Klin Monbl Augenheilkd 2013; 230(10): 1044-1045
DOI: 10.1055/s-0033-1350683
Offene Korrespondenz
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leserbrief

W. Haase
,
P. P. Kaupke
,
G. Petzold
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Publication Date:
21 October 2013 (online)

Leserbrief zu Bau V et al. Webbasierte Stimulationstherapie bei Kindern mit unbehandelter Amblyopie. Klin Monatsbl Augenheilkde 2012; 229: 979–986

Die Autoren stellen 15 Patienten mit bisher unbehandelter, neu entdeckter Amblyopie vor, die 2× tägl. je 20 min. mittels Bildschirmmustern/Computerspielen behandelt wurden. Okklusion des besseren Auges während dieser Zeit, insgesamt 1 Stunde/Tag, Behandlungszeit 4 Wochen, 5 Tage je Woche. Fallzahl n = 8 in der Stimulationsgruppe, diese Patienten wurden zusätzlich mit einem driftenden Streifenmuster von Sinuscharakteristik, im Hintergrund laufend, stimuliert. Die Patienten der Plazebogruppe, n = 7 erhielten nur Okklusion und Computerspiele ohne driftendes Sinusgitter.

Die Autoren gelangen angesichts der Ergebnisse zu dem Schluss, dass die Stimulation mit Sinusgittern keinen zusätzlichen Vorteil gegenüber der Okklusionstherapie ergibt und daher diese nicht ersetzen kann.

Diese Folgerung der Autoren ist formal richtig. Die Arbeit wirft allerdings Fragen auf, auf welche die Autoren dieser Zeilen eingehen.

  1. Bisher sind uns keine Arbeiten bekannt geworden, in denen der Ersatz der Okklusionsbehandlung durch Pleoptik, welcher Art auch immer, vorgeschlagen wird. Es wird demnach eine Frage beantwortet, die sich bisher nicht stellte. Auch die Anbieter pleoptischer Verfahren traditioneller Art ([1], [2]) oder von Computerspielen ([3]; Variante Caterna) haben dies bisher nicht vorgeschlagen.

  2. Die Gesamtzahl der Patienten, n = 15 ist so gering, dass man mit Clusterbildung rechnen muss. Dieser Einwand ist auch für die erste Originalpublikation von U. Kämpf zutreffend [3], die ebenfalls keine größeren Fallzahlen enthielt. So können zu gute oder auch zu ungünstige Ergebnisse vorgetäuscht werden. Für eine Pilotstudie wäre eine solch kleine Fallzahl akzeptabel. Die Kämpfsche Stimulationstherapie stellt letztlich nichts anderes als eine Variante der traditionellen Pleoptik dar. Das Ergebnis der jetzigen Dresdener Studie und die Folgerungen der Autoren könnten bekannte und bei richtiger Indikation erfolgreiche Therapiemethoden aus dem bisher anerkannten Repertoire entfernen. Aus statistischer Sicht kann man angesichts der akzeptierten Paarbildungsrechnung prinzipiell sicherlich wenig einwenden, aus medizinischer Sicht aber sehr wohl. Bei einer Erstuntersuchung von Kindern mit Amblyopie im Alter von 5–6 Jahren oder später ist eine vertrauenswürdige Anamnese kaum möglich. Wann entstand z. B. diese Anisometropie und Amblyopie? Falls nur relativ geringe Refraktionsanomalien gemessen werden, ist zu fragen, wie rasch oder wie langsam verlief die Emmetropisation während des ersten Lebensjahres (LJ) und auch danach? Hatte das Kind bereits im ersten LJ geschielt? – Bestand ein Mikrostrabismus? Dies sind nur 2 der häufigsten Einflussgrößen. Sofern diese ganz wesentlich den Schweregrad einer Amblyopie bestimmenden Einflüsse nicht bekannt sind, kann auch bei gleichem, niedrigen Ausgangsvisus sowohl eine noch gut als auch eine weniger erfolgreich behandelbare Amblyopie vorliegen. Man kann diese Schwierigkeiten aber umgehen durch eine hinreichend große Fallzahl.

  3. Die Okklusionsdauer von 1 Stunde pro Tag und dies an nur 5 Tage pro Woche ist bei diesen z. T. erheblichen Funktionsverlusten deutlich unterdosiert, (Visus bei 0,2 und weniger)! So würde kein Augenarzt therapieren. Die Minimalisierung der täglichen Okklusionsdosis führt zur Verlängerung der gesamten Behandlungszeit. In Europa wurde bereits mit Teilzeitokklusion, Farbgläsern etc. während der 60er- und 70er-Jahre experimentiert, schließlich besann man sich auf die bewährte, ebenfalls gut abgestuft dosierbare Vollokklusion des besseren Auges. Wer sich ausführlich informieren möchte, kann im Amblyopiekapitel des Lehrbuches „Strabismus“ von H. Kaufmann et al. [5] über Funktionsanstieg, Fixationswandel, Altersabhängigkeit und andere Aspekte nachlesen.

