Balint Journal 2011; 12(1): 25-28
DOI: 10.1055/s-0030-1262520
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Pathisch Urteilen

Pathic JudgementH. Wiedebach
  • 1Hermann Cohen-Archiv, Philosophisches Seminar der Univ. Zürich,
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Publication Date:
23 March 2011 (online)

Zusammenfassung

Ausgangspunkt ist die Medizinische Anthropologie Viktor von Weizsäckers (1886–1957), genauer: seine Lehre vom „Pathischen“. Es geht um eine Haltung zum Leben. Das Leben ist etwas, dessen „Existenz weniger gesetzt als vielmehr erlitten wird“. Eine solche Haltung prägt unser Urteil über andere Menschen wie über uns selbst. Wer sich hier einrichtet, wandelt zwischen Wissen und Nicht-Wissen, klaren Umrissen und bloßen Nuancen, Machen und Geschehenlassen. In dieser Vagheit zielsicher bleiben heißt „pathisch Urteilen“. Wo es gelingt, keimt Friede. Das Loslassen der Hand eines Sterbenden ist eine Probe darauf. Im alltäglichen Umgang mit Patienten und Hilfesuchenden dagegen helfen fünf „pathische Kategorien“, dem Urteil eine Wegleitung zu geben. 

Abstract

The point of departure is Viktor von Weizsäcker’s (1886–1957) medical anthropology, more precisely his doctrine of the “pathic”. It centers on an attitude to life. Life is something whose “existence is more suffered through than fixed and set”. Such an attitude shapes our judgement about others and ourselves. Whoever sets himself up that way, walks a pathway between knowing and unknowing, clear contours and mere nuances, doing and letting it happen. To remain certain of one’s aims in the midst of this vagueness is called “judging things pathically”. Where it is successful, peace begins to sprout. Letting go of the hand of a person dying is a rehearsal for this. By contrast, in the daily round with patients and those seeking help, five “pathic categories” provide assistance in giving guidance to judgement.

Literatur

  • 1 Vgl. Viktor von Weizsäcker: Gesammelte Schriften, hg. von Peter Achilles, Dieter Janz, Martin Schrenk, Carl Friedrich von Weizsäcker. 10 Bände, Frankfurt a. M., Suhrkamp 1986-2005 [im Folgenden GS], Der Gestaltkreis: Bd. IV, S. 77–337; Pathosophie: Bd. X.
  • 2 Pathosophie, GS X 13.
  • 3 Viktor von Weizsäcker: „Anonyma“, GS VII 41–89, hier: 48.
  • 4 Weizsäcker: „Kranker und Arzt“, GS V 243, zit. von Peter Achilles: „Ethos und Pathos“, in: Gegenseitigkeit. Grundfragen medizinischer Ethik, hg. von Klaus Gahl, Peter Achilles, Rainer-M. E. Jacobi. Würzburg: Königshausen + Neumann 2008 (Beiträge zur Medizinischen Anthropologie 5), S. 129–195, hier: 164.
  • 5 Vgl. Weizsäcker: Pathosophie, GS X 165–191, bes. 184–189.
  • 6 Pathosophie, GS X, zit. 185 und 186.
  • 7 Vgl. Platon: Apologie 31d, u. ö.
  • 8 Eine Abhandlung hierzu u. d. T. „Pathische Urteilskraft“ ist in Vorbereitung.
  • 9 Viktor von Weizsäcker: „Kranker und Arzt“ (o. Anm. 4), ebd.; auch Achilles, ebd.
  • 10 Weizsäcker: „Anonyma“, GS VII 48; vgl. auch Pathosophie, GS X 70–97.
  • 11 Weizsäcker: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde [Vorlesungen, gehalten 1919/20], GS II 263-349, hier: 309; vgl. ebd. (S. 309 f.) auch die folgenden Zitate.
  • 12 Weizsäcker: Soziale Krankheit und soziale Gesundung (1930), GS VIII 31–95, hier: 94, mehrfach zit. in: Salutogenese. Ein neues Konzept in der Psychosomatik?, hg. von Friedhelm Lamprecht und Rolf Johnen (zum Beispiel bei Thure von Uexküll: „Zur Diskussion des Salutogenese-Konzepts von Antonovsky“, S. 32).
  • 13 Weizsäcker: Am Anfang, S. 309 f.
  • 14 Hilfreiche Hinweise verdanke ich Dieter Janz und Wilhelm Rimpau, Berlin.

H. Wiedebach

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