Psychiatr Prax 2009; 36(1): 4-6
DOI: 10.1055/s-2008-1067423
Debatte: Pro & Kontra

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das Konzept der Chronizität psychischer Erkrankungen ist aufzugeben

The Concept of Chronicity of Psychiatric Disorders Should be Given upPro: Michaela  Amering Kontra: Ronald  Bottlender
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Publication Date:
14 January 2009 (online)

Pro

Chronisch ist retrospektiv lang dauernd und prospektiv unveränderbar

Nils Greve zitiert Bruno Hildenbrand [1] und erfasst damit einen Gutteil dessen, was die Sorgen darum ausmacht, ob das Modell der chronischen Erkrankung geeignet ist, Hilfe- und Selbsthilfeanstrengungen optimal zu nutzen.

Leider wird Chronizität häufig so interpretiert, als würde es bedeuten auf ewig schicksalhaft einer Erkrankung und ihren unausweichlichen Folgen ausgeliefert zu sein. Ein Kreislauf aus Hoffnungs- und Tatenlosigkeit kann zu Schwächungen führen und Verschlechterungen im Gesundheitszustand nach sich ziehen bzw. zum Erhalt von Symptomen und Behinderungen beitragen. Der aus einer solchen Interpretation resultierende Mangel an Zuversicht in therapeutische Angebote kann rechtzeitige und nachhaltige Hilfesuche untergraben und die Idee der Gesundheit sowohl als Ziel als auch als Ressource in den Hintergrund drängen. Solche gesundheitsstörenden Missverständnisse entfalten ihre ungünstigen Wirkungen unabhängig davon, dass aus klinischer Sicht Chronizität einer Störung oder einer Vulnerabilität per se keineswegs im Widerspruch zu einem hohen Maß an Gesundheit und zu Chancen auf Genesung steht.

Wie ein „Code der Chronizität” das Leben in einer psychiatrischen Einrichtung prägen und Anstrengungen in Richtung Besserung untergraben kann, beschrieben 1966 Ludwig und Farrelly [2] für eine Institution, in der PatientInnen genauso wie professionelle HelferInnen einem solchen Code unterliegen: Der therapeutische Eifer erlahmt. Vorherrschend ist der Wunsch nach Ordnung und das Abwehren von Veränderungen. Oberflächliche Compliance führt zu einem reduzierten Leben in einem geschützten Rahmen mit einem Minimum an Beanspruchung, Verantwortung und Risiko und einem Maximum an Ruhe und Vorhersehbarkeit.

Das Erkennen der negativen Folgen eines solchen Institutionalismus trug dazu bei, dass es heute zumindest in der westlichen Welt keine derartigen Großinstitutionen mehr gibt. Ob und in welchem Ausmaß Phänomene des Institutionalismus mit der Psychiatriereform in die gemeindenahe Psychiatrie mitgegangen sind, ist eine wichtige Frage. Vieles deutet darauf hin, dass auch in ambulanten Einrichtungen oder kleinen Institutionen ähnliche Phänomene auftreten können.

Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen (Karl Valentin; Nils Bohr)

Der Verlauf der meisten psychischen Störungen ist variabel. Remissionen sind möglich, genauso wie Rückfalle und Langzeitbehinderungen. Die wissenschaftliche Forschung kämpft mit Fragen der Definition von Verläufen und methodischen Problemen in Langzeitstudien. Die klinische Nützlichkeit von prognostischen Indikatoren für individuelle PatientInnen ist begrenzt. Aus Angst vor enttäuschten Hoffnungen die Prognose eher negativ zu halten, ist keine seriöse Lösung dieser Probleme.

Argumente für die kürzlich prominent vorgeschlagenen Remissionskriterien für Schizophrenie beinhalten nicht nur Daten, die der Annahme eines notwendigerweise chronischen Verlaufs widersprechen, sondern berufen sich auch auf gute Erfahrungen mit der Einführung von Remissionskriterien für affektive und Angststörungen und stellen eine Erhöhung der Erwartungen sowie eine Intensivierung der therapeutischen Anstrengungen in Aussicht [3]. Das ist sicherlich notwendig, wenn man bedenkt, dass nur ein kleiner Teil aller PatientInnen tatsächlich Zugang zu allen Interventionen haben, von denen wissenschaftlich erwiesen ist, dass sie wirksam sind, und viele darunter leiden, dass sie zu wenig Unterstützung für individuelle Behandlungsentscheidungen erhalten, sodass ein nicht geringer Teil ihrer Anstrengungen zur Überwindung der Störung und in Richtung Gesundheit außerhalb der therapeutischen Beziehung stattfindet.

Aus der Recovery-Forschung wissen wir auch, dass Hoffnung eine wesentliche Voraussetzung für Veränderungen in Richtung Gesundheit ist [4]. In Zeiten, in denen unser Wissen um Resilienzentwicklungen auch im Erwachsenenleben stark zunimmt und in denen die Erkenntnisse der Gesundheitsförderung sowie die Expertise für primäre, aber vor allem sekundäre und tertiäre Prävention immer wichtiger werden, sollte demoralisierender Pessimismus von rationalem Optimismus [5] abgelöst werden: Integrative multidimensionale Konzepte psychiatrischer Behandlung sollten ihre Basis finden in einer positiven Haltung und in einer Reduktion der vorherrschenden Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Gesundung [6].

