Psychiatr Prax 2004; 31(8): 383-386
DOI: 10.1055/s-2004-828331
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kann Planung und Steuerung der psychiatrischen Versorgung in Deutschland wissenschaftlich fundiert sein?

Can the Planning Process for the Mental Health System in Germany Follow Scientific Principles?Peter  Brieger1 , Hans-Joachim  Kirschenbauer2
  • 1Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
  • 2Stadt Frankfurt am Main, Stadtgesundheitsamt, Abteilung Psychiatrie
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Publication Date:
16 November 2004 (online)

Die Medien, unsere Patienten, wir selbst: Zahlreiche Diskussionen um die Folgen der Agenda 2010, des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) oder des Arbeitslosengelds II werden geführt. Der Umbau des Sozialstaates betrifft in ganz erheblichem Maße psychisch kranke und seelisch behinderte Menschen. Handelt es sich um Umbau oder Abbau? Wir wollen die Perspektive des Umbaus wählen, da sie Gestaltungsmöglichkeiten impliziert. Nach welchen Konzepten wird auf der kommunalen Ebene umgebaut, geregelt und geplant? Die beiden Autoren leiten bzw. leiteten entsprechende Fachabteilungen der Gesundheitsämter zweier Großstädte (Frankfurt/Main, Halle/Saale), die mit solchen Fragen befasst sind - und haben nicht immer ohne weiteres Antworten auf diese Frage gefunden.

Aus den bestehenden Empfehlungen und rechtlichen Rahmenbedingungen lassen sich allgemeine Prinzipien ableiten, die aber recht abstrakt bleiben und wenig konkrete Gestaltungshinweise beinhalten. Auch ist es so, dass einige dieser Prinzipien so weit von der bestehenden Realität entfernt sind, dass ihre Relevanz für konkrete Planungsprozesse gering ausfällt: Natürlich soll unsere Planung und Steuerung gemeindenah und bedarfsgerecht sein. Sie soll die Prinzipien „ambulant vor stationär”, die Gleichstellung psychisch Kranker mit somatischen Kranken, die Prinzipien der personenbezogenen Hilfen, das Normalisierungsprinzip und das „Empowerment” berücksichtigen. Schwendy [1] beklagte zu Recht anlässlich des 25-jährigen Jubiläums zur Psychiatrie-Enquete das „Versäumnis des Aufbaus einer stringenten Steuerung auf örtlicher Ebene”. Einige neuere deutschsprachige Publikationen [2] befassen sich deshalb mit der Frage, wie Steuerung auf der Ebene der Gemeinde zu realisieren ist. Angesichts der Zersplitterung der Finanzierung der Hilfen für psychisch kranke und behinderte Menschen und angesichts der vielfältigen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften, die diese regeln, liegt der Schwerpunkt der Diskussion hier bei den konkreten sozialrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten und wird notwendigerweise in einer Sprache geführt, die überwiegend der Sphäre sozial- und verwaltungsrechtlicher Regelungen (und nicht der medizinischen Wissenschaft) zugehört. Zugleich wird in den letzten Jahren mit Interesse die Entwicklung in englischsprachigen Ländern [3] und Italien [4] beobachtet, wo angesichts anderer Finanzierungs- und Gesundheitssysteme interessante Formen der gemeindepsychiatrischen Versorgung entwickelt wurden. So hat das englische Gesundheitsministerium Rahmenempfehlungen der psychiatrischen Versorgung veröffentlicht, an denen sich dortige Planungsprozesse orientierten sollen [5].

Die Inhalte solcher Empfehlungen erscheinen auf den ersten Blick einleuchtend. Letztlich ist aber nicht belegt, dass ihre Umsetzung tatsächlich die Qualität der psychiatrischen Versorgung verbessert. Zwar besteht in der „alltäglichen sozialpsychiatrischen Praxis” in vielen Bereichen Übereinstimmung, was in der Versorgung als wünschenswert angesehen wird, jedoch finden sich - teilweise erstaunliche - Diskrepanzen zu dem, was sich als effektiv und effizient erwiesen hat - es sei hier beispielsweise auf Cochrane Reviews gemäß den Prinzipien der evidenz-basierten Medizin verwiesen, die - nicht unumstritten - bestimmten psychosozialen Interventionen keine oder geringe Effizienz zuerkannt haben (z. B. [6]). In der kommunalen Planung spielen nicht nur medizinisch-therapeutische Fragen eine Rolle, sondern haben auch ordnungspolitische, sicherheitsrelevante, öffentlichkeitswirksame und haushaltstechnische Fragen eine mindestens gleichrangige Bedeutung. Nachfolgend sollen drei Aspekte skizziert werden, die die Diskrepanzen zwischen den administrativen Planungsprozessen der kommunalen Psychiatrie und den wissenschaftlichen Erkenntnissen berühren:

Ergebnisqualität als Zielparameter der Planung, inhaltliche und sprachliche Differenzen zwischen Verwaltung und Wissenschaft sowie die Frage der Zielgruppe.

