Hintergrund

Aktuell rückt die Versorgung älterer Patienten auf der Intensivstation zunehmend in das wissenschaftliche und öffentliche Interesse. Hierzu tragen die demographische Entwicklung, personalisierte Medizin, die medizinische und technische Weiterentwicklung der Intensivmedizin und die aktuelle Pandemie durch die Coronaviruserkrankung 2019 (COVID-19) bei. Patienten im Alter von 80 und mehr Jahren werden immer häufiger auf Intensivstationen behandelt. Ihr Anteil an den insgesamt behandelten Patienten beträgt ja nach entsprechendem intensivmedizinischem Fachgebiet bis zu 30 % [1, 2].

Das Alter ist allein kein prognostisches Kriterium für das Outcome

Dabei ist das Alter allein kein prognostisches Kriterium für das Outcome einer intensivmedizinischen Versorgung. Dies spiegelt sich auch im aktuellen Konsensuspapier zur geriatrischen Intensivmedizin der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und weiterer Fachgesellschaften wider [1]. Auch in der aktuellen klinisch-ethischen Empfehlung der DIVI für die Entscheidung über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie wird ausdrücklich aufgeführt, dass eine Priorisierung aufgrund des kalendarischen Alters wegen des Gleichheitsgebots nicht zulässig ist [3].

Viel wichtiger für die intensivmedizinische Prognose ist der funktionelle Status des Patienten vor der aktuellen Hospitalisation, der von potenziell vorhandenen geriatrischen Syndromen mitbestimmt wird. In der Gesamtbevölkerung geht ein hohes kalendarisches Alter rein statistisch mit einem reduzierten funktionellen Status einher. Beim einzelnen Patienten bedingt ein hohes Alter nicht zwingend einen reduzierten funktionellen Status.

Der Zusammenhang zwischen funktionellem Status, geriatrischen Syndromen und der Prognose bei einer kritischen Erkrankung wird in Abb. 1 verdeutlicht.

Abb. 1
figure 1

Zusammenhang zwischen funktionellem Status, geriatrischen Syndromen und Prognose bei kritisch kranken geriatrischen Patienten

Geriatrische Syndrome mit besonderer intensivmedizinischer Relevanz

Bei geriatrischen Syndromen handelt es sich um klinische Zustände bei Patienten in hohem Lebensalter, die sich nicht zwingend in die klassischen Krankheitskategorien einordnen lassen [4]. Da es sich bei den geriatrischen Syndromen um wichtige Prädiktoren für das Outcome handelt, sind sie von großer intensivmedizinischer Relevanz. Trotzdem werden diese im intensivmedizinischen Alltag oft immer noch nicht ausreichend adressiert, da sie meist mit einer viel geringeren Priorität als zeitkritische Erkrankungen (z. B. gastrointestinale Blutungen), die sofortiges intensivmedizinisches Handeln notwendig machen, wahrgenommen werden.

Frailty und Delir sind Syndrome von höchster intensivmedizinischer Relevanz

Gemäß dem wissenschaftlichen Statement der American Heart Association (AHA) zu älteren Patienten auf der Intensivstation aus dem Jahr 2020 sind die geriatrischen Syndrome mit höchster intensivmedizinischer Relevanz altersbedingte Gebrechlichkeit (Frailty) und Delir [5]. Eine Übersicht über diese geriatrischen Syndrome einschließlich Definition und Prävalenz gibt Tab. 1.

Tab. 1 Übersicht über geriatrische Syndrome mit besonderer Relevanz für die Intensivmedizin

Weiterhin sind in Übereinstimmung zwischen dem Konsensuspapier zur geriatrischen Intensivmedizin der DGIIN, der DIVI und der DGG und dem wissenschaftlichen Statement zu älteren Patienten auf der Intensivstation der AHA bei der Versorgung des geriatrischen Patienten auf der Intensivstation altersphysiologische Organveränderungen, Multimorbidität und die damit assoziierte Polypharmazie sowie die Ernährung von besonderer Bedeutung [1, 5]. Auf die genannten besonders wichtigen Punkte soll im Folgenden eingegangen werden.

