Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(36): 1842-1844
DOI: 10.1055/s-2002-33868
Medizingeschichte
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Gute Verdauung ist besser als eine Million” (Theodor Fontane)

Vom Klistier zur modernen PankreasforschungIndigestion - from enema to modern pancreas researchB. Ignatzek
  • 1Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg
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eingereicht: 7.5.2002

akzeptiert: 21.6.2002

Publication Date:
05 September 2002 (online)

„Reiche Leute haben”, so wusste bereits J. P. Hebel in seinem „Geheilten Patienten” zu berichten, „trotz ihrer gelben Vögel [Goldstücke] doch manchmal allerlei Lasten und Krankheiten auszustehen, von denen gottlob der arme Mann nichts weiß, denn es gibt Krankheiten, die nicht in der Luft stecken, sondern in den vollen Schüsseln und Gläsern, und in den weichen Sesseln und seidenen Betten ...” [5]. Damit war selbstverständlich auf die gerade in der wohlhabenden Bevölkerung weit verbreiteten Verdauungsstörungen angespielt, gegen die auch die Medizin des 19. Jahrhunderts noch kaum mehr als das Klistier einzusetzen hatte.

Besonders in der Barockzeit war das Klistier traditionelles Standardinstrument bei den meisten Verdauungsbeschwerden, ob es sich nun um Magendrücken und -krämpfe oder um Meteorismus als Zeichen für eine übermäßige Nahrungsaufnahme handelte. Schon die Ägypter, Griechen und Römer hatten es genutzt, und im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts löste das Klistier eine wahre Manie aus. Die adelige, moderne Frau ließ es sich mit Eselsmilch verabreichen, um einen schönen Teint zu bekommen, der große Herr mit Eidotter, um die Potenz zu steigern, der Gesundheitsbewusste tat es zur Prophylaxe, der Kranke sowieso, weil das Purgieren seiner Zeit zum Therapieschema gehörte [4] [19]

Über eine solche ganz alltägliche Klistierverabreichung lesen wir in den „Memoiren des Herzogs von Saint-Simon”: „Als man eines Abends Komödie spielte, kam plötzlich Nanon, die ehemalige Kammerfrau der Mme. de Maintenon in den Saal. Die Prinzessin ging auf sie zu, dann lehnte sie sich mit dem Rücken an den Kamin, stützte sich mit den Armen auf einen kleinen Wandschirm, der zwischen zwei Tischchen stand, Nanon, die eine Hand in der Tasche hielt, kniete hinter der Prinzessin nieder. Der König, der in unmittelbarer Nähe stand, fragte, was sie da täten; die Prinzessin erwiderte lachend, sie täte das, was sie da häufig zu tun pflege, wenn des Abends Komödie gespielt würde. Der König gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. >Wollen Sie es wirklich so genau wissen?< fragte sie. >Nun also, ich lasse mir ein Klistier geben.< - >Wie?< rief der König, der vor Lachen kaum sprechen konnte. >Sie lassen sich hier ein Klistier verabreichen?< - >Aber gewiß<, erwiderte sie. Darauf der König: >Und wie bewerkstelligen Sie das?< - Alle vier schüttelten sich vor Lachen. Nun nahm Nanon die Spritze, die sie fertig unter ihren eigenen Röcken trug, schürzte die Röcke der Prinzessin, die jene so zurechtlegte, als sei sie dabei, sich am Kamin zu wärmen, unterdessen Nanon ihr das Klistier verabreichte. Die Röcke fielen wieder herab, und Nanon verbarg die Spritze in ihrer Kleidertasche. Niemand hatte irgendetwas bemerkt; der König und Mme. de Maintenon waren höchst erstaunt und fanden das Ganze sehr drollig” [16].

Das Klistier hatte aber nicht nur Anhänger, sondern auch Gegner. Es gab Stimmen, die sagten, sie würden lieber sterben, als sich ein Klistier verabreichen zu lassen. Diese Stimmungsmache wider das Klistier ging so weit, dass ein Traktat erschien [11] [17], in welchem das Klistier verteidigt und behauptet wurde, dass nur der Pöbel etwas gegen das Klistier haben könne. „Nicht allein die Verstopfung, welche von hartem Kot entsteht, wird durch die erweichende Clystire gehoben, sondern man hebt durch den vernünftigen Gebrauch gehöriger Clystire oft hartnäckige Verstopfungen der Eingeweide, Drüsen, und der Gefäße des Unterleibes, und die daher entstehende langwierige Krankheiten oder so genannte chronische Übel” [17].

