PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(2): 201-206
DOI: 10.1055/s-2002-32447
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gefühle eines
Grenzgängers

Reinhold  Messner, Steffen  Fliegel, Annette  Kämmerer
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Publication Date:
25 June 2002 (online)

PiD: Herr Messner, herzlichen Dank, dass wir uns hier im Zug treffen können und Sie bereit sind, mit uns über Gefühle in Extremsituationen und Gefühle eines Grenzgängers zu sprechen. Was uns nach dem Lesen Ihres sehr beeindruckenden neuen Buches[2] zunächst interessiert: Wie erleben Sie in Ihrem Alltagsleben Gefühle, wenn die herausfordernden Gefühle an ganz anderen Stellen, nämlich in Extremsituationen, ihren Platz haben? Können Sie sich eigentlich noch über Alltäglichkeiten freuen oder können Sie in Ihrem Leben „nur wenig über dem Meeresspiegel” noch Angst haben?

R. Messner: Die „extremen Gefühle”, das ist ein Ausdruck, den ich nicht gebrauchen würde; ich führe ein ganz normales bürgerliches Leben und ich habe auch ganz normale Gefühle. Ich bin früher sehr viel hinausgegangen und habe dann ein Leben geführt wie der Mensch vermutlich vor einhundert- oder zweihunderttausend Jahren, ein Leben, in dem Sicherheit halt nicht mehr gegeben ist. Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass der Mensch nichts anderes getan hat in den letzten zehntausend Jahren, als sich ständig neue Pseudosicherheiten aufzubauen. Wenn er rational nachgedacht hätte, hätte er immer gewusst: Das ist keine Sicherheit. Und spätestens seit dem 11. September wissen wir, dass unsere Welt immer gefährlicher und eben nicht sicherer geworden ist. Aber wir suggerieren uns Sicherheiten und fühlen uns auch sicher.

PiD: Und was bedeutet das für Ihre Expeditionen?

R. Messner: Wenn ich in einer großen Kolonne auf den Berg steige, habe ich, auch wenn ich in einer gefährlichen Situation bin, das Gefühl, das kann ja nicht gefährlich sein. Sonst würden die hinter mir und vor mir nicht noch steigen, dann würden die irgendwie absteigen. Wenn ich aber allein oder in einer kleinen Gruppe unterwegs bin, dann suche ich ununterbrochen den Horizont ab: Kommt schlechtes Wetter, kommt eine Lawine, finden wir noch zurück? Das heißt, ich bin dann dauernd auf der Hut. Wenn ich hinausgehe in die Antarktis, auf den Everest, dann bin ich weit weg von dieser Zivilisation. Und es gibt dort eine eigene Gesetzmäßigkeit: die Natur und ich mit meiner Menschennatur, der da versucht, zurechtzukommen. Alle Moral ist dann aufgehoben.

PiD: Aber Ihre Gefühle sind ja eine wichtige Informationsquelle, um die Natur einschätzen zu können, d. h. die Natur wirkt auf Sie und Sie interpretieren die Natur. Da ist Ihr Gefühlsleben, das, was Sie wissen, und vor allem das, was Sie spüren, ein wichtiger Maßstab.

R. Messner: Ich würde eher sagen, dass ich die Natur instinktiv interpretiere und mich dementsprechend verhalte; mit den Gefühlen interpretiere ich allerdings mich selber und meine Partner. Und diese Instinkte und Gefühle, die da auftreten, sind ungemein wichtig fürs Überleben. Ich brauche Instinkte, um zu wissen, dieser Hang ist nicht ganz sicher, der kann rutschen, es gibt weiteren Schnee usw.; oder wenn ich da um die Ecke biege, das dauert vielleicht zwei Tage lang, dann find’ ich, wenn z. B. Nebel ist, nicht mehr zurück. Dann richte ich mir das so ein, dass ich mir einen Steinmann mache, wenn Steine da sind, damit ich wieder eine Orientierungshilfe habe. Das sind aber alles Instinkte bzw. schon Erkenntnisse, die aus den Instinkten folgen. Aber, und das ist sehr interessant, ich habe ja auch eine eigene „Natur”. Und ich kenne mich mehr oder weniger gut, aber ich kann mich nicht selber belügen. Ich kann mich und die anderen in der Zivilisation sehr gut belügen und damit zurechtkommen. Wenn ich am Ende der Welt bin, sind alle Masken gefallen.

