forschung verpflichtet, stets dezidiert gegen jede einseitige Dogmatisierung des Faches gewandt haben. Insoweit fügt sich seine ausgezeichnete Analyse der theoretischen Grundfragen psychiatrischer Forschung (Seiten 9-21) nahtlos in eine Debatte ein, die sich von den Anfängen unseres Faches als klinische Wissenschaft im Gefolge der Aufklärung bis ins jetzige 21. Jahrhundert erstreckt: Gefragt wurde und wird, um welche Art von "Objekt" oder "Zustand" es sich eigentlich bei einer seelischen Erkrankung handelt, welche Begriffe hier anzuwenden sind, welches das wissenschaftliche Selbstverständnis der Psychiatrie zu sein hat oder ob nicht gar - der radikalste Standpunkt - Psychiatrie eigentlich gar keine "richtige" Wissenschaft, sondern vielmehr eine Art Kunst sei.

Als Ausweg aus diesem Dilemma, das oft genug zur Sackgasse geworden sei, kündigt Conrad einen "dritten Weg" an, der die Schwierigkeiten der rein deskriptiven Psychopathologie einerseits und der hermeneutischen Verfahren (Psychoanalyse, Daseinsanalyse) andererseits vermeidet. Er nennt diesen dritten Weg "Gestaltanalyse" und bezieht hierbei wesentliche Anregungen aus der (sozial-)psychologischen Lehre von Kurt Lewin. Gegenüber der klassischen deskriptiven Psychopathologie habe die Gestaltanalyse den Vorteil, dass sie nicht nur einzelne Phänomene bzw. Symptome aufzähle und unverbunden nebeneinander stehen lasse, sondern innere Strukturen - "Gestalten" - seelischen Erlebens, sei es gesund oder gestört, erfasse. Im Vergleich zu den hermeneutischen Methoden hingegen sei sie nicht auf die methodisch schwierige, mitunter sogar fragwürdige Einbettung in den gesamten Lebenszusammenhang angewiesen. Immer wieder betont Conrad, dass es ihm gerade nicht um eine grundsätzliche Diskreditierung anderer Ansätze gehe, sondern um eine Ergänzung derselben, allerdings um eine sehr wesentliche.

Neben der meisterhaften Darstellung der exemplarischen Krankengeschichten liegt die besondere Bedeutung des Textes darin, dass ein - wie wir heute sagen würden - neurowissenschaftlich orientierter Psychiater eine differenzierte, empirisch arbeitende Psychopathologie nicht nur anerkennt, sondern sie sogar als Grundvoraussetzung für jede Art von psychiatrischer Forschung betrachtet.

Es ist zu hoffen, dass dieser Neuauflage eine große Verbreitung beschieden sein wird, um die von Conrad vor über 50 Jahren aufgenommene Diskussion auf dem gleichen Niveau auch jetzt weiterführen zu können.

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