Unter einem Klistier verstand man damals eine Brühe, welche mittels einer Spritze in den Mastdarm gebracht wird. In Deutschland bediente man sich als Klistier einer Kälber- oder Schweinsblase, in Frankreich einer großen Spritze aus Zinn. Weil es Menschen gab, die sich diese Spritzen nicht von einem Arzt oder Apotheker geben lassen wollten, so erfand man Maschinen, mit denen man sich selbst, oder mittels einer Vertrauensperson das Klistier geben lassen konnte, wie eingangs beschrieben. Dort ließ sich die Dauphine, die Frau des Enkels und Thronfolgers Ludwigs des XIV. ein Klistier geben. Grundsätzlich nahmen die Ärzte und Apotheker für sich in Anspruch, allein die wahre Kunst des Klistierens zu beherrschen, vielmehr auch darum, da nur sie über die Kenntnisse der Heilmittel und Kräuter verfügten, um die richtigen Mixturen zubereiten zu können. Man glaubte nicht nur, Verdauungsbeschwerden mit Klistieren zu beheben, sondern auch jene Krankheiten zu heilen, welche nie durch die Einnahme von Arzneimitteln durch den Mund hätten behoben werden können, da man nur durch das Rectum selbst jenen Feinden vorbeugen könne, die oft heimlich die Eingeweide unterminierten [17].

Dyspeptische Beschwerden wurden aber nicht nur durch Purgation behandelt, sondern man empfahl den Armen Bewegung und den Reichen Reisen. Da alle Klassen einer Gesellschaft Verdauungsstörungen hatten, so haben Arm und Reich beim Essen das Maß überschritten. Bei Angehörigen der mittleren und unteren Schicht konnten dyspeptische Beschwerden durch Diät und gymnastische Bewegung geheilt werden. Der Reiche vergisst während seiner Reisen beim Betrachten der schönen Landschaft und den Anstrengungen seine Beschwerden [17].

Bei dyspeptischen Beschwerden verordneten die Ärzte aber nicht nur Reisen, Bewegung oder Purgation. Friedrich Hoffmann, Professor in Halle und Leibarzt des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I., pflegte „... nicht viel medicamenta zu verordenen” [7] . Einem Patienten rät er, ...”statt des ordinairen Getränckes , den Nieder-Selters-Brunnen, welcher bey den Kauffmann Hrn. Hochheimer, in Leipzig wohl zu bekommen, mit den vierdten Theil guten Burgunder oder Hochheimer vermischt, bei der Tafel zu trincken....Zur Bewegung wird wohl die beste Art seyn das Reiten, bei stiller temperirter Lufft, des Morgens früh, oder gegen Abend [7]. Als Chemiker weiß Hoffmann über die beruhigende Wirkung bestimmter Mineralwässer Bescheid. Andere Male weist er Patienten an, die Getränke zu wechseln, etwa eine andere Biersorte oder den Wein aus einer anderen Landschaft zu trinken, da dieser nicht so schwer sei. Absolute Verbote wie heute gab es nicht. Die Bedeutung und Berühmtheit des Professors Hoffmann ist so groß, dass es von vielen Kollegen um Rat gefragt wird und auch „Responsiones facultatis” gibt [8]. Hoffmann gibt als Gründe für Flatulenz und des Magenschmerzes eines Patienten an, dass der Magen verdorben sei, dort seien viel Schleim, Säure und Cruditäten. Der Grund hierfür sei die ungesunde Lebensführung des Patienten. Hoffmann empfiehlt eine Diät und der Patient solle sich nicht aufregen, sich bewegen, Magen und Füße warm halten und angenehme Gesellschaft suchen. In diesen Consultationes wird keine Diagnose gestellt, Ursachen werden in der Lebensführung des Patienten gesucht und dem Patienten wird empfohlen diese umzustellen. Über die Ursachen werden vage Vermutungen angestellt; der Arzt ist im Grunde hilflos, es ist im Grunde alles gelehrte Quacksalberei. „Die Ursachen sind weiter schwerer zu erkennen, als die Krankheiten selbst” [19] . So urteilte das Zedlersche Universallexikon im 18. Jahrhundert. Zumal sich die Ärzte seinerzeit keiner technischen Hilfsmittel der modernen Diagnostik bedienen konnten. Magen - Darm - Beschwerden wurden in den Lehrbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts als sympathetische Krankheiten bezeichnet, die sich im Magen oder Darm äußerten, während der eigentliche Krankheitsherd woanders liege. Der Verdauungsapparat sei durch die sensiblen Nervenverbindungen aber zum Mitleiden verurteilt [9].

