Historischer und sozialpolitischer Hintergrund

Zum Ausgang des 19. Jahrhunderts entwickelten sich immer stärker werdende soziale Konflikte, die ihren Ursprung in der sich rasant vergrößernden Bevölkerungsgruppe der Industrie- und Bergarbeiter und deren prekärer Lebenssituation hatten. Um den damit verbundenen sozialen Unruhen entgegenzuwirken, konzipierte das Kaiserreich mit seinem Reichskanzler Bismarck, beginnend ab 1883, eine erste Form der Sozialgesetzgebung mit Kranken‑, Unfall- und Alterssicherung.

Die gesetzliche Unfallversicherung nahm im Reigen der Sozialversicherungen von Anfang an eine Sonderstellung ein. Zum einen war diese ausschließlich durch die Arbeitgeber finanziert, zum anderen trat die gesetzliche Unfallversicherung mit ihren Leistungen an die Stelle von Schadensersatzansprüchen des verletzten Arbeiters an den Unternehmer (Ablösung der Unternehmerhaftpflicht). Schon im ursprünglichen Entwurf waren Prävention, Rehabilitation und am Ende auch die Entschädigung (Unfallrente) des durch einen versicherten Unfall entstandenen Gesundheitsschadens eingebunden. Auch spielte von Anfang an der Gedanke der sozialen Befriedung bei der Entstehung der gesetzlichen Unfallversicherung eine zentrale Rolle. Er findet sich bereits in der Fassung der Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911 wieder und wurde später in das ab 1997 geltende Sozialgesetzbuch VII (Gesetzliche Unfallversicherung) übernommen. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes verweist bis heute in seinen Entscheidungen regelmäßig auf den Leitgedanken der „sozialen Befriedung“.

Entwicklung des Begriffes der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)

Der Begriff Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde erstmals mit dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) von 1963 in die RVO (§ 580) eingeführt. Zuvor war die entsprechende Begrifflichkeit im Unfallversicherungsgesetz (UVG) von 1884 und der daraus entstandenen Reichsversicherungsordnung als völlige oder teilweise Erwerbsunfähigkeit definiert [1].

Die MdE ist ein wesentlicher Maßstab für die Höhe der Verletztenrente nach einem Arbeits- oder Wegeunfall und auch für die Rente bei einer anerkannten Berufskrankheit.

Das SGB VII definiert diese wie folgt:

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens.

Diese Definition findet sich nahezu unverändert seit der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung.

Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts war die Gruppe der Versicherten klar umrissen, es waren dies Industrie- und Bergwerkarbeiter. Damit waren auch die Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens streng umrissen. Der für diese Versicherten offenstehende Arbeitsmarkt war überschaubar und in seinen Leistungsanforderungen klar definiert.

Seit 1884 hat sich aber nicht nur der Arbeitsmarkt grundlegend verändert (Abb. 1), sondern unter dem Einfluss einer breit getragenen, politischen Entscheidung ist es zu einer erheblichen Ausweitung des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes gekommen. Die Rechtsanwender haben damit die aktuelle Rechtsprechung den veränderten sozialen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen angepasst, ohne dass die gesetzliche Grundlage einer ähnlichen (eigentlich notwendigen) Reform unterzogen wurde.

Abb. 1
figure 1

Entwicklung von primärem, sekundärem und tertiärem Arbeitsmarkt von 1882 bis 2005. (Aus Bundeszentrale für politische Bildung [2]; mit freundl. Genehmigung Bergmoser + Höller Verlag AG)

Das Bundessozialgericht hatte in mehreren Entscheidungen verkündet, dass

… die MdE durch Schätzung festgestellt werden darf und sich nach allgemeinen Erfahrungssätzen ausrichtet. Die „MdE-Tabellen“ sind von den UV-Trägern und Gerichten angenommen – als wirklichkeits- und maßstabsgerecht, somit auch als sozial adäquat anerkannt.