PiD: Sind denn in der Bergwand erst die Gefühle da oder werden die Gefühle durch Ihre Gedanken „Wo bin ich hier, wie ist der nächste Schritt möglich, wo kann ich meinen Haken in die Wand hauen” hervorgerufen? Sind erst die Gefühle da oder erst die Gedanken?

R. Messner: Also, nach meinem Dafürhalten geht es Instinkt - Gefühle - Gedanken!

PiD: Und dann Verhalten?

R. Messner: Und dann Verhalten, ja. Also, ich bin überzeugt davon, dass die Gefühlsebene vor der rationalen Ebene kommt. Und das habe ich auch in meinem Buch versucht zu sagen. Aber ich kann immer nur von einem ganz speziellen Fall sprechen. Ich würde nie verallgemeinern: In der Wand passiert das, im Sturm passiert das!

PiD: Sind diese Instinkte aus Ihrer Sicht angeboren, hatten Sie die immer schon oder haben sie sich im Laufe Ihres Lebens entwickelt?

R. Messner: Also, meine Instinkte, gerade was die Bergnatur angeht, die sind mir nicht angeboren, sondern die haben sich entwickelt.

PiD: Können Sie sagen, wie sich diese Instinkte entwickelt haben?

R. Messner: Ich bin als kleines Kind in die Berge gekommen. Mit fünf Jahren bin ich auf den ersten großen Berg gestiegen, und wir haben die Sommermonate immer auf einer Alm verbracht. Das bedeutete, es gab kein Wasser im Haus, das Wasser war eine Quelle, da musste man zehn Minuten gehen. Die Milch musste man beim Nachbarn holen, Beeren konnte man pflücken, Pilze konnte man sammeln. Holz musste man aus dem Wald holen. Und dieses Alm-Leben war ein heißes Leben. Da sind wir immer wieder z. B. Tiere beobachten gegangen, Gämsen oder Adler. Und da haben wir Brüder untereinander uns gegenseitig positioniert. Wir sind auch klettern gegangen. Also irgendwo raufgestiegen. Und immer wieder probiert: Kann man da raufsteigen, kann man da wieder runterkommen? Und so haben wir uns langsam in diese Welt hineingetastet, und das wurde dann ein Instinkt. Wir schauten die Wand an und konnten sagen, der Fels ist brüchig. Warum, weiß ich gar nicht richtig.

PiD: Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, auf den Berg zu steigen? Es muss ja noch einen Unterschied geben zwischen denjenigen, die ebenfalls von früher Kindheit an gelernt haben, Natur und Berglandschaft einzuschätzen, und denjenigen, die sich dann später in solche Situationen des Bergsteigerischen begeben, wie Sie es getan haben. Was glauben Sie, was Sie befähigt hat?

R. Messner: Als ich ungefähr 18 Jahre alt war und aus dieser engen Welt, in der ich groß geworden bin mit meinen Brüdern, weg wollte, da war ich mit meinem jüngeren Bruder schon ein richtiges Kletterteam. Wir waren Kletterer mit Haut und Haaren. Wir waren nicht unbedingt besser als die anderen Kletterer - wir waren einfach zwei Dorfbuben, die halt auch geklettert sind. Aber wir kamen dann hinaus zu den berühmten Kletterern. Und die anderen Kletterer konnten sehr gut klettern, die konnten auch Techniken, die ich nicht beherrschte, Techniken mit Haken usw. Das habe ich alles sehr schnell gelernt. Aber ich hatte den Alten voraus, mit Instinkt den Weg zu suchen, ihnen zum Beispiel zu sagen: Das Wetter wird schlecht. Das habe ich förmlich gerochen oder auch abschätzen können, das geht oder das geht nicht. Also diese Instinkte, die mir als Kind zugewachsen sind, die habe ich mir nicht angeeignet, die sind mir zugewachsen, die hatte ich den anderen voraus. Und wenn die Rupal-Wand[3] uns gelungen ist und den anderen nicht - das haben ja zehn Jahre lang die besten Kletterer von Europa versucht, ältere Leute als wir, wir waren ja ganz junge Kerle -, dann deshalb, weil sie die Instinkte nicht hatten, weil sie nicht wussten, wie das geht.