Altersbedingte Gebrechlichkeit

Bis zu 50 % der Patienten im Alter von 80 Jahren und mehr gelten als gebrechlich. Gebrechlichkeit ist als ein klinischer Zustand definiert, der die Anfälligkeit von älteren Menschen für Stressoren erhöht [9]. Insgesamt steigt mit zunehmendem Alter die Gebrechlichkeit, ein hohes Alter allein ist aber nicht ausschlaggebend für eine Zunahme der Gebrechlichkeit. Vielmehr spielen dabei viele verschiedene Faktoren wie genetische Prädisposition, aber auch Umwelteinflüsse eine wichtige Rolle [7]. Insgesamt ist die chronologische Entwicklung von Gebrechlichkeit individuell sehr divers. Bei einer intensivmedizinischen Behandlung haben gebrechliche Patienten ein deutlich erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko [10]. Ferner kommt es bei gebrechlichen Patienten nach einer intensivmedizinischen Behandlung signifikant häufiger zu funktionellen Beeinträchtigungen, die auch nicht selten die Aufnahme in ein Pflegeheim erfordern [6]. Neben der Würdigung des mutmaßlichen Patientenwillens und der prognostischen Einschätzung der akuten Erkrankung ist somit auch die Einschätzung der Gebrechlichkeit für die intensivmedizinische Therapiestrategie von besonderer Bedeutung.

Eine besonders geeignete Methode zum Gebrechlichkeitsscreening in der Intensivmedizin ist die Clinical Frailty Scale (CFS; [10]). Auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat sich im Kontext der COVID-19-Pandemie für ihre Anwendung ausgesprochen. Die Clinical Frailty Scale ist in einer deutschen Übersetzung und den entsprechenden Piktogrammen auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) e. V. unter dem Link https://www.dggeriatrie.de/images/Bilder/PosterDownload/200331_DGG_Plakat_A2_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf verfügbar und in der Abb. 2 dargestellt [11].

Abb. 2
figure 2

Clinical Frailty Scale (CFS). (Mit freundlicher Genehmigung, © Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e. V., alle Rechte vorbehalten. Quelle: https://www.dggeriatrie.de/images/Bilder/PosterDownload/200331_DGG_Plakat_A2_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf)

Basierend auf Piktogramme erfolgt bei der Erhebung der Clinical Frailty Scale die Einteilung der Patienten in 9 Kategorien:

1 – „sehr fit“, 2 – „durchschnittlich aktiv“, 3 – „gut zurechtkommend“, 4 – „vulnerabel“, 5 – „geringgradig frail“, 6 – „mittelgradig frail“, 7 – „ausgeprägt frail“, 8 – „extrem frail“ und 9 – „terminal erkrankt“. Die Clinical Frailty Scale ist für Patienten ab einem Alter von 50 Jahren validiert [6].

Bei der Erhebung der Clinical Frailty Scale ist es wichtig, dass vom Patienten, Angehörigen, Pflegenden etc. erfragt wird, welchen Zustand die betreffende Person 2 Wochen vor der jeweiligen akuten Situation hatte. Die Einschätzung darf sich also nicht auf den aktuellen Ist-Zustand, in dem sich die betreffende Person durch die akute Erkrankung befindet, gründen.

Frailty ist ein wichtiger Prädiktor für die Prognose von geriatrischen Patienten auf der Intensivstation

Zusammenfassend ist die Gebrechlichkeit ein wichtiger Prädiktor für die Prognose von geriatrischen Patienten auf der Intensivstation. Mit der Clinical Frailty Scale steht ein auf Piktogrammen basierendes, validiertes, einfaches und zuverlässiges Instrument zur Einschätzung der Gebrechlichkeit zur Verfügung.

Delir

Das Delir gilt heute als die häufigste psychiatrische Erkrankung auf Intensivstationen. Die Inzidenz beträgt bis zu 83 % und ist bei beatmeten Patienten deutlich höher [5]. Beim Delir handelt es sich um ein ätiologisch unspezifisches, polymorphes, hirnorganisches Syndrom, das nicht allein durch Intoxikation mit Alkohol oder psychotropen Substanzen verursacht wird und mindestens 2 der folgenden Störungen des Bewusstseins aufweist: Störungen der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des Denkens, des Gedächtnisses, der Psychomotorik, der Emotionalität oder des Schlaf-Wach-Rhythmus [8].