Auch in seiner neuesten Entscheidung vom 20.12.2016 hat das BSG nochmals die Bedeutung dieser anerkannten Tabellenwerke hervorgehoben. Solange der Gesetzgeber keine konkreten Regeln für den Maßstab und das Verfahren nach § 56 Abs. 2 SGB VII aufstelle, seien die bisherigen Tabellenwerke, auch wenn sie rechtlich nicht verbindlich seien, das einzige Hilfsmittel, an denen Unfallversicherungs (UV)-Träger, Gerichte und Gutachter ihre Entscheidung ausrichten könnten. Entscheidend ist, dass diese Tabelleneckwerte dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand folgen, d. h. einer zumindest überwiegend vertretenen Auffassung, die auf breitem Konsens und Akzeptanz beruht.

Der Großteil der in der gesetzlichen Unfallversicherung veröffentlichten MdE-Werte (insbesondere die Eckwerte für Amputationen) hat sich in den letzten 120 Jahren, seitdem diese Anwendung finden, nicht verändert.

Aus diesem offensichtlichen Widerspruch haben sich in den letzten Jahren in den unterschiedlichen Interessengruppen, die an diesem sozialrechtlichen Verfahren beteiligt sind, mehrere Initiativen zur Neubewertung der MdE etabliert.

Kritik an der Praxis der MdE-Erfahrungswerte

Der aktuelle Ausgangspunkt für eine Initiative der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zu einer Revision der herkömmlichen MdE-Tabellen wurde mit Nachdruck während des deutschen Sozialgerichtstages 2012 [3] durch die Rechtsanwender formuliert: Der Sozialgerichtstag hatte der DGUV empfohlen, die Federführung für einen Konsensusprozess zu übernehmen und das schwierige Thema in einer multiprofessionellen Gruppe unabhängiger Experten zu diskutieren und Vorschläge einer Neubewertung zu erarbeiten. Dabei wurde deutlich darauf hingewiesen, dass aktualisierte MdE-Werte in der Sozialgerichtsbarkeit aber nur dann Akzeptanz erfahren könnten, wenn sie auf einem breiten Konsens der einschlägigen Fachkreise und Interessengruppen beruhen und nicht nur eine „weitere Tabelle“ sind. Auch parallele Entwicklungen im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts (Versorgungsmedizin-Verordnung [VersmedVO]), d. h. die vom zuständigen Ärztlichen Sachverständigenbeirat Versorgungsmedizin (ÄSVB) vorgenommenen Neubewertungen zum Grad der Schädigungsfolge (GdS) und Grad der Behinderung (GdB), sollten beobachtet und mit berücksichtigt werden. Beide Rechtsmaterien weisen zwar Unterschiede auf, die MdE stellt auf die „Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ ab, während beim GdS/GdB die „Teilhabebeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen (einschließlich des Arbeitsmarktes)“ zu berücksichtigen sind. Es bestehen aber auch viele Gemeinsamkeiten. So erfolge z. B. die medizinische Einschätzung der Funktionseinschränkungen unabhängig vom Bewertungsmaßstab, was in der Vergangenheit dazu geführt habe, dass in beiden Rechtsbereichen die ausgewiesenen (Erfahrungs‑)Werte oftmals eng beieinander lagen. GdS und GdB-Werte haben den Normcharakter eines antizipierten Sachverständigengutachtens, die nach Abschluss eines Konsensusverfahrens im ÄSVB Eingang in die VersmedVO nehmen.

Auch aus der Ärzteschaft wurde immer wieder die Anpassung der aktuellen MdE-Werte gefordert, da

… die aktuellen Empfehlungen zur MdE-Bewertung gegenwärtig keine „Allgemeinen Erfahrungssätze“ mehr sind, weil sie

  • die aktuelle ständige Rechtsprechung des BSG nicht beachten,

  • den Wandel des Erwerbslebens nicht berücksichtigen,

  • den medizinischen Fortschritt nicht abbilden,

  • keinen Konsens der einschlägigen Fachkreise darstellen,

  • widersprüchliche und uneinheitliche Bewertungen beinhalten und

  • nicht in einem modernen Verfahren erstellt, aktualisiert und validiert werden. [4]