PiD: Ihr Buch[4] drückt sehr viele Gefühlsmomente und -beschreibungen aus, die man herkömmlich als eher negativ bezeichnen würde. Um ein paar Beispiele zu nennen: „Einsamkeit, schmerzvoll, nur Angst, unendlich allein, emotional leer, mörderisch, apathisch, Verlorensein, Schatten seiner selbst”. Die positive Gefühlswelt wird im Buch deutlich seltener beschrieben. Was ist eigentlich das Motiv, sich aktiv und freiwillig diesen Herausforderungen zu stellen, wenn dann in der erlebten Erfahrung die negativen Gefühle so überwiegen?

R. Messner: Diese Nanga-Parbat-Expedition war ja eine dramatische, am Ende tragische Reise. Bei den großen Bergen, also bei Grenztouren, das kann auch in den Alpen sein, ist es aber generell so mit den Gefühlen, wie Sie es gelesen haben. Es ist ein Klischee, dass man am Berg oben dem Himmel näher ist und dass da oben nur Glücksgefühle vorhanden sind. Es kann schon sein, dass jemand auf den Montblanc steigt über eine schwierige Route und da oben dann zufrieden und auch vielleicht „glücklich” ist, weil der Abstieg kein Problem darstellt, weil nichts mehr vor ihm liegt. Aber mir soll niemand herkommen und erzählen, dass am Gipfel des Mount Everest oder des Nanga Parbat Euphorie ausbricht. Das ist nicht denkbar, das sind Klischees. Das haben die Laien erfunden, die Untengebliebenen, die haben sich das vorgestellt für die Hinaufgestiegenen. Und die, die hinaufgestiegen sind, haben das den Laien zuliebe nachgeplappert. Deswegen sage ich auch, es ist höchste Zeit, dass man mit diesen vielen Fehlinformationen und Vorurteilen aufräumt. Meine Bücher sind keine Lobhudelei auf die Bergsteigerei. Im Großen und Ganzen sind meine Bücher eher eine Warnung vor dem Bergsteigen.

PiD: Aber was veranlasst Sie dann, diese Expeditionen immer wieder zu tun?

R. Messner: Da habe ich eine eigene Theorie dafür. Wir Bergsteiger, oder wir Grenzgänger - ich bezeichne mich als Grenzgänger, weil ich ja auch anderes mache - unterliegen einem ganz bestimmten Krankheitsbild. Das ist das Krankheitsbild des romantischen Menschen, der immer wieder dort hin will, wo er die Quelle des Glücks hatte. Aber die Quelle des Glücks ist da oben nur, weil das Glück hinterherkommt. Denn wir steigen im Grunde hinauf, um zurückzukommen. Der aufregende Moment ist das Zurückkommen zu den Menschen. Und wenn ich vorher in einer menschenfeindlichen Welt war, keinen oder wenig Sauerstoff, große Kälte, Ausgesetztsein, Verlorensein, natürlich auch in der Angstsituation ,vielleicht komme ich nicht mehr hinunter‘, dann ist das Zurückkommen wie eine Wiedergeburt. Und hier war es konkret eine Wiedergeburt. Deswegen ist dieses Buch auch eine Art Schlüsselbuch zu der ganzen Bergsteigerei. Ich bin überzeugt davon, dass es noch kein Bergbuch gibt, das hintergründiger erzählt, wie dieses Zurückkommen aus einer völlig menschenfeindlichen Welt zur Menschenwelt funktioniert. Wobei ich am Beginn ja gar nicht geglaubt habe, dass ich jetzt wirklich schon zurück bin. Durch die vorherigen Halluzinationen war ich mir lange nicht sicher, ist das nun ein Mensch oder ist das nur eine Täuschung.

PiD: Sie beschreiben mehrmals ein Gespaltensein, zwei Menschen, die etwas Unterschiedliches tun: Sie waren Sie selbst und gleichzeitig neben sich, Sie haben sich von außen gesehen, es war jemand neben Ihnen, der so aussah wie Sie. War das hilfreich in dem Moment, war es hinderlich? Können Sie darüber etwas sagen?

