Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(10): 515-516
DOI: 10.1055/s-2003-37629-2
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Erwiderung: Klinische Ethikberatung - ein neues Betätigungsfeld für Medizinethiker?

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Publication Date:
29 April 2004 (online)

Der Leserbrief bringt drei wesentliche Dissensen mit meinem Beitrag [1] zum Ausdruck, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.

Der erste Dissens betrifft die Notwendigkeit der Ethikberatung. So schreiben die Kollegen Schäfer und Stadler, dass „wir mit ethischen Grenzsituationen konfrontiert [sind], in denen das ärztliche Handeln diesen hohen Ansprüchen [eine hohe ethische Kompetenz zu haben] nicht immer gerecht wird“. Als Medizin-ethiker und einstiger Kliniker kann ich nur sagen, dass es sehr bedenklich wäre, wenn diese Einschätzung der Autoren zuträfe. Die Fähigkeit, im alltäglichen ärztlichen Tun zu beurteilen, was im Sinne des Patienten ist, gehört zu den Kernkompetenzen eines jeden Arztes. Alle Bestrebungen, diese Kompetenz an Fachexperten zu delegieren, sind kurzsichtig und entsprechen nicht dem Selbstverständnis der Medizin als Disziplin der Hilfe. Daher ist die Ethikberatung nur dort zu begrüßen, wo sie eine Hilfe anbietet, die vom Arzt selbst nicht geleistet werden kann, weil die Situation so komplex ist, dass der externe Sachverstand neue Einsichten bringt. Der Dissens mit Schäfer und Stadler mag daran liegen, dass nicht hinlänglich berücksichtigt wurde, dass es mindestens zwei Funktionen gibt, die die Ethikberatung erfüllen kann. Sie kann auf der einen Seite darin bestehen, eine moralische Entscheidung zu bahnen, die inhaltlich nicht von den Ärzten selbst gefällt werden würde. Dies ist die Funktion, die die Kollegen im Auge haben, wenn sie den Ärzten die Kompetenz absprechen, von alleine eine solche gute Entscheidung zu treffen. Meines Erachtens kann diese Funktion jedoch nicht die zentrale Aufgabe der Ethikberatung sein. Die Autoren verkennen, dass der Ethiker bzw. die Ethikberatung noch eine zweite Funktion übernehmen kann, die nicht normativer, sondern prozeduraler Art ist. So könnte bei der Beratung die Hilfe des Ethiker darin bestehen, mit dem Behandlungsteam nicht den Inhalt selbst, sondern vielmehr den Prozess des weiteren Vorgehens gemeinsam zu klären. Strittig wäre hierbei also nicht die Frage, ob eine Maximaltherapie gut ist oder nicht, sondern wie man mit der Erkenntnis umgehen soll, dass sie nicht gut ist. Meist wird der Ethikberater gerufen, wenn das Behandlungsteam sich im Grunde einig ist, dass nicht weiter behandelt werden solle, aber Uneinigkeit über die konkreten Prozeduren bestehen, wie diese Erkenntnis in die Tat umgesetzt werden könne. Eher in diesem prozeduralen Sinne würde ich die Ethikberatung sehen wollen und nicht im Sinne des Ersatzes einer moralischen Entscheidung, zu der jeder Arzt unabdingbar befähigt sein muss. Meine eigenen Erfahrungen in Freiburg haben gezeigt, dass auf den Stationen, wo wir häufig Ethikberatungen vorgenommen haben, sich die Ethikberatung allmählich entbehrlich gemacht hat, weil die Kollegen durch die Beratungen selbst gelernt haben, die schwierigen Probleme allmählich auch ohne Ethiker zu lösen. Was die Kollegen hier gelernt haben, ist nicht die Beurteilung von Gut und Böse, sondern das konkrete Verfahren in schwierigen Situationen. Das Ideal, das dem Ethikberater daher vorschweben müsste, ist die Befähigung des Klinikers selbst, durch eigene Kompetenz schwierige Situationen zu meistern. Als solche mag die Ethikberatung hilfreich sein, aber eine Dauereinrichtung für alltägliche Entscheidungen, wie sie Schäfer und Stadler möglicherweise im Auge haben, kann die Ethikberatung meines Erachtens nicht sein, weil sie damit die Moralität der behandelnden Ärzte unterschätzte, weil sie sich illegitimerweise in die Arzt-Patient-Beziehung einmischte und weil sie einer weiteren Verbürokratisierung der Entscheidungsabläufe Vorschub leisten würde, die für die Medizin eher schädlich als nützlich wäre.

Der zweite Dissens bezieht sich auf das Selbstverständnis der Medizinethik. Zu Recht betonen Schäfer und Stadler, dass die Einführung klinischer Ethikberater nicht von Medizinethikern ex cathedra entschieden werden darf. Ob die Ethikberatung sein soll oder nicht sein soll, ist ganz und gar eine Entscheidung der Medizin selbst und keine Entscheidung des Ethikers. Gerade diese ist eine der zentralen Botschaften meines Beitrages. Als Ethiker jedoch sehe ich meine Aufgabe auch darin, besonders auf die Gefahren der Ethikberatung deutlich hinzuweisen, denn letztlich ist es die Ethik selbst, die durch den Ruf nach Ethikberatung verführbar wird. Allein die Tatsache, dass die Medizinethik als Disziplin von der Etablierung der Ethikberatung profitieren würde, macht sie anfällig. So steht bei allem Plädoyer des Ethikers für die Ethikberatung die Frage im Raume, ob von einer solchen Praxis eher die Medizin oder nicht vielleicht eher die Ethik am meisten profitieren würde, denn immerhin würde sich die Ethik durch die Etablierung von klinischen Ethikkomitees eine weitere Existenzberechtigung verschaffen. Weil die Ethik auf diese Weise grundsätzlich verführbar ist, kann das Plädoyer für die Ethikberatung nicht zu allererst vom Ethiker kommen. Vielmehr muss die Medizin selbst diesen Bedarf anmelden.