Zudem wurde die Frage gestellt, ob und in welcher Weise die zunehmend aufwendigeren Rehabilitationsmaßnahmen sowie eine verbesserte, hochwertigere Prothesenversorgung als funktionsverbesserndes Hilfsmittel nach dem Verlust von Gliedmaßen Eingang in die MdE-Bewertung finden müssen und ggf. eine Herabsetzung dieser Werte zur Folge habe. Es wurde argumentiert, dass Versicherte durch die moderne Hilfsmittelversorgung sportliche Höchstleistungen, selbst im Vergleich mit Nicht-Behinderten erzielen können, ohne dass sich dies auf die MdE auswirke.

Auch die Beeinträchtigung ihres Leistungsvermögens in Bezug auf die Arbeitsmöglichkeiten im gesamten Erwerbsleben würde sich dadurch wesentlich verbessern, mithin müsse sich dies auch MdE-mindernd auswirken.

Ein weiterer Kritikpunkt an den MdE-Werten in der aktuellen Gutachtenliteratur war deren Heterogenität. Für ein und dieselbe Funktionsstörung wurden in unterschiedlichen Begutachtungswerken teilweise unterschiedliche MdE-Werte als Anhaltspunkte angegeben (Tab. 1).

Tab. 1 Auflistung von Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)-Werten zu einer definierten Funktionsstörung aus verschiedenen Standardwerken der Begutachtung und aus verschiedenen Auflagen

Das Postulat des Bundessozialgerichts (BSG), dass Erfahrungswerte als allgemein anerkannt und durch die Rechtsanwendung als überprüft anzusehen sind, kann aber nur gelten, wenn diese kongruent sind, d. h. für gleiche Funktionseinschränkungen auch zu gleichen Einschätzungen kommen.

Diese Kritik an der bisherigen Praxis der MdE-Erfahrungswerte erscheint substanziell und wurde damit von der DGUV aufgegriffen.

Systematischer Ansatz einer Evaluation der MdE-Erfahrungswerte

Der Ausschuss Rehabilitation der Geschäftsführerkonferenz der DGUV hat den Vorschlag des Sozialgerichtstages aufgegriffen, eine unabhängige multiprofessionelle MdE-Expertengruppe ins Leben zu rufen, um sich diesem Thema v. a. aus unfallchirurgisch-orthopädischer und arbeitsmedizinischer Sicht zu nähern. Die ehrenamtlich tätigen Mitglieder der MdE-Expertengruppe wurden von den jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften benannt.

Wissenschaftlicher Leiter und Vorsitzender der MdE-Expertengruppe ist Herr Prof. Dr. Marcus Schiltenwolf (Leiter der Arbeitsgemeinschaft „Sozialmedizin und Begutachtungsfragen“ in der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie). Die Projektleitung hat Herr Dirk Scholtysik übernommen, Leiter des Referats Soziale Reha/Begutachtung/Pflege/Psyche der DGUV.

Von den Fachgesellschaften für

  • Orthopädie und Orthopädische Chirurgie,

  • Unfallchirurgie,

  • Physikalische Medizin und Rehabilitation,

  • Arbeitsmedizin und Umweltmedizin,

  • Sozialmedizin und Prävention

sowie von der Bundesagentur für Arbeit wurden Vertreter mit Sitz in der MdE-Expertengruppe benannt. Zusätzlich hat die DGUV 2 Personen aus dem Kreis der UV-Träger entsandt.

Die MdE-Expertengruppe hat ihre Arbeit Mitte 2015 aufgenommen und wird diese bis Ende des Jahres 2017 vorläufig abgeschlossen haben. Nach Vorlage des Abschlussberichtes an die DGUV-Gremien ist geplant, die neuen Vorschläge (insbesondere MdE-Eckwerkte für Amputationsverletzungen) in einer Informationsveranstaltung („Hearing“) mit Sozialpartnern, Betroffenenverbänden, Fachgesellschaften, Vertretern der Sozialgerichtsbarkeit, Gutachtern und anderen Fachleuten vorzustellen, zu diskutieren und auf Konsensfähigkeit hin zu überprüfen.