  4. Pleoptik – traditionelle Methodik oder Stimulation via Bildschirm: Eine Publikation im Am Orthoptic J 1969 [6] führte wegen des mangelnden Nachweises einer zusätzlichen Funktionsbesserung durch Pleoptik bei Okklusionsbehandlung zur generellen Ablehnung des Verfahrens in den USA. Das Berufsbild der Orthoptistin wurde damit praktisch ausgelöscht. In Europa wurde diese Beurteilung nicht übernommen – zum Nutzen zahlreicher Patienten, bei denen die alleinige Okklusion scheiterte oder die das Verfahren als Schulkinder strikt ablehnten. In Kombination mit pleoptischen Übungen wurden jedoch viele Kinder „okklusionsreif“. (Beispiele für eine erfolgreiche Therapie mittels zusätzlicher Pleoptik sind als Fallberichte im Lehrbuchbuch „Strabismus“ [7]). Erfolge beschränken sich nicht auf Einzelfälle. Ausführlichere Dokumentationen über Visusbesserungen und Fixationswandel zur physiologischen Fixation sind im Lehrbuch einschließlich der Literaturreferenzen angeführt. Diese Literatur ist überwiegend nicht in englischer Sprache erschienen – aber deshalb nicht ungültig,. Die Methode nach U. Kämpf ist Pleoptik via Bildschirm mit der eleganten Ergänzung durch dynamische Stimuli. Die Wirksamkeit von Pleoptik auf Fixation und Visus ist gut belegt und wird durch eine Arbeit über 15 Patienten nicht widerlegt. Die Debatte darüber, ob die durch die Fa. Caterna vertriebene Variante (Stimulationsmethode nach U. Kämpf) mit einem bewegten horizontalen Sinusstreifenmuster einen spezifischen Reiz darstellt oder nicht, geht u. E. an dem eigentlichen Anliegen vorbei. Zweifellos ist die dynamische Stimulierung, ob durch Betrachten eines Metronoms oder durch OKN-Reize ist wahrscheinlich gleichgültig, gerade bei exzentrischer Fixation wirksam (Otto und Stangler; Osterloh). In der Publikation von Bau et al. wird die Stimulation mit driftenden Sinusgittern als unwirksam bezeichnet. Für Ophthalmologen ohne spezielle strabologische Erfahrung kommt dies einer Ablehnung des Verfahrens gleich. Vorteile des Verfahrens über Bildschirm sind die Aufmerksamkeitsbindung mittels einfacher Computerspiele und die mögliche häusliche Applikation sowie die dynamische Stimulierung.

  5. Bemerkungen zur Arbeit generell: Ophthalmologen ist bekannt, dass seit Mitte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts die Vollokklusion (= ganztägige Abdeckung des besseren Auges) die akzeptierte Therapie von hoch- und mittelgradigen Refraktions- und auch von Schielamblyopien darstellt. Vorarbeiten reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück [8]. Die Pleoptik, entwickelt von Bangerter/St. Gallen und von Cüppers (zuletzt Gießen), entstand aus der Notwendigkeit heraus, dass mit zunehmendem Alter die Okklusionsbehandlung häufiger gescheitert oder a priori abgelehnt wurde. Über die tatsächliche Häufigkeit solcher Fehlschläge einer Altersstufe sind den Autoren dieser Zeilen verlässliche Zahlen nur aus wenigen Studien bekannt, z. B. aus einer Arbeit von Oliver et al., oder auch von Hillesheim (Dissertation Hamburg). Alle in der Praxis der Amblyopiebehandlung tätigen Augenärzte können die Tatsache häufigen Scheiterns einer Okklusionstherapie sicherlich bestätigen. Aus eigenen Daten wissen wir: Mit 11–12 Jahren scheiterte die Behandlung vollständig trotz Einsatz aller Mittel in 50 % der Fälle! Dies steht im Gegensatz zu einer prospektiven Studie in einer augenärztlichen Praxis (Urban-Pauer, Dissertation Hamburg 1997 [9]). Von den 7- bis 11-Jährigen verweigerten jedoch nach kurzem Versuch in dieser Studie 4 von 14 Kindern die weitere Okklusion (28,5 %). Von den jüngeren Kindern fielen nur 2 von 51 Fällen mit Okklusionsbehandlung aus (3,9 %). Die Pleoptik, in welcher Form auch immer, ist eine Behandlungsmethodik von strabologisch speziell (aus-)gebildeten Augenärzten und Orthoptistinnen. Das zeitaufwendige Verfahren ist verhältnismäßig selten indiziert. Sie hat sich bewährt bei spät entdeckten Amblyopien, bei gescheiterter oder verweigerter Okklusionstherapie. Aus dem Resultat der Dresdener Arbeit ergibt sich keinerlei Folgerung über Wert oder Unwert einer pleoptischen Therapie. Zum einen wegen der bescheidenen Fallzahl, zum anderen wegen der Kombination von Okklusion und Pleoptik a priori bei bisher unbehandelten Fällen.