Literatur

  • 1 Schwendy A. Wen hat die Psychiatrie-Reform vergessen, verdrängt, verschoben …?. In: Aktion Psychisch Kranke (Hrsg) 25 Jahre Psychiatrie-Enquete. Band II. Bonn; Psychiatrie-Verlag 2002: 29-43
  • 2 Schmidt-Zabel R, Kunze H. Aktion Psychisch Kranke (Hrsg) .Mit und ohne Bett. Personenzentrierte Krankenhausbehandlung im Gemeindepsychiatrischen Verbund. Köln; Rheinland-Verlag 2002
  • 3 Becker T. Gemeindepsychiatrie. Entwicklungsstand in England und Implikationen für Deutschland. Stuttgart, New York; Thieme 1998
  • 4 Girolamo G de. Der gegenwärtige Stand der psychiatrischen Versorgung in Italien.  Nervenarzt. 2001;  72 511-514
  • 5 Department of Health .National Service Framework for Mental Health: Modern Standards and Service Models. London; Department of Health 1999
  • 6 Marshall M, Gray A, Lockwood A, Green R. Case management for people with severe mental disorders.  Cochrane Database of Systematic Reviews. 2003;  3 3
  • 7 Tansella M, Thornicroft G. A conceptual framework for mental health services: the matrix model.  Psychol Med. 1998;  28 503-508
  • 8 Böcker F M, Jeschke F, Brieger P. Psychiatrische Versorgung in Sachsen- Anhalt: Einrichtungen und Dienste im Überblick. Eine Erhebung mit dem „European Services Mapping Schedule” ESMS.  Psychiat Prax. 2001;  28 393-401
  • 9 Kunze H. Personenzentrierter Ansatz in der psychiatrischen Versorgung in Deutschland.  Psycho. 1999;  25 728-735
  • 10 Serfling R, Rothe D, Schilling G. Personenzentrierte Hilfen in der Gemeindepsychiatrischen Versorgung.  Nervenarzt. 2003;  74 (suppl 2) S81
  • 11 Kirschenbauer H-J, Schrank W. „Erst die Pflicht, dann die Kür” - Vereinbarung zur außerstationären gemeindepsychiatrischen Pflichtversorgung in Frankfurt am Main.  Psychiat Prax. 2003;  30 342-344
  • 12 Holzinger A, Angermeyer M C. Akutelle Themen sozialpsychiatrischer Forschung im deutschen Sprachraum: Eine Inhaltsanalyse wissenschaftlicher Zeitschriften.  Psychiat Prax. 2003;  30 424-437
  • 13 Claasen D, Priebe S. Deutschsprachige Versorgungsforschung - Was und wie wird berichtet? Eine Analyse der Veröffentlichungen in der Psychiatrischen Praxis 1999 - 2002.  Psychiat Prax. 2003;  30 414-423
  • 14 Cooper B. Evidence-based mental health policy: a critical appraisal.  Br J Psychiatry. 2003;  183 105-113
  • 15 Schrappe M, Lauterbach K W. Evidence-based Medicine: Einführung und Begründung. In: Lauterbach KW, Schrappe M (Hrsg) Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine. Eine systematische Einführung. Stuttgart; Schattauer 2001: 57-66
  • 16 Roessler W. Wie definiert sich Qualität in der psychiatrischen Versorgung?.  Nervenarzt. 2003;  74 552-560
  • 17 Lauterbach K W. Utilitarismus und Kant. In: Lauterbach KW, Schrappe M (Hrsg) Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine. Eine systematische Einführung. Stuttgart; Schattauer 2001: 3-10
  • 18 Huxley P, Thornicroft G. Social inclusion, social quality and mental illness.  Br J Psychiatry. 2003;  182 289-290

Priv.-Doz. Dr. med. Peter Brieger

Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

06097 Halle/Saale

Email: peter.brieger@medizin.uni-halle.de

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