Aus einer Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) heraus hatten Ludolph, Schürmann et al. in ihren Publikationen [4,5,6,, 14,15,16] den Ansatz verfolgt, den das Bundessozialgericht 1984 (BSG 1984 9b RU 48/82) in seinem 3‑stufigen Konzept vorgeschlagen hatte [17].

  1. 1.

    Welche Funktionseinschränkungen (körperlich, geistig, seelisch) hat der Versicherungsfall verursacht?

  2. 2.

    Inwieweit hindern diese festgestellten Einschränkungen Versicherte daran, Arbeitsmöglichkeiten zu ergreifen, d. h. in welchem Umfang entsprechen die verbliebenen Leistungsfähigkeiten noch dem Anspruch der Anforderungen im gesamten Erwerbsleben?

  3. 3.

    Welchen prozentualen Anteil am gesamten Erwerbsleben haben gerade die Tätigkeiten, die Versicherte aufgrund der verbliebenen Anforderungen nicht mehr ausüben können?

Die aus diesem Prozess heraus von den oben genannten Autoren veröffentlichten MdE-Vorschlagswerte für Amputationen an den Gliedmaßen sind aus Sicht der MdE-Expertengruppe in vielen Punkten als sehr kritisch anzusehen, zumal sie wissenschaftlich kaum begründbar sind und auch der Gesetzesintention des § 56 SGB VII sowie den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht standhalten.

Es fehlt in den von der DGU-Arbeitsgruppe entwickelten neuen MdE-Werten an einer wissenschaftlichen Literaturrecherche zu dem Thema, um bereits existierende Arbeiten zur Leistungsfähigkeit von Verletzten mit Amputationen als Vergleich und Basis heranziehen zu können.

Die Autoren der DGU-Arbeitsgruppe stellten die Hypothese auf, dass durch oberschenkelamputierte Versicherte, die mit modernen Exoprothesen versorgt wurden, „… die Aktivitätsanforderungen nach dem DGUV-Mobilitätsformblatt M 2200 oder einer EFL (EFL-Test nach Isernhagen) … ohne große Probleme erfüllt werden“.

Dies wird durch keine wissenschaftliche Studie belegt. Es wird im Text der Publikationen auf eine anscheinend unveröffentlichte Fallsammlung aus der BG-Klinik in Duisburg aus den Jahren 2011 bis 2012 verwiesen, wo bei 20 Oberschenkelamputierten ein Mobilitätsgrad von 3 bis 4 erreicht worden sei.

Auch fehlt es an einer genauen Definition des in den Arbeiten eingeführten Begriffes der „bestmöglichen prothetischen Versorgung“, der als Basis für die neuen MdE-Vorschlagseckwerte fungiert. Bedeutet der Einsatz eines mikroprozessorgesteuerten Kniegelenks in der Oberschenkelprothese (Genium, C‑Leg, Otto Bock HealthCare, Deutschland) schon die bestmögliche Versorgung, unabhängig von der individuellen Versorgungsrealität?

Vor allem aber erfolgt keine Definition eines standardmäßig, gut oder bestmöglich versorgten Versicherten, aus der ableitbare Konsequenzen im Hinblick auf eine bestehende Leistungsfähigkeit gezogen werden können. Erst wenn dies erfolgt ist, kann die Frage beantwortet werden, welche Tätigkeiten für den oberschenkelamputierten Verletzten mit einer guten Hilfsmittelversorgung aufgrund der festgestellten, definierten Leistungs- und Funktionseinschränkungen als nicht mehr zumutbar bzw. verwehrt anzusehen sind.