Die Dauer eines Delirs kann sehr unterschiedlich sein und der Schweregrad reicht von leicht bis sehr schwer [12]. Auch die Bandbreite an Symptomen kann vielfältig sein. Anhand der Symptomausprägung wird das Delir in 3 Formen klassifiziert:

  • hypoaktive Form,

  • hyperaktive Form und

  • gemischte Form.

In diesem Zusammenhang kann den einzelnen Subtypen eine unterschiedliche Prognose zugeordnet werden. So haben Patienten mit einem hypoaktiven Delir die schlechteste Überlebensprognose, da das Delir oft zu spät erkannt wird [13].

Patienten mit einem hypoaktiven Delir haben die schlechteste Überlebensprognose

Beim Delir spielen prädisponierende Risikofaktoren, präzipitierende Risikofaktoren und mit der medizinischen Versorgung assoziierte Risikofaktoren eine wichtige Rolle. Prädisponierende Risikofaktoren umfassen z. B. Gebrechlichkeit, Komorbiditäten oder Alkoholmissbrauch. Bei präzipitierenden Risikofaktoren handelt es sich z. B. um die akute medizinische Erkrankung, Sepsis, Hypoglykämie oder Medikamente. Zusätzlich zu diesen prädisponierenden und präzipitierenden Faktoren spielen mit der medizinischen Versorgung assoziierte Risikofaktoren wie z. B. mechanische Beatmung oder therapeutische Eingriffe eine wichtige Rolle [14].

Da die klinische Einschätzung allein zur Diagnose eines Delirs nicht ausreicht, ist die Implementierung von validierten Scoringsystemen unabdingbar für eine sinnvolle Diagnostik des Delirs. Die Leitlinien empfehlen dabei, die Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit (CAM-ICU) oder die Intensive Care Delirium Screening Checklist (ICDSC) zu verwenden [8]. Die CAM-ICU-Methode gilt mit einer Sensitivität von 80,0 % und einer Spezifität von 95,9 % als beste Screeningmethode für ein Delir auf der Intensivstation [15].

Die Mortalität von Patienten mit Delir ist 2‑ bis 3‑fach erhöht

Ein Delir kann sich in vielerlei Hinsicht negativ auf den Behandlungs-, sowie Genesungsverlauf der Patienten auswirken. Es ist sowohl mit einem kurz- als auch langfristigen schlechten Outcome assoziiert. Die Mortalität von Patienten mit Delir ist 2‑ bis 3‑fach erhöht. Ebenso konnte gezeigt werden, dass jeder Tag, der mit Delir auf einer Intensivstation verbracht wurde, mit einer um 10 % erhöhten Mortalität assoziiert ist [16].

Zusammenfassend stellt das Delir die häufigste psychiatrische Erkrankung auf der Intensivstation dar und ist mit einem schlechten Outcome assoziiert. Für das Delir gibt es prädisponierende, präzipitierende und mit der medizinischen Versorgung assoziierte Risikofaktoren. Im intensivmedizinischen Bereich kommt zur Detektion des Delirs am besten die CAM-ICU zur Anwendung.

Altersphysiologische Organveränderungen

Neben den bereits dargestellten ausgewählten und prognostisch hochrelevanten geriatrischen Syndromen Gebrechlichkeit und Delir spielen für den Ablauf der intensivmedizinischen Versorgung auch altersphysiologische Organveränderungen eine wichtige Rolle.

Mit zunehmendem Alter kommt es in allen Organen zu physiologischen Alterungsprozessen, die wiederum limitierte Reserven für Abweichungen oder Noxen bedingen und eine große intraindividuelle Variabilität und interindividuelle Streubreite besitzen [1, 17, 18]. Dadurch kann eine Erkrankung, die beim jüngeren Patienten unkritisch ist, beim geriatrischen Patienten sogar zum Multiorganversagen führen. Ein Beispiel hierfür ist die Exsikkose. Während diese beim jüngeren Patienten seltener auftritt und unkompliziert zu behandelt ist, ist die Exsikkose beim geriatrischen Patienten häufig und führt oft auch schnell zum Schock [19]. Auch die Anfälligkeit für eine ebenso intensivmedizinisch relevante ventilatorassoziierte Pneumonie ist höher.

