Krankenhauspsychiatrie 2002; 13(4): 131
DOI: 10.1055/s-2002-36442
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Qualität des weiten Horizontes

Seelsorge im psychiatrischen KontextH.-D.  Schäfer
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Publication Date:
03 January 2003 (online)

Wer nach einem eigenen Profil sucht, kommt an Qualität nicht vorbei. Auch nicht die Kirche. Aber lässt sich Qualität in der Seelsorge überhaupt messen, geschweige denn objektivieren? Ich kann objektive Fakten eruieren, wie etwa die Häufigkeit von Besuchen, die Regelmäßigkeit von Angeboten, die Anzahl der Gottesdienste und Andachten auf Stationen, also Aussagen über Quantitäten machen. Über den Wert der zwischenmenschlichen Kontakte und Angebote sagen diese Fakten nichts aus. Trotzdem: Für ein Arbeitsfeld, das sich positionieren will, sind die Bestrebungen, Qualitätsmerkmale moderner leistungsfähiger Betriebe mit den Arbeitsfeldern der Theologie und der Seelsorge zu verbinden, ein spannendes und notwendiges Unternehmen. Wo die Schweigepflicht nicht tangiert wird, habe ich mich einer eigenen Selbstbewertung nach EFQM unterzogen. Es wurde mir durch den Prozess deutlich, dass die drei für meinen Auftrag erkannten Schlüsselqualifikationen, nämlich Zeit, Vertrauen und (innerer und äußerer) Raum, noch deutlicher herauszukristallisieren sind. Als ungebundener Externer mit dem entsprechenden Blick von außen nehme ich Verantwortung für Menschen wahr. Nicht erst wenn das buchstäblich letzte Stündlein geschlagen hat, sondern ganz konkret, wenn Sinn- und Lebensfragen aufbrechen, wenn Menschen belastet und verletzt sind, auch verletzt von Menschen, die aus dem Umfeld der Kirche kommen, dann ist der Pfarrer/die Pfarrerin gerade in der Psychiatrie gefordert.

Die Praxis zeigt, dass besonders im psychiatrischen Krankenhaus die offene personale Kommunikation, der Dialog mit Andersdenkenden und Andersglaubenden und die Bereitschaft zur inneren Entwicklung gefragt sind. Krankenhausseelsorger/-innen in der Psychiatrie tragen zur menschlichen Wärme und atmosphärischen Versorgung bei - Worte, die man nicht leicht auf Qualitätsskalen verorten kann und die trotzdem unbestritten als wesentliche Wesensmerkmale eines modernen Krankenhauses gelten. Im Blick auf eine immer stärkere zeitliche Inanspruchnahme des Pflegepersonals ist das Angebot an Zeit, Vertrauen und Raum mehr als notwendig. Wertvolle Erfahrungen sind an den Schnittstellen zwischen kirchlicher Gemeinde und Psychiatrie zu sammeln und qualifiziert in außerpsychiatrische Begegnungen und Gremien einzubringen.

Krankenhäuser im Allgemeinen und speziell das psychiatrische Krankenhaus sind Sensoren, an denen man gesellschaftliche Veränderungen tendenziell erspüren kann, mit nicht gering zu schätzender Bedeutung für die Kirchen. Ich denke z. B. an die starke Zunahme von Angststörungen, Suchtkrankheiten und Depressionen. In all diesen sensiblen Bereichen menschlicher Existenz buchstabieren wir exemplarische Situationen durch, die für Kirche und Krankenhaus bedeutsam sind.

Für die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes und für das weite Spektrum kirchlicher Arbeit mit Menschen sind die Erfahrungswerte der Psychiatrieseelsorge sehr hoch einzuschätzen. Psychiatrieseelsorge erweitert den Horizont der Kirche und bricht verkrustete Strukturen auf. Ihre Sicht der Dinge muss noch viel mehr Eingang finden in Kontexte bürgerlicher Theologie. Kirche lebt in stationären Gottesdiensten und Besinnungen genauso wie in rituellen Feiern im Kirchengebäude. Sie lebt in Gruppen und interdisziplinären Projekten, in Einzelgesprächen und in zufälligen Begegnungen auf dem Gelände. Sie lebt und sie lernt von Menschen und mit Menschen. Immer wird Qualität und Herzlichkeit gefordert sein, eine Qualität des weiten Horizontes.

Hans-Dieter Schäfer

Evangelischer Krankenhauspfarrer, ZfP Weissenau

Weingartshofer Str. 2

88214 Ravensburg

Email: presse-rv@evkirche-rv.de

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