Psychiatr Prax 2011; 38(07): 355-361
DOI: 10.1055/s-0031-1291960
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Leistungserfassung im neuen Entgeltsystem für die klinische Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik: Komplexleistungen als Alternative

Felix M. Böcker Naumburg
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Publication Date:
07 October 2011 (online)

 

Ablösung der PsychPV durch ein neues Entgeltsystem:

Die Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV), die am 1.1.1991 in Kraft getreten ist, hat die Entwicklung der Klinikpsychiatrie in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten stark geprägt [ 1 ]. Die bessere Personalausstattung hat über Ent hospitalisierung und Verweildauerverkürzung zu einem deutlichen Bettenabbau geführt, und multiprofessionelle Teams ermöglichen eine aktivere Behandlung. Die in der Anlage zum Verordnungstext zusammengestellten Tätigkeitsmerkmale für sechs Berufsgruppen (Ärzte im Stationsdienst und Oberärzte, Diplom-Psychologen, Pflegepersonal und leitende Pflegekräfte, Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten – Ergotherapeuten, Bewegungstherapeuten, Krankengymnasten und Physiotherapeuten, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen) enthalten eine nahezu vollständige Zusammenstellung der Leistungen, die in Kliniken erbracht werden. Berücksichtigt sind neben unmittelbar patientenbezogenen Leistungen in der Grundversorgung, einzelfallbezogenen und gruppenbezogenen Behandlung auch mittelbar patientenbezogene Tätigkeiten. Sicher bedarf die Liste nach 20 Jahren einer aktualisierenden Erweiterung um einzelne neue Interventionsformen (z.B. Hilfeplan-Konferenzen), aber noch heute können die Tätigkeitsmerkmale unmittelbar und unverändert in Stellenbeschreibungen für einzelne Mitarbeiter übernommen werden.

Dennoch gilt die PsychPV als überholt und nicht mehr zeitgemäß. Von den Anwendern in den Kliniken wurde kritisch an gemerkt, dass die Leistungsverdichtung durch die Verweildauerverkürzung unberücksichtigt blieb, dass der gestiegene Dokumentationsaufwand nicht angemessen abgebildet werden kann [ 2 ] und dass weniger als 20% der Kliniken die vorgesehene Mindest-Personalausstattung erreichen [ 3 ]. Den Kostenträgern scheint hingegen das ganze Konzept normativer Vorgaben von Mindestzeiten zu missfallen, auf dem die Minutenwerte beruhen. Sie beklagen, dass undurchsichtig bleibe, welche Leistungen in den psychiatrischen Kliniken eigentlich erbracht werden. Vertreter von Krankenkassen verweisen stets auf die erfolgreiche Einführung diagnosebezogener Fallpauschalen in der somatischen Medizin und möchten schon lange die Psychiatrie in diesen Prozess einbeziehen.

Dass in der Erwachsenen-Psychiatrie drei Behandlungsbereiche (Allgemeinpsychiatrie, Suchtkrankenbehandlung, Gerontopsychiatrie) mit jeweils sechs aufwandshomogenen Gruppen (Regelbehandlung, Intensivbehandlung, rehabilitative Behandlung, Langzeitbehandlung, Psychotherapie, tagesklinische Behandlung) das Patientenspektrum nicht mehr angemessen abbilden können, zeigen die in Winnenden zusammengeführten Ergebnisse der Stichtagserhebungen von mehr als 200 Kliniken mit mehr als 40000 Patienten [ 4 ]:

Allgemeinpsychiatrische Patienten, bei denen die rehabilitative Behandlung im Vordergrund steht (A3), sind aus dem Krankenhaus fast völlig verschwunden; Langzeitpatienten (A4) haben stark abgenommen, und immer mehr Patienten werden teilstationär (A6) behandelt (Abb. [ 1 ]). Bei den Suchtkranken hat die Intensivbehandlung (S2) zugenommen; Rehabilitation (S3) und stationäre Psychotherapie (S5) sind bedeutungslos geworden und die Langzeitpatienten (S4) haben abgenommen (Abb. [ 2 ]). Gerontopsychiatrische Pflegefälle (G4) sind aus den Kliniken weitgehend verschwunden (Abb. [ 3 ]). Daraus ergibt sich, dass in der Erwachsenenpsychiatrie neun von achtzehn Gruppen quantitativ keine Rolle mehr spielen; hier kann das System weiterentwickelt oder vereinfacht werden (Tab. [ 1 ]).

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Abb. 1 Jahresmittelwerte der PsychPV-Stichtagserhebungen: BRD Allgemeinpsychiatrie.
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Abb. 2 Jahresmittelwerte der PsychPV-Stichtagserhebungen: BRD Suchtkranke.
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Abb. 3 Jahresmittelwerte der PsychPV-Stichtagserhebungen: BRD Gerontopsychiatrie.
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Tab. 1 Schwach besetzte Kategorien der PsychPV.