Zu den funktionellen Defiziten, mit denen der oberschenkelamputierte Patient ständig konfrontiert ist, wird in der Veröffentlichung von Ludolph und Schürmann nur kursorisch Stellung bezogen, wenn es heißt: „Funktionsdefizite verbleiben noch beim Gehen auf erheblich unebenem und abschüssigem Gelände (Baustellen).“

Zu berücksichtigen sind dabei aber unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Arbeitsmarktes weitere Einflussgrößen, unter anderem z. B. die durchschnittliche, tägliche zumutbare Prothesentragedauer, die durchschnittlich zu erwartende Gehstrecke und das Stehen ohne Pausen, die durch die Prothesennutzung verursachte zusätzliche Pausendauer und -frequenz (Wartungszeiten der Prothese), Besonderheiten bei der Stumpfpflege, Besonderheiten bei arbeitsbedingter Staub‑, Hitze und Feuchtigkeitseinwirkung, Arbeiten in Zwangshaltungen, kniend oder hockend etc.

Erst wenn sämtliche Funktionseinschränkungen dokumentiert und erfasst sind, kann valide abgeschätzt werden welche Arbeitsmöglichkeiten als verschlossen angesehen werden müssen. Und erst danach, wenn man die Arbeitsmöglichkeiten generell bestimmt hat, die dem Versicherten durch seine unfallbedingte Gesundheitsschädigung versagt sind, kann man nach eingehender Arbeitsmarktanalyse beurteilen, welchen Anteil diese am gesamten Erwerbsleben (sog. allgemein zugänglicher Arbeitsmarkt) haben, und damit die MdE einschätzen.

In den bisherigen Publikationen ist die Dimension bzw. der Versuch einer fundierten Arbeitsmarktanalyse nicht erkennbar. Zugrunde gelegt wurden lediglich Daten einer Beschäftigtenbefragung [18], die keinesfalls die Qualität einer Analyse von leistungsbezogenen Arbeitsmarktstrukturen aufweisen kann und die nach Auskunft der entsprechenden Institutionen im Rahmen einer Befragung durch die MdE-Expertengruppe, wohl weder dazu gedacht noch dazu geeignet sind, valide Auskünfte über den allgemeinen Arbeitsmarkt (Arbeitsmarktanalyse) zu geben, wie sie im Rahmen des § 56 Abs. 2 SGB VII notwendig wären.

Die MdE-Expertengruppe sah sich bei ihrer Arbeit hier ebenfalls mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert. Es sollte versucht werden, den im Grundsatz nachvollziehbaren Ansatz, den bereits die Mitglieder der DGU-Arbeitsgruppe zur Neubestimmung der MdE-Werte gewählt hatten, unter wissenschaftlichen Aspekten zu validieren. Deshalb wurde von der MdE-Expertengruppe zunächst ein prototypischer Versicherter mit einer unfallbedingten Unterschenkelamputation mit einer guten, standardmäßigen Hilfsmittelversorgung, wie sie im Durchschnitt der Versorgungsrealität zu erwarten ist, definiert. Daraufhin wurde eine systematische Literaturrecherche zu Aktivitäten und Teilhabe nach Unterschenkelamputation in Auftrag gegeben. Hier konnten aus 349 international publizierten Arbeiten zur Beantwortung unserer Fragestellung am Ende 18 Publikationen eingeschlossen werden. Daraus konnten einige Hinweise für die Leistungsfähigkeit nach Unterschenkelamputation identifiziert werden, die im Wesentlichen auch schon in die S2k-Leitlinie zur Rehabilitation nach Major-Amputationen der unteren Extremität Eingang gefunden haben:

Die transtibiale Amputation ermöglicht die Nutzung des eigenen Kniegelenkes. Im Rahmen einer Unterschenkelkurzprothesenversorgung ist in Bezug auf die Berufswahl mittelschwere körperliche Tätigkeit zumutbar, die Tätigkeit kann in allen körperlichen Lagen verrichtet werden, wobei häufiges Arbeiten in der Hocke und in Zwangshaltungen vermieden werden sollte.