Man kann diese Publikation nicht beurteilen ohne einige Bemerkungen zum Design: Selbst wenn im englischsprachigem Schrifttum über allerlei Teilzeitokklusion, Wirkung einer Okklusionszeit von einer Stunde/die etc. berichtet und debattiert wird, ändert dies alles nichts an dem umfangreichen Wissensschatz der während der 5er- bis weit in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts in Europa erarbeitet wurde. Danach ist eine Behandlung über nur 4 Wochen hinweg und dies bei einer Okklusionsdauer von nur etwa 1 Stunde pro Tag bei Amblyopien in aller Regel absolut insuffizient.

Ob man beide Patientengruppen im Sinne einer Matched-pairs-Statistik tatsächlich vergleichen kann, ist anzuzweifeln: Sie sind in sich inhomogen betreffend des Schweregrades. Sie sind auch unterschiedlich im Vergleich: Die Stimulationsgruppe enthält 5 Fälle schwerer Amblyopie, Visus 0,2 oder weniger, die Kontrollgruppe enthält nur 2 Fälle mit 0,2 Visus oder weniger. Weiterhin ist nicht erkennbar, welche Patienten exzentrisch und welche zentral fixierten. Ist die Fixation anscheinend von untergeordneter Bedeutung? Warum kam es zur Visusverschlechterung bei 2 Patienten der Stimulationsgruppe, aber in keinem Fall bei der Kontrollgruppe? Der häufigste Grund dürfte in einer mangelhaften Compliance bestehen.

Es ist leider zu befürchten, dass strabologisch unerfahrene Leser – auch innerhalb der ophthalmologischen Gemeinde – aus dem Ergebnis der Arbeit irrtümlicherweise eine Nutzlosigkeit pleoptischer Therapie ableiten. Dies würde für die Patienten, welche erst spät diagnostiziert werden oder bei denen mittels einfacher Okklusion keine wesentliche Besserung erreicht werden kann, das Ende aller weiteren therapeutischen Bemühungen bedeuten.


W. Haase, P. P. Kaupke, G. Petzold

 
  • Literatur

  • 1 Bangerter A. Amblyopiebehandlung. Basel, New York: S. Karger-Verlag; 1953
  • 2 Cüppers C. Grenzen und Möglichkeiten der pleoptischen Therapie – in „Schielen“. Bücherei des Augenarztes 1961; 38 (Beiheft) 1-68
  • 3 Kämpf U, Muchamedjarow F, Seiler T. Unterstützende Amblyopiebehandlung durch Computerspiele mit Hintergrundsstimulation: Eine 10-tägige plazebokontrollierte Pilotstudie. Klin Monatsbl Augenheilkd 2001; 218: 243
  • 4 Kämpf U, Shamshinova A, Katschtschenko T et al. Long-term application of computer-based pleoptics in home therapy: selected results of a prospective multicenter study. Strabismus 2008; 16: 149-158
  • 5 Gräf M, Haase W. Amblyopie. In: Kaufmann H, Steffen H, Hrsg. Strabismus. 4. Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2012
  • 6 Fletcher MC, Abbott L, Girard J et al. Biostatistical studies. Result of biostatistical study of the management of suppression amblyopia by intensive pleoptics versus conventional patching. Am Orthoptic J 1969; 19: 8
  • 7 Haase W. Amblyopie. In: Kaufmann H, Hrsg. Strabismus. 2. Auflage. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag; 1995
  • 8 Leclerc Comte de Buffon GL. . Sur la cause du strabisme ou des yeux louches. Mem Acad Roy Sci Paris 1743; 231 (zitiert nach: Duke-Elder S. System of Ophthalmology, Vol. VI). London: Henry Kingston; 1973: 294
  • 9 Urban-Pauer H. Amblyopietherapie und Verlaufskontrolle in der augenärztlichen Praxis. Prospektive Studie. [Dissertation]. Hamburg: Universität Hamburg, Med. Fakultät; 1997
  • Ausführliche Referenzen finden sich in den 4 Ausgaben des Lehrbuches „Strabismus“, 4. Auflage. 2012, Kapitel Amblyopie. Georg Thieme Verlag Stuttgart.