Dass das Pankreas an der Verdauung mitbeteiligt ist, wusste im 17. Jahrhundert bereits Johann Baptist van Helmont [1] [6] [10] . Er kannte die Mitwirkung der Säure bei der Verdauung. Lazzaro Spallanzani wies im Jahre 1782 nach, dass es sich bei der Verdauung nicht um Fäulnis und Gärung, sondern um einen chemischen Prozess handelt, indem er den erbrochenen Mageninhalt von Vögeln untersuchte. Spallanzani leugnet aber den saueren Charakter des Magensaftes. Dieser Nachweis sollte erst Johannes Müller im Jahre 1834 gelingen [1].

Abb. 1 Kaiserliches Patent des ersten Pankreaspräparates (Quelle: Kuhlmann [12] S. 111).

Schon 1560 hatte Jean Fernel zum erste Mal von einer Erkrankung des Pankreas geschrieben, „... in welchem vermehrt gebildete Säfte wie in einer Kloake zusammenfließen ... und durch die Veränderung dieses Gebildes die Ursachen der Melancholie und Hypochondrie neben Cholera, Diarrhöen, Dysenterie, schleichenden Fiebers und Mattigkeiten” ... entstehen. Andreas Schatow aus Torgau, Professor in Wittenberg, wusste 1578 über Erkrankungen des Pankreas zu berichten, bei der „als Symptome reichliches Erbrechen und Durchfall” zu beobachten seien [18]. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts war der Zusammenhang zwischen Pankreas und Diabetes bekannt. Langerhans [14] entdeckte im 19. Jahrhundert die „insulae”. Mering und Minkowski entwickelten eine Operationstechnik zur totalen Exstirpation des Pankreas. Das auffälligste Ergebnis war der Diabetes. Ferner stellte man fest, dass sich bei Fehlen des Pankreas eine veränderte Resorptionsleistung der Nahrung im Darm ergab. Die Aufnahme der Eiweiße verringerte sich ganz erheblich. Bei Zuführung von Schweinepankreas stieg sie jedoch wieder auf 74 % (bei Hunden) des normalen Wertes an. „Die Pankreassubstanz hatte einen deutlichen, experimentell belegbaren Einfluss auf die Eiweißverdauung, im Gegensatz dazu konnte der Magen allein kaum das Fehlen dieses Organs ausgleichen, wie es so lange angenommen worden war. Für die Resorption der Kohlehydrate lagen die Verhältnisse ähnlich, das Fehlen des Pankreas verringerte sie deutlich, machte sie aber nicht unmöglich. Die mangelhafte Verdauung der Nahrung im Darmkanal ist in vielen Fällen von frischem Pankreas zu bekämpfen” [2] [12]. Seitdem ist es möglich Pankreasenzyme oral zu substituieren (Abb. [1] ).