Es fanden sich weitere Kontextfaktoren von erheblichem Einfluss. Neben der Qualität der Versorgung und der Rehabilitation waren auch ein angemessener Arbeitsplatz bzw. die Möglichkeit zur Adaption des bestehenden Arbeitsplatzes von Bedeutung, insbesondere aber auch das Lebensalter und damit die individuelle Anpassungsfähigkeit des Versicherten.

Unter Rückgriff auf die in der Literaturrecherche gewonnene Übersicht zum Leistungsbild eines unfallbedingten Unterschenkelamputierten und unter Beiziehung des Erfahrungswissens der beteiligten Mediziner und Rehabilitationswissenschaftler wurden ein positives und ein negatives Leistungsbild zu diesem prototypischen Versicherten entwickelt mit einem für einen durchschnittlich Versicherten zu erwartenden Aktivitätsniveau.

Gesundheitliches Restleistungsvermögen einer versicherten Person nach unfallbedingter Unterschenkelamputation im mittleren Schaftdrittel links (prothesenversorgt [Trans Tibial-Modular-Unterschenkelprothese, gute Stumpfverhältnisse, gute Stumpflänge]) bzw. positives und negatives Leistungsbild wurden wie folgt festgelegt:

  • quantitatives Leistungsvermögen: vollschichtig,

  • Sitzen ständig,

  • Gehen und Stehen zeitweise (zusammen bis 3 h pro Schicht),

  • leichte und mittelschwere Arbeiten mit Heben und Tragen bis 15 kg (vereinzelt anfallendes schweres Heben und Tragen sind kein Ausschlusskriterium),

  • keine hockenden und knienden Tätigkeiten (vereinzelt anfallende Arbeiten in Bodennähe sind kein Ausschlusskriterium),

  • keine Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten,

  • keine ruckartigen Bewegungsbeanspruchungen der Beine,

  • Tätigkeiten auf unebenem Boden gelegentlich (bis 5 %/ca. 2-mal pro Stunde),

  • Überkopfarbeiten gelegentlich (bis 5 %/ca. 2-mal pro Stunde).

Dieses Leistungsbild wurde dann an die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) bzw. an das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) sowie an das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit folgender Fragestellung gerichtet:

Wie groß ist der prozentuale Anteil der Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, welcher der versicherten Person unter Berücksichtigung des o. g. Restleistungsvermögens verschlossen ist (ohne Berücksichtigung des beruflichen Werdegangs und sonstiger berufsbezogener Qualifikationen und unabhängig von der Verweisbarkeit)?

Das Ergebnis der Anfrage war, dass keine der Datenbanken [19,20,21], die dem IAB, der BAuA/BIBB sowie der Bundesagentur für Arbeit (BA) zur Verfügung stehen, das von uns definierte Leistungsbild berücksichtigen und dass dazu auch keine analogen Arbeitsmarktdaten erhoben werden können. Die dem IAB zur Verfügung stehenden Datenbanken bilden keine ausreichend valide Grundlage für rechtlich fundierte Aussagen im Sinne einer medizinischen Eignungsfeststellung. Damit sind die Daten des IAB bzw. der BA für die Zwecke der Arbeitsmarktanalyse bei der MdE-Einschätzung ungeeignet. Gleiches gilt für die von der BIBB/BAuA durchgeführten regelmäßigen Erwerbstätigenbefragung. Auf diese hatte sich die DGU-Arbeitsgruppe im Wesentlichen bezogen. Es handelt sich hierbei ausschließlich um subjektive Einschätzungen der Beschäftigten, die keinen Rückschluss auf die objektive Situation, d. h. die tatsächlichen Belastungen am Arbeitsplatz zulassen. Zudem lassen die sehr beschränkten Antwortskalen nur bedingt aussagekräftige Rückschlüsse auf die von uns erfragten Items zu. Wenn überhaupt eine Aussage über konkrete krankheitsbedingte Einschränkungen getroffen werden kann, so müssten ganz erhebliche Selektionen bei der Gruppe der Befragten vorgenommen werden, die dann aufgrund der nur geringen Fallzahl keine Hochrechnung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt in Deutschland mehr zulassen. Auch die BIBB/BAuA sieht deshalb ihre Studien in einem offiziellen Statement als für unsere Zwecke ungeeignet an.