In allen Organen kommt es zu physiologischen Alterungsprozessen

Im Gastrointestinaltrakt kommt es beim geriatrischen Patienten zu einer verminderten Motilität mit einer Abnahme der Frequenz der Peristaltikwellen [18]. Diesbezüglich wird auch auf den Beitrag von Professor Dr. Thomas Frieling zu neurogastroenterologischen Erkrankungen und Störungen der Darm-Hirn-Achse beim geriatrischen Patienten in dieser Ausgabe der Zeitschrift verwiesen. Weiterhin verlieren zudem Leber und Pankreas an Größe. Auch die Perfusion dieser Organe nimmt ab. Dies hat Auswirkungen auf die Glukosetoleranz und die Verstoffwechselung von Pharmaka [18].

Multimorbidität und Polypharmazie

Neben den bereits dargestellten altersphysiologischen Organveränderungen spielen für die intensivmedizinische Versorgung geriatrischer Patienten auch vorbestehende pathophysiologische Prozesse eine wichtige Rolle [1, 5]. Im Folgenden soll in Anlehnung an die entsprechenden Empfehlungen der Fachgesellschaften auf Multimorbidität und die damit assoziierte Polypharmazie eingegangen werden. Einen Überblick über die jeweilige Definition und die Prävalenz gibt Tab. 2.

Tab. 2 Übersicht über Definition und Prävalenz der Multimorbidität und der oft damit assoziierten Polypharmazie [20]

Die Multimorbidität gilt als ein im höheren Lebensalter zunehmendes Phänomen. Da es keine einheitliche Definition gibt, ist die Prävalenz schwierig einzuschätzen. Nach Literatur liegt diese bei älteren Menschen zwischen 55 und 98 % [21]. Die S3-Leitlinie Multimorbidität der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V. (DEGAM) bezeichnet Multimorbidität als das gleichzeitige Vorliegen von 3 oder mehr chronischen Erkrankungen, wobei nicht eine einzelne Erkrankung im besonderen Fokus der Aufmerksamkeit steht und Zusammenhänge zwischen den Krankheiten zwar bestehen können (z. B. über geteilte Risikofaktoren, oder bei Folgeerkrankungen), aber nicht müssen [20].

Multimorbidität ist das gleichzeitige Vorliegen von ≥3 chronischen Erkrankungen

Der Zusammenhang zwischen Multimorbidität und der prognostisch relevanten Gebrechlichkeit gilt als noch nicht ausreichend aufgeklärt, insgesamt wird davon ausgegangen, dass es sich um 2 unterschiedliche Konzepte handelt. So ist Gebrechlichkeit im Einzelfall auch ohne Multimorbidität nachweisbar [22].

Von besonderer intensivmedizinischer Relevanz bei der Versorgung von geriatrischen Patienten auf der Intensivstation ist die Polypharmazie. Unter Polypharmazie versteht man die dauerhafte Einnahme von 5 oder mehr Medikamenten. Multimorbidität ist nicht zwangsläufig mit Polypharmazie assoziiert, sie gilt jedoch als deren stärkster Prädiktor.

Gemäß den Angaben der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) wird in Deutschland eine hohe Anzahl von Todesfällen von 16.000–25.000 pro Jahr mit arzneimittelbezogenen Problemen in Folge einer Polymedikation in Zusammenhang gebracht [23]. Patienten auf der Intensivstation benötigen darüber hinaus für die akute Erkrankung oftmals eine umfassende zusätzliche Medikation. Aus diesem Grund ist insbesondere bei der intensivmedizinischen Versorgung von geriatrischen Patienten die enge Zusammenarbeit mit der Krankenhausapotheke von besonderer Bedeutung.