Eine Diagnose einer psychiatrischen Erkrankung hindert einen nicht daran, Resilienz zu entwickeln. Wenn man sich jedoch zu vollständig mit der Krankheit und deren implizierten Beschränkungen identifiziert, kann dies einen davon abhalten, den negativen Erfahrungen und Gefühlen sinnvolle eigene Reaktionen und Antworten entgegenzusetzen [7]

Die Erfahrungen von Menschen, die selbst „in Recovery” leben, haben für die Identifizierung von Genesungspotenzial und Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Eigeninitiative auch in Menschen, die sich in als aussichtslos erscheinenden Situationen befinden, große Bedeutung [8]. Sie können dem „bias” der KlinikerInnen, die in ihrer Einschätzung auf klinische Erfahrungen mit Risiken, Krisen und Krankheit begrenzt sind, ihre Erfahrungen mit erfolgreichen Aufbrüchen aus solchen Situationen entgegensetzen ohne die Mühen einer über lange Zeit bestehenden Leidenssituation zu unterschätzen. Ihr Blick für zu stärkende Tendenzen zur Gesundheit auch in Phasen der Demoralisierung kann als peer support für Betroffene aber auch als Input in Betreuungsteams die Dynamik von Enttäuschung und Resignation verändern. Recovery-orientierte Einrichtungen arbeiten daher mit Betroffenen mit Recovery-Erfahrung zusammen, eine Entwicklung, die von vielen professionellen HelferInnen optimistisch eingeschätzt wird und im Kampf gegen Stigma und Diskriminierung eine entscheidende Rolle spielen könnte [9].

Die Begriffe „Schizophrenie” und „chronische Erkrankung” sind vom Mythos der Unheilbarkeit umgeben – unabhängig davon, was ihre medizinische Bedeutung ist. „Schizophrenie” wird es möglicherweise als diagnostischen Begriff bald nicht mehr geben. In Großbritannien gibt es derzeit eine kritische Diskussion um das medizinische Modell der „chronischen Erkrankung”, das neben Diabetes und Herzerkrankungen auch Depression und Angststörungen zusammenfasst und das durch ein „kollaboratives Recovery-Modell” für psychische Störungen ersetzt werden könnte [10].

Selbstbestimmung und Wahlfreiheit im Hinblick auf Behandlungsangebote, Orientierung an individuellen Lebenszielen und Ressourcen ebenso wie Hoffnung, Gesundheits- und Resilienzförderung sind wesentliche Kriterien recovery-orientierter Praxis. Das Recovery-Modell und seine Expertise für den persönlichen und gesellschaftlichen Kontext von Störung, Behinderung und Genesung könnte besser geeignet sein als das Modell der „chronischen Krankheit”, um die Anstrengungen von PatientInnen, ihren Familien und Freunden sowie der unterschiedlichen Gruppen professioneller HelferInnen optimal zu bündeln.

Literatur

  • 1 Greve N. Was lange währt … wird nicht immer gut: Risiken der chronischen Betreuung.  Soziale Psychiatrie. 2007;  118 15-17
  • 2 Ludwig A M, Farrelly F. The code of chronicity.  Arch Gen Psychiatry. 1966;  15 562-568
  • 3 Andreasen N C, Carpenter W T, Kane J M, Lasser R A, Marder S R, Weinberger D R. Remission in schizophrenia: proposed criteria and rationale for consensus.  American Journal of Psychiatry. 2005;  162 441-449
  • 4 Amering M, Schmolke M. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Bonn; Psychiatrie-Verlag 2007
  • 5 Knuf A. Vom demoralisierenden Pessimismus zum vernünftigen Optimismus. Eine Annäherung an das Recovery-Konzept.  Soziale Psychiatrie. 2004;  1 38-41
  • 6 WPA .http://www.wpanet.org 2005
  • 7 Glover H. http://www.mentalhealth.org.uk 2003
  • 8 Amering M. Recovery – warum nicht?.  Psychiat Prax . 2008;  35 (2) 55-56
  • 9 Sibitz I, Swoboda H, Schrank B, Priebe S, Amering M. Einbeziehung von Betroffenen in Therapie- und Versorgungsentscheidungen: professionelle HelferInnen zeigen sich optimistisch.  Psychiat Prax. 2008;  35 128-134
  • 10 Lester H, Gask L. Delivering medical care for patients with serious mental illness or promoting a collaborative model of recovery?.  British Journal of Psychiatry. 2006;  188 401-402
  • 11 Liberman R P, Kopelowicz A, Ventura J, Gutkind D. Operational criteria and factors related to recovery from schizophrenia.  International Review of Psychiatry. 2002;  14 256-272
  • 12 Hegarty J D, Baldessarini R J, Tohen M, Waternaux C, Oepen G. One hundred years of schizophrenia: a meta-analysis of the outcome literature.  Am J Psychiatry. 1994;  151 (10) 1409-1416
  • 13 Warner R. Recovery from Schizophrenia: Psychiatry and Political Economy (3rd edn). London; Brunner-Routledge 2003
  • 14 Menezes N M, Arenovich T, Zipursky R B. A systematic review of longitudinal outcome studies of first-episode psychosis.  Psychol Med. 2006;  36 (10) 1349-1362
  • 15 Robinson D G, Woerner M G, McMeniman M, Mendelowitz A, Bilder R M. Symptomatic and functional recovery from a first episode of schizophrenia or schizoaffective disorder.  Am J Psychiatry. 2004;  161 (3) 473-479
  • 16 Melchinger H, Rössler W, Machleidt W. Ausgaben in der psychiatrischen Versorgung: Ist die Verteilung der Ressourcen am Bedarf orientiert?.  Nervenarzt. 2006;  77 (1) 73-80

Univ.-Prof. Dr. Michaela Amering

Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Abteilung für Sozialpsychiatrie

Währinger Gürtel 18 – 20

1090 Wien, Österreich

Email: michaela.amering@meduniwien.ac.at

PD Dr. med. habil. Ronald Bottlender

East London NHS Foundation Trust, Newham Centre for Mental Health, Glen Road, London E13 8SP

Email: Ronald.Bottlender@eastlondon.nhs.uk

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