Damit ist festzustellen, dass auch der von uns betriebene methodische Ansatz, MdE-Werte nach den Vorgaben der Rechtsanwender zu definieren, nicht gelungen ist. Weitere Ansätze, um dies über andere wissenschaftliche Ansätze, ausgehend von den vorhandenen Arbeitsmarktdaten (Berufenet) und den darin enthaltenen Berufsinformationen zu versuchen, haben nach Rücksprache mit der IAB aus verschiedenen Aspekten heraus kaum Aussicht auf Erfolg.

Neubestimmung der MdE-Erfahrungswerte durch Konsensusprozess

Selbst wenn dieses Vorhaben gelungen wäre und man einen prozentualen Anteil von verwehrten Arbeitsmöglichkeiten bei bestimmten Leistungseinschränkungen eines unfallbedingt Unterschenkelamputierten hätte identifizieren können, so wäre dennoch ein nach geltender, höchstrichterlicher Rechtsprechung wichtiger Bestandteil der MdE-Einschätzung unberücksichtigt geblieben. Es handelt sich hierbei um den sog. immateriellen Schaden, den der Verletzte erleidet und der über die Einschränkung seiner Arbeitsmöglichkeiten insbesondere bei der Amputation deutlich hinausgeht.

In der Formulierung des SGB VII findet sich ausschließlich der Hinweis auf die Höhe der Verletztenrente und ihren Bezug zu den unfallbedingt verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten des Verletzten. Die Rechtsanwender Bundessozialgericht (BSG) und Bundesgerichtshof (BGH) haben in wiederkehrenden Entscheidungen bestätigt, dass insbesondere durch die Ablösung der Unternehmerhaftpflicht die Verletztenrente nicht nur auf eine Entschädigung materieller Schäden reduziert werden darf, sondern dass diese auch immaterielle Schäden wie die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, Entstellungen, Mehraufwand, Schmerz u. a. berücksichtigen muss.

Immaterielle Schäden können aber nicht berechnet werden, sondern sind im Falle der MdE als Ausfluss eines gesellschaftlichen Konsenses wertend zu berücksichtigen.

Die MdE-Expertengruppe hatte mit dem Scheitern des oben beschriebenen methodischen Ansatzes die Chance ergriffen, im Rahmen eines sog. Delphi-Verfahrens die bisher in der Kritik stehenden Tabellenwerte und deren Uneinheitlichkeit zu überarbeiten.

Bei diesem Delphi-Verfahren wurde der MdE-Expertengruppe eine Auflistung aller gängigen, zur gutachtlichen Standardliteratur gehörigen MdE-Tabellenwerte nach Funktionsstörung zur Verfügung gestellt, in mehreren Runden wurden zunächst anonym, dann mit vorgetragener Begründung einzelne Eckwerte identifiziert und konsentiert. Ausgehend von diesen, wurden dann weitere Funktionscluster mit zugehörigen MdE-Werten gebildet, die dann Eingang in ein einheitliches Tabellenwerk gefunden haben.

