Zusammenfassung
Der Beitrag beschreibt Kontext, Methode und ausgewählte Ergebnisse einer wissenschaftlicher Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in pädagogischen Institutionen am Beispiel der Odenwaldschule. Sozialwissenschaftliche Studien erweisen sich als hilfreiche Vehikel zur Bündelung und Intensivierung von Aufdeckungsprozessen, die von Betroffenen angestoßen und gesellschaftlich befördert werden. Die Benennung der Taten und Täter sowie die Übernahme einer Sprachrohrfunktion für Betroffene stehen dabei im Vordergrund. Dabei fällt auf, dass im Verlauf von Aufdeckungsprozessen individuelle und kollektive Erinnerungen miteinander interagieren und ungelöste Konflikte aus der Vergangenheit reproduziert werden.
Abstract
Context, methods and selected results of scientific processing of sexual violence in educational institutions are described based on the example of the Odenwaldschule. Social science studies seem to be helpful vehicles in condensing and intensifying disclosure processes, which were brought on by victims and transported by society. Naming the offences and perpetrators and being a mouthpiece for victims are central aspects of such studies. The interaction of individual and collective memories and the reproduction of unsolved conflicts arising from the past during the disclosure process stand out.
Notes
Glasbrechen e. V. setzt sich für die Belange der von sexualisierter Gewalt betroffenen Odenwaldschüler ein und forderte u. a. die wissenschaftliche Aufarbeitung der Gewaltvorkommisse an der Odenwaldschule.
Weitere Ausführungen hierzu finden sich bei Mosser et al. (2018).
Zu den Experten zählen wir Vertreter von Glasbrechen e. V., Mitglieder des Trägervereins, eine Mitarbeiterin eines Jugendamtes, eine Juristin, eine Journalistin sowie 3 Pädagogen.
Beispielweise: Niemann (2010); Dehmers (2011); Jens (2011); Füller (2011); Miller und Oelkers (2014); Oelkers (2016). Eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erhielten die Dokumentarfilme Und wir sind nicht die Einzigen (Röhl 2011) und Geschlossene Gesellschaft (Schmid und Schilling 2011) und der Fernsehfilm Die Auserwählten (Röhl 2014).
Introjektion (Übernahme von Normen, Werten, Anschauungen, Verhaltensweisen von anderen Personen ins eigene Ich im Rahmen der Sozialisation) ist ein normaler psychologischer Vorgang und nicht grundsätzlich pathologisch. Die Bildung eines Täterintrojekts dient dem Überleben einer (langfristigen) traumatisierenden Situation, in der flüchten, kämpfen und/oder dissoziieren (unterdrücken des äußeren und innerer Reizstroms) nicht möglich sind/ist. Das Täterintrojekt wird später oftmals als Fremdkörper im Selbst erlebt. Eigene Verhaltensweisen, unter denen man leidet und die man später oftmals bedauert, werden dabei als fremd empfunden. Es entsteht dabei eine Art „innerer Feind“, der zu Selbstabwertung, Selbstverachtung und Selbstbestrafung (auch in Form von selbstverletzenden Verhalten) auffordert.
Literatur
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G. Hackenschmied, P. Mosser und H. Keupp geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Hackenschmied, G., Mosser, P. & Keupp, H. Individuelle und kollektive Aufarbeitung sexualisierter Gewalt am Beispiel der Odenwaldschule – ein Werkstattbericht. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 13, 151–157 (2019). https://doi.org/10.1007/s11757-018-0508-x
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Schlüsselwörter
- Aufarbeitung
- Odenwaldschule
- Aufdeckung sexualisierter Gewalt
- Gewalt in pädagogischen Institutionen
- Individuelle und kollektive Erinnerungen