R. Messner: Ohne diese Spaltung, die eine eindeutige Schizophrenie war zwischen Ratio und Emotion - mehr kann ich nicht sagen, weil ich keine Fachkenntnisse habe -, wäre ich sicherlich nicht mehr am Leben. Ich behaupte einfach frech als Nichtpsychologe: Die Schizophrenie war in früheren Zeiten, also sagen wir zehntausend Jahre zurück, eine Hilfe in kritischen Situationen. Und diese Spaltung passiert heute noch jedem, der mit dem Rücken zur Wand steht. Abgesehen davon, dass ich so die Möglichkeit hatte, mit einem anderen zu kommunizieren, Schmerz zu teilen, die Hoffnung oder auch Hoffnungslosigkeit zu teilen. Hoffnungslosigkeit geteilt ist nur mehr die Hälfte der Hoffnungslosigkeit.

PiD: Noch einmal zum Motiv Ihrer Grenzgänge: Heißt das, Sie müssen sich erst die menschenfeindliche Umgebung antun, damit Sie sich freuen können, zurückzukommen? Ist es ein wichtiges Motiv zu entfliehen, die negative Erfahrung zu machen und dann positiver gestimmt zurückzukommen?

R. Messner: Ja, grob ausgedrückt, ist es so. Aber so fängt es nicht an. Es fängt damit an, dass man sich da hinauftastet und immer weiter hinauftastet, bis es zum Grenzgang wird. Grenzgang heißt, ich bin an der Grenze zwischen möglich und unmöglich unterwegs. Wenn ich einen Schritt weiterginge, könnte ich tot sein, wenn ich aber einen Schritt darunter bliebe, wäre ich nicht gefordert, nicht voll gefordert. Aber erst an meiner Grenze erlebe ich diese Hoffnungslosigkeit, vielleicht die Hilflosigkeit und die Angst, jetzt komme ich nicht mehr hinunter, jetzt falle ich runter oder irgend so etwas. Diese Angst erlebe ich erst, wenn ich mich an meine Grenze begebe. Das Ausgeliefertsein erlebe ich erst, wenn ich merke, jetzt komme ich vielleicht nie mehr nach Hause, das ist so weit weg, da gibt es so viele Barrieren zwischen mir und der Sicherheit. Und wenn ich dann zurückkomme, dann tut sich etwas. Wenn ich das einmal erlebt habe, ist nicht das Wiederobensein der Auslöser, sondern das Wiederzurückkommen.

PiD: Und warum benötigen Sie dieses Gefühl des Ausgeliefertseins immer wieder?

R. Messner: Klar könnte jeder intelligente Mensch sagen, dann bleib doch gleich unten und dann hast du keine Probleme. Aber nur über den Umweg des Ausgeliefertseins, des Verlorenseins, erlebe ich die glückliche Rückkehr.

PiD: Welche Bedeutung hat eigentlich das Gefühl Angst in oder vor den extremen Situationen?

R. Messner: Im Vorfeld sind die Ängste am größten, denn die Angst im Schrecken ist sehr schnell vorbei. Wenn etwas passiert, dann ist das nur einen Augenblick lang ein Schrecken, dann ist eine Reaktion animalisch und dann ist das vorbei. Es ist gelöst oder man ist tot, Punkt. Oder man ist verletzt und dann gibt es eine andere Situation. Dann kommt große Ruhe, weil das sonst nicht überlebbar ist. Ein Mensch reagiert instinktiv immer richtig, solange er das richtige Alter hat. Wenn ich heute nicht mehr extreme Klettertouren mache, weil meine Geschicklichkeit nicht mehr reicht, um instinktiv oder animalisch richtig zu reagieren, und ich runterfallen würde, dann sagen mir das eben auch mein Unterbewusstsein und mein Instinkt: Es ist heute besser, es nicht mehr zu machen. Also vor den Extremsituationen sind die Ängste stark, vor allem in der vorhergehenden Untätigkeit. Die Ängste kommen nachts, so wenn ich die erste Schlafphase hinter mir habe und weiß, in einem Monat, zwei Wochen, drei Wochen geht es los, dann kommen Ängste hoch. Die können so schlimm sein, dass sie mich sogar zurückhalten können. Aber ich weiß ja, dass ich daheim in meinem Bett keine Angst haben muss. Vor was denn? Ich bin nicht ausgesetzt, ich kann nicht frieren, es kann gar nichts passieren. Und in dieser Zeit wird mir klar, dass die Angst im Grunde nicht die Angst ist vor den Lawinen oder vor der Kälte oder vor dem Umkommen, sondern die Angst vor der Angst.