Bereits bei Aufnahme auf die Intensivstation sollte die oft vorhandene Polypharmazie geriatrischer Patienten auf ihre absolute Notwendigkeit überprüft werden. Viele Medikamente können neben Interaktionen und Nebenwirkungen auch ein Delir hervorrufen und unterstützen.

Bei geriatrischen Patienten ist die Empfindlichkeit gegenüber Pharmaka erhöht

Weiterhin ist beim geriatrischen Patienten auch die Empfindlichkeit gegenüber Pharmaka erhöht. Dies betrifft sowohl die Pharmakokinetik als auch die Pharmakodynamik. Die Nierenfunktion reduziert sich im Alter kontinuierlich und dies beeinflusst die Pharmakokinetik. Veränderungen der Rezeptordichte und -sensitivität und mangelnde Gegenregulationsmechanismen beeinflussen die Pharmakodynamik [1, 24]. So müssen bei geriatrischen Patienten die Medikamente meist niedriger dosiert werden als bei jüngeren Erwachsenen.

Ernährung des geriatrischen Patienten auf der Intensivstation

Neben der rationalen medikamentösen Therapie spielt auch die Ernährung des geriatrischen Patienten auf der Intensivstation eine sehr wichtige Rolle. Diesbezüglich wird auch auf den Beitrag von Professor Dr. Jürgen M. Bauer zur Ernährung im Alter in dieser Ausgabe der Zeitschrift verwiesen.

Oft werden geriatrische Patienten bereits mit Ernährungsdefiziten auf die Intensivstation aufgenommen. Dies ist sowohl durch die bereit beschriebenen physiologischen Alterungsprozesse im Gastrointestinaltrakt als auch durch pathophysiologische Prozesse bedingt. Ein vorbestehendes Ernährungsdefizit geht mit einer erhöhten intrahospitalen Mortalität einher [25]. Ein Ziel der intensivmedizinischen Behandlung von geriatrischen Patienten muss es deshalb auch sein, den Ernährungszustand des geriatrischen Patienten nicht nur zu erhalten, sondern aufgrund der hohen Vulnerabilität für Ernährungsprobleme zu verbessern [1].

Ein vorbestehendes Ernährungsdefizit geht mit einer erhöhten intrahospitalen Mortalität einher

Um den individuellen Ernährungszustand entsprechend zu erfassen, sollte ein Screening des Ernährungszustands mithilfe eines etablierten Tools (z. B. Nutritional Risk Screening [NRS] 2002) erfolgen [26]. Ferner sollte auch nach dem aktuellen Konsensuspapier zur geriatrischen Intensivmedizin der DGIIN, DIVI, DGG und weiterer Fachgesellschaften ein besonderes Augenmerk auf die oropharyngeale Dysphagie gelegt werden und ein Dysphagiescreening erfolgen [1].

Ethische Aspekte

Im Rahmen der intensivmedizinischen Therapie des geriatrischen Patienten spielen ethische Aspekte eine besonders große Rolle. Grundsätzlich gilt, dass jeder Patient unabhängig vom Alter nach den gleichen ethischen Grundprinzipien behandelt werden sollte [1, 27].

Sehr wichtig ist es – nicht nur bei geriatrischen Patienten, die Frage nach der Sinnhaftigkeit der intensivmedizinischen Therapie zu klären. Es ist dabei zu prüfen, ob ein angestrebtes Therapieziel erreicht werden kann, ob die intensivmedizinische Behandlung (mutmaßlicher) Patientenwille ist und ob die Belastungen während der Behandlung durch die Lebensperspektive gerechtfertigt sind [28]. Die genannten Fragestellungen sind bei geriatrischen Patienten von besonderer Relevanz, da gerade diese Patienten durch ihre erhöhte Vulnerabilität besonders gefährdet sind, eine längerfristige Schädigung durch Über- oder Untertherapie zu erleiden [29].

Ist die Indikationsstellung beim geriatrischen Patienten zunächst unklar oder der (mutmaßliche) Patientenwille z. B. in Notfallsituationen nicht eindeutig zu eruieren, kann ein Behandlungsversuch auf der Intensivstation erfolgen. Eine Reevaluation sollte aber spätestens 48 h nach Therapiebeginn und danach täglich durchgeführt werden [1].

