Dtsch Med Wochenschr 2012; 137(51/52): 2677-2682
DOI: 10.1055/s-0032-1327361
Weihnachtsheft
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kranke Natur? Historische Anmerkungen zu einem aktuellen Thema

Frail nature? Historical remarks on a current topic
D. Schäfer
1   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln
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Publication Date:
11 December 2012 (online)

Die Menschwerdung Christi, dieses große Thema von Weihnachten, ist nicht nur eine Angelegenheit religiöser Überzeugungen oder theologischer Debatten; sie berührt im weiteren Sinne auch naturphilosophische Grundlagen mit weitreichender Bedeutung für die Medizin, insbesondere die Frage, welche Eigenschaften der menschlichen Natur, die der Gottessohn annahm, generell zukommen: Ist sie als Teil göttlicher Schöpfung vollkommen und gut oder – beispielsweise als Produkt eines Sündenfalls oder aus evolutionären Gründen – schwach und krank? Während die Weihnachtsbotschaft in erster Linie die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und den Gegensatz zwischen Gott und Mensch, die sich dennoch im göttlichen Kind vereinigen, herausstellen, verweist das katholische Dogma von der unbefleckten Empfängnis indirekt auf eine vollkommene Natur von Christus und seiner Mutter.

Die Frage, ob (menschliche) Natur vollkommen, gesund und heilsam oder umgekehrt fehlerhaft, krank und krankmachend ist, beschäftigte nicht nur die Heilkunde zur Zeitenwende, sondern diese Diskussion reicht in wechselndem Gewand bis in die Gegenwart. Als primär philosophische, medizintheoretische [9] und terminologische Debatte gewinnt sie im 21. Jahrhundert zunehmend praktische Bedeutung für die Medizin und ihre Nachbarwissenschaften. Beispielsweise offenbaren sich bei der sukzessiven Analyse des dekodierten menschlichen Erbguts eine Fülle genetischer Varianten, die mehr oder weniger zu Krankheiten disponieren und einen fließenden Übergang zwischen „gesunden“ und „kranken“ Naturanlagen deutlich machen. Darüber hinaus spielt in der Enhancement-Debatte das Argument von der „Natur des Menschen“ eine bedeutende Rolle, insbesondere bei der kontrovers diskutierten Abgrenzung zwischen der Verbesserung „natürlicher“ Eigenschaften und einer Therapie pathologischer Phänomene, aus der ethische und ökonomische Konsequenzen bezüglich Zulässigkeit und Mittelverteilung abgeleitet werden [8]. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur sinnvoll, den Krankheitsbegriff selbst im historischen und aktuellen Kontext zu beleuchten, sondern auch seine vielfältigen Bezüge zum Naturbegriff, wobei die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität der einschlägigen Argumente von besonderem Interesse ist, um heutige Debatten klarer beurteilen zu können.

Wie sogleich deutlich werden wird, bilden historische Bezüge zwischen Natur und Krankheit einen weiten Forschungsbereich, der über die Medizingeschichte hinaus theologische, philosophische, juristische und wissenschaftstheoretische Disziplinen einschließen muss; es kann sich daher im Folgenden nur um eine grobe Skizze dessen handeln, was bisher über Einzelstudien [11] [22] [32] hinaus in systematischer Form noch kaum bekannt, geschweige denn untersucht wurde, im Unterschied zu Forschungen über das verwandte Thema von der „Heilkraft der Natur“ [7] [16] [23] [24] [33]. Nach einem ersten Überblick über die Definitionsvielfalt von „Natur“ und „Krankheit“ sollen daher in zwei aufeinander folgenden chronologischen Darstellungen einige Ideen und Konzepte von der „perfekten Natur“ (die Elemente von Schwäche und Krankheit ausschließt) und der „nicht-perfekten Natur“ (die diese unter Umständen einschließt) vorwiegend aus dem Bereich der antiken und frühneuzeitlichen Medizin vorgestellt werden. Weil jedoch nicht selten beide Vorstellungen bei denselben Autoren oder Texten angesprochen werden, muss diese – aus Gründen der Systematik vorgenommene – künstliche Unterscheidung in einem abschließenden Vergleich überbrückt werden; daraus lassen sich einige Hinweise auf einen grundlegenden historischen Wandel sowie dessen mögliche Ursachen gewinnen.

 
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