PiD: Ist es eine Art von Erwartungsangst?

R. Messner: Ja, so kann man es nennen. Konkret habe ich dann Angst vor dem Sterben. Nicht vor dem Tod, sondern vor dem Sterben. Ich weiß natürlich, ich könnte sterben, weil ich mich da verirre oder weil ich abstürze oder weil die Lawine mich verschüttet. Und dann versuche ich das abzustellen, vor allem indem ich weiterhin trainiere; Untertags in der Aktivität, vor allem beim Training ist die Angst dann wieder weggesickert. Und wenn sie wiederkommt, versuche ich eben, mir klarzumachen, dass es jetzt keinen Grund gibt, Angst zu haben. Und wenn ich dann draußen bin, am Beginn vielleicht, wenn ich unter dieser Wand stehe und sehe, wie groß und wie schwierig das ist, kriege ich nochmals einen Angstschub. Aber das ist dann schnell vorbei. Und wenn ich aktiv bin, bin ich nie ängstlich gewesen. Außer es kommt plötzlich wirklich etwas Unerwartetes. Geht es gut, bin ich noch da, geht es daneben, bin ich gestorben. Das ist ja bisher noch nicht passiert. Die meisten Leute stellen sich vor, dass wir den Berg raufkrabbeln und ununterbrochen Angst haben, runterzufallen. Wenn ich das hätte, wäre ich ja wie die Maus vor der Schlange und wäre gelähmt. Ich könnte nichts mehr machen. Ich bin da oben relativ frei von Ängsten.

PiD: Würden Sie denn sagen, dass Sie die Grenzen der eigenen Angst immer wieder ausloten?

R. Messner: Nein, das tue ich nicht. Anfangen tut das ganz anders. Es ist die Herausforderung, die mich treibt, das andere ist nur eine unterbewusste Angelegenheit. Wir gehen hinauf, um zurückzukommen. Das ist heute meine Antwort. Eine der klassischen Antworten, warum Leute das tun, war zunächst die von Hillary, der am Everest umgekommen ist und 75 Jahre später als Eisleiche gefunden wurde. Auf die Frage „Warum Mount Everest?” hat er geantwortet: „Weil er da ist!” Logisch, klar und einfach. Lionel Tarray, ein französischer Arztsohn, sehr gescheit, in den 50er Jahren mit der beste Bergsteiger der Welt, hat damals gesagt, das Bergsteigen sei die Eroberung des Nutzlosen.

PiD: Und das Zurückkommen ins „Nest” stellt die Herausforderung dar, immer wieder in die - wie Sie sagen - menschenfeindliche Welt aufzubrechen?

R. Messner: Konkret funktioniert das sicherlich anders. Wenn ich an einem bestimmten Punkt etwas beim Können erreicht hatte, stellten sich Herausforderungen. Ich bin ein guter Kletterer, und da gibt’s immer einen ganz großen Berg, der eine Herausforderung ist. Es geht nicht darum, einen Rekord aufzustellen. Es ist eher die Frage, ob man das Problem lösen, ob man diese Herausforderung bestehen kann - so etwa ging es uns am Nanga Parbat. Und plötzlich verändert sich die Herausforderung, ich werde in eine ausweglos erscheinende Situation geschleudert und kann da nicht mehr raus, kann überhaupt nichts mehr machen, kann nicht mehr darauf reagieren. Ich würde nie freiwillig auf 8000 Meter bei 40 °C minus so ohne Schutz schlafen oder übernachten, denn schlafen kann man ja nicht. Ich würde nie über eine unbekannte Wand absteigen, wenn ich die nicht vorher genau studiert hätte, weil das unmöglich ist, runterzukommen. Ich würde mir auch nicht die Füße abfrieren, nur um zu schauen, wie das ist. Niemand würde das tun, geschweige denn den Partner oder den Bruder verlieren, nie. Meine schlimmste Erfahrung war nicht der Verlust des Bruders. Das war eine schlimme Erfahrung, aber die Trauer, die emotionale, das emotionale Zerrissensein kam erst danach, als ich wieder in Sicherheit war. Vorher habe ich mir Trauer gar nicht zugestanden.