Geriatrische Patienten mit COVID-19 – intensivmedizinische Aspekte

Alle bereits besprochenen für die intensivmedizinische Versorgung des geriatrischen Patienten relevanten Aspekte, altersbedingte Gebrechlichkeit, Delir, altersphysiologische Organveränderungen, Multimorbidität und Polypharmazie, Ernährung sowie Medizinethik spielen auch bei der Versorgung des geriatrischen Patienten mit COVID-19 eine sehr wichtige Rolle.

Ein höheres Lebensalter ist im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung mit einer höheren Rate an Hospitalisierung und auch mit einer erhöhten Mortalität assoziiert [30]. Die in Deutschland erhobene retrospektive Auswertung von Karagiannidis et al. mit 10.021 eingeschlossenen Patienten aus 920 Krankenhäusern zeigte bei über 80-jährigen Patienten eine Mortalität von 72 % [31]. Langzeitdaten älterer Patienten mit COVID-19-Infektion bestätigen neben der hohen Mortalität in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Diagnosestellung auch eine fortbestehende hohe Mortalitätsrate nach 1–3 Monaten. So zeigten Guillon et al., dass Patienten in einem Lebensalter von mehr als 80 Jahren, die im Rahmen einer COVID-19-Infektion beatmet werden mussten, eine Mortalität von 72 % aufweisen. Dies entspricht einem signifikant schlechteren Outcome im Vergleich zu jüngeren Patienten [32].

Beatmete COVID-19-Patienten > 80 Jahre zeigten eine Mortalität von 72 %

Unter dem Schirm der Studie Very old Intensive care Patients (VIP) der European Society of Intensive Care Medicine (ESICM) erfolgte die Evaluation an COVID-19-erkrankter Patienten im Rahmen der COVIP-Studie [33]. Hierbei handelt es sich um eine prospektive multizentrische Studie, die in 28 Ländern bei Patienten mit einem Lebensalter über 70 Jahren durchgeführt wurde. Eingeschlossen wurden ausschließlich Patienten der ersten Pandemiewelle. Die Probanden wurden bezüglich der Gebrechlichkeit mit der Clinical Frailty Scale untersucht. Das Gesamtüberleben lag nach 30 und 90 Tagen bei 59 % bzw. 52 %, wobei nach 30 Tagen 66 % der fitten Patienten, 53 % der vulnerablen und 41 % der gebrechlichen Patienten überlebten. Nach 90 Tagen überlebten 59 % der fitten, 47 % der vulnerablen und 33 % der gebrechlichen Patienten. Damit ist die Einschätzung der Patienten über den Clinical Frailty Scale mit der Prognose der Patienten signifikant assoziiert. Labenz et al. haben im Rahmen einer unizentrischen Auswertung 42 Patienten mit einem medianen Alter von 68 Jahren analysiert. Bei allen Patienten wurde zum Zeitpunkt einer COVID-19-bedingten Aufnahme in das Krankenhaus die Clinical Frailty Scale erhoben. Es ergab sich unabhängig vom Alter der Patienten, der Komorbiditäten und dem Quick-sepsis-related-organ-failure-assessment(qSOFA)-Score eine starke Korrelation zwischen der Höhe der Clinical Frailty Scale zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme und dem Bedarf einer invasiven Beatmung im Verlauf. Ebenso korrelierte die Länge des Krankenhausaufenthalts positiv mit der Höhe der Clinical Frailty Scale. Die Autoren empfahlen daher, die Clinical Frailty Scale im Sinne eines Eingangsscreenings bei Krankenhausaufnahme zu etablieren [34]. Auch die Arbeitsgruppe von Zhang et al. bestätigt im Rahmen eines systematischen Reviews mit Metaanalyse von insgesamt 23.944 Patienten die Gebrechlichkeit als unabhängigen Prognosefaktor zur Prädiktion der Mortalität. Das Studienteam spricht sich daher ebenfalls für die Verwendung der Clinical Frailty Scale als Screeningparameter aus [35]. Mehrere länderspezifische Empfehlungen haben als Konsequenz aus den soeben aufgeführten Studien die Anwendung der Clinical Frailty Scale für den klinischen Einsatz empfohlen.