In diesem gruppeninternen Konsensusprozess wurden alle wichtigen Faktoren berücksichtigt und insbesondere auch ein Quervergleich mit den bisherigen und neuen MdE-Eckwerten anderer Verletzungsfolgen gezogen. Da die Unfallrente (MdE) immer eine Funktionsbeurteilung erfordert, erfolgte die Neueinschätzung der medizinischen Kriterien in Anlehnung an das biopsychosoziale Modell und die Grundlagen der ICF. Ausgehend von den schwersten Verletzungsfolgen, die traditionsgemäß, aber auch unter Berücksichtigung der aktuellen medizinischen bzw. prothetischen Versorgungslage zukünftig in jedem Fall eine MdE von 100 % darstellen, wurden sog. Funktionsstörungsklassen gebildet. Dies ermöglichte einen Vergleich unterschiedlicher Bereiche und damit einen aus Sicht der MdE-Expertengruppe nachvollziehbaren und begründbaren Neuansatz. Für die einzelnen Klassen bzw. Eckwerte wurden lediglich Abstufungen von mindestens 10 % gemacht, wenn sich im Vergleich mit anderen Eckwerten eine wesentliche Funktionsverbesserung bzw. Verschlechterung ergab. Auf die Einschätzung von 5 %-Werten wurde auch deshalb verzichtet, da diese wissenschaftlich abstrakt nicht begründbar sind. Selbstverständlich lässt es das SGB VII (anders als die VersmedVO) auch weiterhin zu, eine Unfallrente z. B. von 35 % einzuschätzen. Dies kann jedoch nur durch den Gutachter in Ansehung des konkreten Probanden im Einzelfall erfolgen. Die erzielten Ergebnisse wurde zudem in Bezug zu den neuen Werten des sozialen Entschädigungsrechts (GdB/GdS) gestellt und daraufhin überprüft, ob sich bei gleicher Verletzungsfolge im Hinblick auf die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft (GdB/GdS) allein bezogen auf den Arbeitsmarkt (MdE) ggf. eine stärkere oder schwächere Ausprägung der Einschränkungen ergibt.

Mit ihrer vorerst letzten Sitzung im Juli 2017 kann die MdE-Expertengruppe ihre Arbeit voraussichtlich vorerst abschließen. Der Abschlussbericht wird den DGUV-Gremien bis Ende 2017 vorgelegt. Vermutlich im Sommer 2018 sollen die Ergebnisse in einem sog. „Hearing“, wie oben beschrieben, der Fachöffentlichkeit vorgestellt und diskutiert werden. Ziel der MdE-Expertengruppe ist es somit, nicht nur eine aus ihrer Sicht schlüssige Neubewertung vorzunehmen, sondern hierüber im fachlichen wie im gesellschaftlichen Dialog mit Politik, Sozialgerichten, Rechtsanwendern, Betroffenenverbänden, Gewerkschaften, Arbeitsgeberverbänden, Ärzten einen möglichst breiten Konsens zu erzielen. Auch die zukünftigen Tabellenwerke sollen in der Rechtsanwendung einen festen Platz finden und als Orientierungshilfe für die aktuelle Begutachtungsliteratur fungieren. Die Erfahrungswerte sollen weiterhin die Funktion der sozialen Adäquanz unter Berücksichtigung von materiellen und immateriellen Schäden dienen. Vor allem aber soll und muss die MdE bzw. die Unfallrente auch zukünftig ihrer wichtigen Funktion als (sozialer) Befriedungsfaktor gerecht werden.

Fazit für die Praxis

  • Die MdE in der gesetzlichen Unfallversicherung ist Maßstab für die Höhe der Verletztenrente. Sie wird durch Bezugnahme auf in der Gutachtenliteratur veröffentlichten Erfahrungswerte individuell und fallbezogen eingeschätzt.

  • Im Gesetzestext zur MdE findet sich ausschließlich ein Bezug zwischen unfallbedingter Funktionsstörung und den dadurch verwehrten Arbeitsmöglichkeiten des Verletzten. BSG und BGH haben immer auch eine weitere Dimension der Unfallrente festgestellt und betont, die aus der Ablösung der Unternehmerhaftpflicht resultiert, nämlich der sog. immaterielle Schaden.

  • Eine Neubewertung der MdE allein unter arbeitstechnischen und arbeitsmarktpolitischen Aspekten kann nicht gelingen.

  • Eine notwendige Harmonisierung und Abstimmung der vorhandenen Erfahrungswerte ist von der Expertengruppe in Gang gesetzt worden und soll in einem gesellschaftlichen Dialog mit Politik, Sozialgerichten, Rechtsanwendern, Betroffenenverbänden, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Ärzten zu einem sozial verträglichen Konsens führen.