PiD: Waren Sie eigentlich sicher, dass Ihr Bruder, der ja nie gefunden wurde, tot war; gab es für Sie damals beim Abstieg keinen Zweifel daran?

R. Messner: Der Zweifel ist lange geblieben. Aber rational wusste ich relativ schnell, dass mein Bruder tot war, und rational war mir auch klar, er muss unter der Lawine liegen. Aber emotional ist der Bruder lange lebendig geblieben. Das war ja der große Bruch zwischen „Der Bruder ist da” und „Der Bruder ist tot”. Das eine ist nur ein Gefühl und das andere ist eine Erkenntnis, ein Wissen. Aber zum Teil war dieses Gefühl, der Bruder ist hinter mir, so stark, dass ich daran gar nicht gezweifelt habe. Nur wenn ich dann wieder plötzlich nachgedacht habe, habe ich mich umgeschaut und da war gar niemand und da wurde mir wieder klar, ich bin irgendwie nicht ganz klar im Kopf. Mir war nicht so klar, dass ich eine Schizophrenie habe. Ich habe das Wort damals nicht gebraucht; das tue ich erst heute, wenn ich zurückschaue. Nach meinem heutigen Beobachten war es das Gefühl, das A sagte, und die Ratio, die B sagte, mir also entgegengesetzte Bilder lieferte. Und das dauerte nicht nur an bis nach der Expedition, es dauerte noch ein Jahr lang.

PiD: Ein Jahr später sind Sie wieder zum Nanga Parbat aufgebrochen . . .

R. Messner: Ja, ein Jahr später war ich wieder dort, um zu suchen. Und da war immer noch dieses Träumen beim Aufwachen, dieses Bild, dass mein Bruder noch da ist. Ist auch logisch: Am Ende krieche ich ja talwärts und bin ab und zu ohnmächtig, d. h. für mich war dieses Ohnmächtigwerden wie ein Wegdämmern und Wiederaufwachen. So ähnlich wie nach einer Narkose. Ich wachte so halb auf und wusste dann, irgendwo bin ich da in einem Tal und mein Bruder ist tot. Und, ja, mein Bruder war doch da noch irgendwo, dann ging oder kroch ich wieder ein Stückchen weiter, dann bin ich wieder so dahingedämmert. Für eine Strecke, für die ich heute eine Stunde brauche, habe ich damals einen ganzen Tag gebraucht. Und durch diese langen Strecken wurde mir klar, da komme ich nie hinunter. Und hinter jeder Biegung habe ich gehofft, da kommt ein Dorf oder kommen Leute.

PiD: Als Sie 1970 oben auf dem Nanga Parbat waren, haben Sie ja eigentlich nicht mehr gewusst, wie es weitergeht. Und dann haben Sie einen Weg gesucht, der, so haben wir es jedenfalls beim Lesen gespürt, eine ungeheure Energie notwendig machte. Wo haben Sie diese Energie eigentlich hergenommen? Wie kann ein Mensch so viel Energie mobilisieren? Wie geht das ganz konkret?

R. Messner: Das ist nur der Überlebenswille. Der Überlebenswille ist der stärkste Wille, den wir haben. Das ist ein Trieb. Der Überlebenstrieb ist der stärkste Trieb, der ist stärker als der Sexualtrieb. Ich sehe es so: Der Sexualtrieb garantiert das Überleben der Gattung, und das Überleben des Einzelnen garantiert mein Überlebenstrieb. Solange Energie da ist und solange Hoffnung da ist, geht es weiter. Schlimm wird es, wenn die Hoffnungslosigkeit überhand nimmt.

PiD: Wie überlebt man denn so eine Nacht, wie Sie sie geschildert haben: minus 40 bis 50 Grad, im Schnee, ohne Zelt und Schlafsack, unter sternenklarem Himmel?

R. Messner: Die Zeit vergeht, also wenn Sie in der Früh noch am Leben sind, dann sind Sie noch am Leben und sonst sind Sie tot.

PiD: Denkt man in so einer Situation?