Die Gebrechlichkeit ist ein unabhängiger Prognosefaktor zur Prädiktion der Mortalität

Zusammenfassend gilt nach aktueller Datenlage auch für COVID-19-Patienten das Alter des Patienten allein als ungeeignet, den Verlauf vorherzusagen oder die Morbidität und Mortalität abzuschätzen. Der Stellenwert der Gebrechlichkeit bei geriatrischen Patienten mit einer COVID-19-Erkrankung nimmt einen prominenten, vielleicht den zentralen Stellenwert zur Abschätzung der Mortalität und auch des Verlaufs ein. Die Clinical Frailty Scale ist hierzu ein geeignetes Screeningtool.

Therapiealgorithmus für kritisch kranke geriatrische Patienten

Basierend auf den ausgeführten Überlegungen zur Prognose und Therapie von kritisch kranken geriatrischen Patienten wurde ein Therapiealgorithmus etabliert. Besonders bei geriatrischen Patienten ist aufgrund der hohen Vulnerabilität eine sehr enge Abstimmung der intensivmedizinischen Versorgung mit der vorherigen Behandlung und der Versorgung nach dem intensivmedizinischen Aufenthalt im Sinne einer sektorenübergreifenden Zusammenarbeit notwendig (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Therapiealgorithmus für kritisch kranke geriatrische Patienten. CAM-ICU Confusion Assessment Method for the Intensive Care

Von zentraler Bedeutung bei der Versorgung von geriatrischen Patienten in der Notaufnahme ist der (mutmaßliche) Patientenwille. Kann der Patient seinen Willen nicht mehr selbst äußern, muss dieser mithilfe der Angehörigen und einer eventuell vorliegenden Patientenverfügung evaluiert werden. Nach Evaluation der Prognose erfolgt ggf. die Verlegung auf die Intensivstation. Diesbezüglich sei auch auf das Kapitel ethische Aspekte verwiesen.

Der (mutmaßliche) Patientenwille ist von zentraler Bedeutung

Während der Hospitalisation auf der Intensivstation ist eine ständige klinische Bewertung und Reevaluation der Prognose mit Festlegung der Therapieziele notwendig. Spätestens nach 48 h der intensivmedizinischen Versorgung sollte eine erneute Bewertung der Situation erfolgen.

Besonders bei geriatrischen Patienten ist es sehr wichtig, frühzeitig die Versorgung nach dem intensivmedizinischen Aufenthalt sowohl im ambulanten als auch stationären Setting zu klären. Hierzu ist eine frühzeitige Einbindung des Allgemeinarztes, Geriaters und Internisten sowie des Sozial- und Pflegediensts notwendig. Die sektorenübergreifende Zusammenarbeit hat eine herausragende Bedeutung bei der Behandlung des geriatrischen Patienten auf der Intensivstation.

Fazit für die Praxis

  • Das Alter ist kein prognostisches Kriterium für das Outcome der intensivmedizinischen Versorgung.

  • Die Gebrechlichkeit ist ein wichtiger Prädiktor für die Prognose von geriatrischen Patienten auf der Intensivstation. Zum Screening sollte die Clinical Frailty Scale (CFS) eingesetzt werden. Dies gilt auch für Patienten mit Coronaviruserkrankung 2019 (COVID-19).

  • Das Delir ist mit einem schlechten Outcome assoziiert und wird am besten mit der Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit (CAM-ICU) detektiert.

  • Beim geriatrischen Patienten ist die Empfindlichkeit gegenüber Pharmaka erhöht. Eine Polypharmazie sollte stetig überprüft werden.

  • Geriatrische Patienten zeigen oft ein vorbestehendes Ernährungsdefizit, das mit einer erhöhten intrahospitalen Mortalität einhergeht und ausgeglichen werden muss.

  • Bei der Behandlung kritisch kranker geriatrischer Patienten ist eine sektorenübergreifende Zusammenarbeit von zentraler Bedeutung.