Erst im 20. Jahrhundert allerdings sollte man die exakten Zusammenhänge zwischen Pankreas und Verdauung ermitteln. Forschungen über die Regulation der exogenen Pankreasenzymsekretion nach Einnahme einer Mahlzeit waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts Gegenstand von Untersuchungen. Pawlow und Heidenhain zeigten in ihren Arbeiten, dass die exogene Sekretion des Pankreas neuronalen Reflexen unterliegt. Die beiden englischen Physiologen Bayliss und Starling bewiesen, dass das exogene Pankreas auch einer endokrinen, hormonalen Regulation unterliegt. Der Sekretinfaktor stimuliert die exokrine Pankreassekretion - die Darmschleimhaut träufelt Säure in den Blutkreislauf und setzt damit den Sekretinfaktor frei. Die duodenale Mucosa enthält darüber hinaus eine Substanz, die eine Kontraktion der Gallenblase bewirkt, das so genannte Cholezystokinin. Harper und Raper beobachteten 1943, dass Nahrung im Dünndarm zu einer Steigerung der Enzymsekretion führt, selbst wenn der Dünndarm denerviert ist. Dieser enthält darüber hinaus einen biologisch aktiven Faktor, welcher die Sekretion von Pankreasenzymen stimuliert. Dieses Hormon wird Pankreozymin genannt. 1968 gelang es Mutt und Jorpes dann, die Peptidhormone Sekretin und Cholezystokinin zu isolieren und die chemische Struktur zu beschreiben. Beide Wissenschaftler konnten beweisen, dass das Pankreozymin mit Cholezystokinin identisch ist. In den siebziger und achtziger Jahren wurden neue aktive regulatorische Peptide im Gastrointestinaltrakt entdeckt, die ebenfalls Einfluss auf die exogene Pankreasfunktion haben. Diese Forschungsergebnisse zeigen eindeutig, dass die exogene Pankreassekretion durch gastrointestinale Peptide bestimmt wird, die einerseits als Neuropeptide, andererseits als klassische endokrine Hormone wirken. Erst im ausgehenden 20. Jahrhundert konnte man diesen komplizierten biochemischen Vorgängen mit Hochtechnologie-Diagnostik auf die Spur kommen [9] [13].

Literatur

  • 1 Diepgen P. Geschichte der Medizin, Bd. I, Berlin 1949 u. Bd. II,1,. Berlin, de Gryter 1951
  • 2 Engelhardt D, Hartmann F. Klassiker der Medizin, Bd. 2,. München C.H. Beck 1991
  • 3 Encyclopaedia Anatomica. Köln Taschen Museo La Specola Florenz 1999
  • 4 Encyclopaedia Britannica. Edinburgh 1771 Vol. III
  • 5 Hebel J P. Der Geheilte Patient,. Berlin - Weimar Aufbau Verlag in: Hebels Werke 1978
  • 6 Helmont J B van. Ortus Medicinae,. Venedig 1651
  • 7 Hoffmann F. Gründliche Anweisung, wie ein Mensch...seine Gesundheit erhalten...könne, Bd. 6, Halle 1715, Bd. 7,. Halle 1726
  • 8 Hoffmann F. Medicina Consultatoria,. 12 Bde., Halle 1726-1738
  • 9 Ignatzek B. Das Pankreas,. Berlin [in Vorbereitung]. Springer Verlag in: Gerabek W, Dietrich-Haage B (Hg.). Pschyrembel Geschichte der Medizin 2002/03
  • 10 Koelbing H M. Die Ärztliche Therapie,. Darmstadt Wiss. Buchgesellschaft 1985
  • 11 Krizek V. Kulturgeschichte des Heilbades,.  Edition Leipzig 1990
  • 12 Kuhlmann H. Die Zauberstoffe im Wampenbries,. Hannover Solvay Arzneimittel GmbH 1999
  • 13 Mössner J, Adler G, Fölsch U, Singer M. Erkrankungen des exkretorischen Pankreas,. Jena Gustav Fischer Verlag 1995
  • 14 Langerhans D. Beiträge zur mikroskopischen Anatomie der Bauchspeicheldrüse,. Inaugural Diss., Berlin 1869
  • 15 Lanza B. Le Cere Anatomiche della Specola,. Firenze Arnaud Editore 1979
  • 16 Saint-Simon L de. Die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon,. Bd. 3, Frankfurt/M. Ullstein Verlag 1991
  • 17 Schramm P. Vom Grimmen im Leibe,. Taunusstein Edition Rarissima 1990
  • 18 Spiegelhoff W. Die Geschichte der Pankreaserkrankungen,. Emsdetten Verlagsanstalz Heinrich + Lechte 1937
  • 19 Zedler J H. Grosses Vollständiges Universal Lexikon,. Bd. 6, Leipzig Halle + Leipzig Verlag 1733

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