R. Messner: Nein, das ist eine Starre, eine körperliche Starre. Natürlich versucht man, sich zu bewegen, aber das geht nicht lange. Es ist auch eine geistige Starre und eine Dumpfheit. Aber das kommt auch wegen der Sauerstoffsituation. Alles geht sehr langsam. So wie die Kraft in den Muskeln nicht mehr da ist, weil kein Sauerstoff zum Blutzucker kommt, ist auch im Kopf alles sehr langsam. Sie können förmlich beobachten, wie die Gedanken oder auch der Wille ganz, ganz langsam noch agieren.

PiD: Sind Sie in solchen Situationen auch ein kognitiver Mensch, das heißt, dass Sie immer wieder Mut machende Gedanken im Kopf haben?

R. Messner: Nein. Also in dieser Schlussphase des Abstiegs auf keinen Fall. Da habe ich mir nie gesagt, irgendwie geht das schon oder sonstwas Mut Machendes, wie ich es sagen würde beim Marathonlauf oder wenn ich zum Gipfel eines großen Berges steige oder bei der Antarktis-Durchquerung. Damals war es nur mehr ein Sich-fallen-lassen von einer Hoffnungslosigkeit zur nächsten. Ich war allerdings nicht depressiv. Zwischendurch gab es wieder ein paar Schritte oder ein bisschen Weiterkommen. Es ging auf und ab, und ich war am Ende.

PiD: Lassen Sie uns bitte noch mal zurückkommen zur Situation oben auf der Spitze des Nanga Parbat. Als Sie dort oben angekommen waren, haben Sie sich gefragt, was Sie eigentlich hier oben sollen, wo das Besondere hier sein soll. D.h. das Gefühl, das Sie im Hochsteigen hatten, dass Sie nämlich diesen Gipfel, dieses Ziel erreichen möchten, das war weg. Wie erklären Sie sich das?

R. Messner: Das ist für mich ganz logisch. Das erreichte Ziel ist kein Ziel mehr. Solange Sie sich dem Ziel nähern, erscheint dieses Ziel sehr erstrebenswert. Das Ziel erreicht zu haben, zerstört das Ziel. Das ist die Sisyphus-Theorie, die ich in meinen Büchern versteckt habe. Ich habe ein Buch geschrieben über meinen Alleingang auf den Everest[5]. Ein Kapitel heißt „Sisyphus im Everest”, wo ich bis zur letzten Konsequenz der Frage nachgehe, was soll das denn eigentlich? Viel genauer als im Nanga-Buch. Im Nanga-Buch ist es mir ganz gut gelungen, dieses Banale zu schildern: ¿Jetzt bin ich einfach oben, und der Bruder kommt noch nach, aber eigentlich. . . . Wir freuen uns höchstens, dass wir zu zweit da sind, weil es nicht vorgesehen war. Obwohl das ja der große Fehler war. Wir haben uns durch diese Tatsache in eine schlimme Situation manövriert. Aber da waren wir so sicher. . . .

PiD: Sie sprechen und schreiben über ganz viele Gefühle. Gibt es zwei oder drei Gefühle, die Sie auf Ihren Grenzgängen als herausragend ansehen? Gefühle, die in den extremen Situationen die größte Bedeutung haben.

R. Messner: Also bei dieser Expedition 1970 auf den Nanga Parbat war es vor allem das Zerrissensein. Ich hatte nicht nur am Berg selber, sondern vor allem nachher das Gefühl, meine Welt sei in zwei Teile gerissen. Und heute habe ich noch das Gefühl, ich habe zwei Leben; eines war vorher und eines nachher, nach dieser Tragödie. Der Wandel betrifft nicht nur einen bestimmten Punkt, sondern es ist eine längere Zeitspanne. Ich kann nicht sagen, das ist einfach nach dem Tod meines Bruders. Es fängt nach dem Abstieg an und dauert dann ein paar Monate lang. Und seither ist mein Leben in zwei Teile gerissen, erstes Leben und zweites Leben. Und deswegen sage ich auch ganz klar, ich habe eine Wiedergeburt erlebt. Natürlich ist das nicht wörtlich, sondern nur im weitesten Sinne des Wortes zu nehmen. Ich bin nicht gestorben. Ich habe auch nie das konkrete Sterbeerlebnis gehabt, etwa in eine andere Dimension zu schlüpfen, das hatte ich nicht.

PiD: Ein Gefühl war die Zerrissenheit. Welche Gefühle waren noch vorherrschend?