Doch selbst wenn die überwiegende Mehrheit der Mediziner zu der Überzeugung gelangen, dass die Ethikberatung unbedingt notwendig sei, so müsste dann in einem zweiten Schritt geklärt werden, aus welchen Beweggründen die Kliniker eine solche Beratung wünschten. Nach meinem Verständnis von Medizinethik kann die Ethikberatung ihren Sinn allein darin haben, einen Beitrag zur Verbesserung der Patientenversorgung zu leisten. Wenn man sich auf diese Zielsetzung einigt - und die Kollegen Schäfer und Stadler scheinen dieser folgen zu wollen - so hat dies weit reichende Konsequenzen. Wie soll man dann z. B. damit umgehen, dass auf der einen Seite der Patient die einzige Legitimation der Ethikberatung sein soll und auf der anderen Seite viele Befürworter der Ethikberatung sogar offen zugeben, dass die Einrichtung eines Ethikkomitees aus ökonomischen Gründen erfolge und der Profilierung der Klinik im Wettbewerb diene [2]? Wenn dieser ökonomische Aspekt nicht nur ein Begleitumstand, sondern die wesentliche Rechtfertigung der Ethikberatung wäre, müsste die Medizinethik im Interesse ihrer Lauterkeit eine solche Indienstnahme ablehnen. Ich sehe den Sinn der Ethik in der Medizin vor allem darin, den in der Medizin Tätigen einen Dienst der Hilfe zur Realisierung einer humanen Medizin anzubieten. Wenn nun die Zielsetzung des Beratungsgesprächs umgedeutet wird und ein solches nur stattfände, weil man sich damit einen Marktvorteil verspräche, so würde sich die Ethik auf diese Weise verkaufen, und das wäre der Anfang vom Ende einer verheißungsvollen aufkeimenden neuen Disziplin. Der Marktvorteil ist für sich genommen nichts Verwerfliches, aber er darf nur Begleitumstand und nicht zentrales Motiv sein.

Der dritte Dissens betrifft die Zuständigkeit der Ethikberatung. Die Kollegen kommen zu dem Schluss, dass angesichts wachsender äußerer Zwänge die Etablierung klinischer Ethikberatung dringend nötig sei. Diese Einstellung mag honorig sein, aber ich fürchte, dass für dieses Problem die Ethikberatung die falsche Lösung ist. Die „Ökonomisierung“ der Medizin ist eine ethische Herausforderung für das Selbstverständnis der Medizin. Daher sollten die Auswirkungen der Ökonomisierung auf die Legitimität des alltäglichen Tuns untersucht und reflektiert werden. Aber ich bezweifle, dass die klinische Ethikberatung im konkreten Einzelfall in diesem Kontext tatsächlich ein drohendes Unheil verhindern könnte. Wenn die äußeren Zwänge für die Medizin als Bedrohung ihrer Integrität empfunden werden, so wäre es Aufgabe der Medizin selbst, auf diese Bedrohung hinzuweisen und auf eine Änderung der Strukturprobleme hinzuwirken. Hierbei wird der Ethiker dem Kliniker sicher unterstützend zur Seite stehen, aber ein strukturelles Problem hinzunehmen und die Lösung der Ethikberatung zu überlassen, ist wenig hilfreich, weil das Problem nicht im mikroallokatorischen Bereich, sondern in der Makroallokation ihren Ursprung hat. Daher müssten zur Lösung dieses Problems eher transparente Kriterien für den Umgang mit knappen Ressourcen entwickelt werden als Ethikkomitees zu gründen.

Auf all diese Grenzen der Ethikberatung hinzuweisen war das Anliegen, das ich mit meinem Beitrag [1] verfolgt habe. Daher ehrt es die Kollegen, wenn sie optimistischer sind als ich, aber erst die Zukunft der Medizin wird zeigen, ob das momentane Plädoyer für die Ethikberatung nur eine interessengeleitete Modeerscheinung ist oder nicht. Eine Modeerscheinung wäre sie erst dann nicht, wenn sie dauerhaft unter Beweis gestellt hätte, dass die Ethikberatung nichts anderes ist als eine hilfreiche und vor allem selbstlose Begleitung der Heilberufe im Interesse des Patienten. Diesen Beweis kann man nur erbringen, wenn man die möglichen Irrwege stets im Auge hat.

Literatur

  • 1 Maio G. Braucht die klinische Medizin Ethikberater?.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 2285-2288
  • 2 Kettner M, May A. Ethik-Komitees in Kliniken - Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven.  Ethik Med. 2002;  14 295-297

Autor

Priv.-Doz. Dr. Giovanni Maio

Zentrum für Ethik und Recht in der Medizin, Universitätsklinikum

Elsässer Straße 2m, Haus 1A

79110 Freiburg

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