Trotz ihres "normativen Ansatzes" hat die PsychPV keineswegs zu einer gerechten Verteilung von Ressourcen in den psychiatrischen Kliniken in Deutschland geführt. Schon vor mehr als zehn Jahren hat eine Arbeitsgruppe des Arbeitskreises der Chefärztinnen und Chefärzte der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland ACKPA-Daten von 30 psychiatrischen Abteilungen miteinander ausgetauscht [ 5 ]. Unter der Annahme, dass alle Abteilungen die gleiche Aufgabe erfüllen (nämlich regionale Pflichtversorgung), wurde erwartet, dass auch alle Abteilungen einigermaßen vergleichbar ausgestattet sind. Das war aber nicht der Fall. Der Vergleich ergab erhebliche Unterschiede bezüglich der verfügbaren Betten und der finanziellen Mittel; und es ergaben sich erhebliche Unterschiede in der Ausstattung mit Ärzten und Psychologen, Pflegekräften und nichtärztlichen therapeutischen Mitarbeitern, und zwar auch dann, wenn die Personalausstattung auf zehn Betten, auf 1000 Fälle oder auf 100000 Einwohner bezogen wurde (Abb. [ 4 ]).

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Abb. 4 Personalausstattung im Vergleich von 32 Abteilungen (jeweils Minimum – Median – Maximum).

Wie die klinischen Anwender sich eine Weiterentwicklung hin zu einem neuen Entgeltsystem vorstellen, haben sie 2008 im sog. 13-Verbände-Papier [ 6 ] zum Ausdruck gebracht. Auf den ersten Blick hat der Gesetzgeber diesen Wünschen und den kritischen Stimmen aus den verschiedenen "Lagern" Rechnung getragen, als am 17.3.2009 der §17d in das Krankenhausgesetz eingefügt wurde. Demnach soll für die Psychiatrie und die Psychosomatik ein durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystem eingeführt werden. Der Zeitplan ist extrem ehrgeizig: Bis zum Ende des Jahres 2009 mussten die Selbstverwaltungspartner die Grundstrukturen des neuen Systems vertraglich vereinbaren. Seit Anfang 2010 müssen in den Kliniken die erbrachten Leistungen erfasst werden; seit dem 1.7.2010 werden die Rechnungen der Krankenhäuser um 5% gekürzt, wenn das nicht geschieht. Auf der Basis der Daten des Jahres 2011 sollen bis zum Herbst 2012 die neuen Entgelte kalkuliert werden und ab 2013 budgetneutral umgesetzt werden.

Ergänzendes Material

 
  • Literatur

  • 1 Kunze H, Kaltenbach L, Kupfer K Hrsg. Psychiatrie-Personalverordnung, Textausgabe mit Materialien und Erläuterungen für die Praxis. 6.. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer; 2010
  • 2 Putzhammer A et al. Tätigkeitsanalyse in psychiatrischen Versorgungskliniken: Der Arbeitsalltag von Ärzten im Stationsdienst. Nervenarzt 2006; 77: 372-384
  • 3 Aktion psychisch Kranke Hrsg. Evaluation der Psychiatrie-Personalverordnung. Abschlussbericht der PsychPV-Umfrage 2005 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2007
  • 4 Zfp Klinikum Schloss Winnenden Hrsg. Bundesweiter Vergleich der Patientenstrukturen gemäß der Psychiatrie-Personalverordnung: 19. Aufgabe Zeitreihe mit Jahreswerten 1991 bis 2010. Winnenden: 2011
  • 5 Böcker FM, Brors W. Datenaustausch zwischen psychiatrischen Abteilungen. Vortrag zum Symposium "Krankenhausvergleiche" (Cording, Stieglitz), Kongress 2000 der DGPPN, Aachen, 20.–23.09.2000 Nervenarzt 2000; 71 (Suppl. 01) 16
  • 6 Beine KH et al. Konzept für ein zukünftiges Entgeltsystem der Krankenhausbehandlung in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik für alle Altersgruppen ("13-Verbände-Papier"). In: Kunze H, Kaltenbach L, Kupfer K, Hrsg. Psychiatrie-Personalverordnung, Textausgabe mit Materialien und Erläuterungen für die Praxis. 6.. Auflage Stuttgart: Kohlhammer; 2010: 83-88
  • 7 Klimke A, Malevani J. PsychOPS-Klassifikationen 2011: Ein kritischer Kommentar mit Hinweisen zur Strukturierung und Erfassung von Therapieangeboten. Offenbach am Main: Verlag Stiftung Lebensräume; 2011