R. Messner: Das Verlorensein. Einsamkeit ist ein Wort, das ich normalerweise dafür gebrauche, aber es ist Verlorensein.

PiD: Was viel intensiver ist und schmerzhafter.

R. Messner: Ja. Und dieses Verlorensein würde ich wahrscheinlich heute nicht mehr so erleben können, weil ich schon zu alt dafür bin. Ich habe ja wirklich ein paar schöne Sachen gemacht, zum Beispiel habe ich zu Fuß ganz Osttibet durchquert, monatelang. Da hatte ich überhaupt kein Problem mit Einsamkeit. Mit 30 hätte ich das wiederum nie geschafft, da wäre ich verzweifelt an diesem völligen Alleinsein. Und ich habe 2004 eine viel längere Strecke vor, die ich allein zurücklegen möchte. Wo ich auch ab und zu wieder Menschen treffen werde, sonst kann ich gar nicht überleben. Aber das ist dann ein Verlorensein, das ich freiwillig in Kauf nehme. Und wenn nichts passiert, werde ich mich wahrscheinlich sehr wohl fühlen.

PiD: Wenn Sie jetzt keine neuen Pläne hätten, keine neuen Grenzwanderungen. Was für ein Gefühl würde dann aufkommen, wenn Sie jetzt wüssten, es steht im Moment in den nächsten Jahren nichts an?

R. Messner: Da würde ich nicht dran zerbrechen, im Gegenteil. Meine Hauptziele liegen jetzt in Europa. Es sind ein paar Bücher, die ich im Kopf habe, und da sind vor allem die Museen, dieses größte Projekt meines Lebens mache ich gerade. Ich habe damit in Südtirol einen riesigen Streit, aber das werden sie nicht aufhalten. Da investiere ich viel mehr Energie, viel mehr Zeit, viel mehr Mittel als in alles, was ich bisher gemacht habe. Und diese Projekte sind jetzt meine wichtigen Sachen. Es ist mir nicht so wichtig, ob ich nun auf einen Berg hinaufsteige oder in eine Wüste gehe oder etwas anderes umsetze. Aber ich muss etwas tun können. Ich wäre unglücklich, wenn ich sagen müsste, jetzt ist es vorbei. Dann wäre es vorbei.

PiD: Haben Sie Wünsche für Ihre Kinder?

R. Messner: Für meine Kinder wünsche ich mir, dass sie neben ihrer Broterwerbstätigkeit auch noch eine Leidenschaft finden, die sie begeistert, die ihnen Spaß macht, die ihre Gefühle berührt. Das kann Musik sein, Sport oder eben auch Bergsteigen. Demnächst plane ich eine Expedition zum Nanga Parbat mit meinen Kindern.

PiD: Was würden Sie Menschen empfehlen, die sich auch in Extremsituationen begeben, Grenzerfahrungen machen wollen?

R. Messner: Für Menschen, die für sich zukünftig das Erleben extremer Situationen und Grenzerfahrungen anstreben, denen empfehle ich, in ganz kleinen Schritten voranzugehen. Dazu gehören für mich aktive Tätigkeiten, nicht etwas Passives mit einem Kick, wie zum Beispiel Bungee-Jumping. In kleinen Schritten immer mehr Erfahrung sammeln, um auch die eigenen Möglichkeiten und die eigenen Grenzen auszuloten.

PiD: Herr Messner, wir danken Ihnen ganz herzlich für die spannende Zeit, die wir mit Ihnen verbringen konnten. Vier Stunden Zugfahrt, am Rhein entlang, mit so vielen höchst interessanten Berichten, das war schon ein Erlebnis für uns.

1 Das ausführliche Interview der vorliegenden gekürzten Version findet sich im Internet unter www.thieme.de/pid.

2 Reinhold Messner (2002): Der Nackte Berg. Bruder, Tod und Einsamkeit am Nanga Parbat. München: Malik Verlag

3 Name der Route, die Reinhold und Günter Messner 1970 bei ihrer Besteigung des Nanga Parbat gegangen sind.

4 Messner 2002. Gemeint ist die Expedition zum Nanga Parbat (1970), die Thema des in diesem Interview immer wieder erwähnten Buches von Reinhold Messner ist. Auf dieser Expedition verunglückte Günter Messner tödlich.

5 Titel: „Alleingang Everest”

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