Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.

Albert Einstein​

Einsparungen in Milliardenhöhe, mangelnde Personalressourcen durch die Umsetzung der EU-Verordnung bezüglich Reduktion der Arbeitszeiten von Klinikärzten aus dem Jahr 2003 (!) auf 48 Wochenstunden sind willkommene Argumente im österreichischen Gesundheitswesen, Leistungen zu reduzieren. Zusätzlich tragen zersplitterte Kompetenzen, konkret Krankenhauserhalter, Sozialversicherungen, Ärztekammer und Pensionsversicherung dazu bei, dass direkte und indirekte Kosten, verursacht durch chronische Schmerzpatienten, nicht in ihrer gesamten Dimension gesehen und beurteilt werden.

In dieser Ausgabe von Der Schmerz werden die Auswirkungen auf schmerztherapeutische Einrichtungen in den letzten 3 Jahren anschaulich dargestellt und massive Defizite in der Versorgung aufgezeigt. Trotzdem muss angenommen werden, dass die Unterversorgung an interdisziplinär geführten Schmerzambulanzen mit multimodalem Therapieangebot die Ergebnisse noch weit übersteigt.

Als Beispiel soll Niederösterreich, mit mehr als 1,6 Mio. Einwohnern das zweitgrößte Bundesland Österreichs, herausgegriffen werden. In der Arbeit von Sandner Kiesling wird diesem Bundesland die größte Diskrepanz beim Verhältnis vorhandener zu notwendigen Schmerzambulanzen attestiert. Nach aktuellem Stand (10/2015) bieten 5 Schmerzambulanzen insgesamt 64 Wochenstunden für Schmerzpatienten in diesem Bundesland an. Die Öffnungszeiten reichen von 3 über 4,5 und 12 bis maximal 32,5 h pro Woche. Optimistisch gesehen, kann angenommen werden, dass gerade eine Einrichtung annähernd die international geforderten Kriterien erfüllt. Mangelnde Struktur- und Qualitätskriterien können aus der vorliegenden Erhebung leider nicht abgelesen werden.

Schon die Hochrechnung der in Österreich vorhandenen Schmerzambulanzen, basierend auf den wöchentlichen Gesamtarbeitsstunden (40 h = 1 Schmerzambulanz), auf 17,5 zeigt ein dramatisches Defizit, verzerrt jedoch die reale Situation. Mehrere Einrichtungen mit wenigen Wochenstunden ergeben nicht zusammen eine Schmerzambulanz, die nur annähernd geforderte Kriterien erfüllt. Es ist traurige Tatsache, dass in Österreich gerade eine multimodale Schmerztagesklinik besteht, die jedoch – zeitlich begrenzt – im Rahmen eines Reformpoolprojekts finanziert wird.

Hintergründe der Unterversorgung

Ein zentrales Problem ist, dass es bisher nie einen Top-down-Prozess für eine strukturierte Planung der Versorgung gegeben hat, der auch ausreichende gesundheitspolitische Unterstützung genossen hätte. Vorhandene Strukturen wie spezialisierte Schmerzambulanzen oder Akutschmerzdienste in Krankenhäusern basieren bisher in erster Linie auf dem persönlichen Engagement Einzelner. Aufgrund von mangelnden Zeit- und Personalressourcen drohen solche Strukturen allerdings derzeit immer mehr zusammenzubrechen. Laufend werden Schmerzambulanzen geschlossen und Leistungen reduziert. Dies ist umso leichter, da es ja in den überwiegenden Fällen nie einen gesundheitspolitischen Auftrag gegeben hat.

Eine Folge sind inakzeptable, lange Wartezeiten, aufgrund derer niedergelassene Kollegen eine Überweisung von Patienten, die von einer solchen Einrichtung profitieren würden, gar nicht erst ins Auge fassen.

Die Ordinationen im niedergelassenen Bereich können die entstehenden Engpässe nicht kompensieren: Zum einen ist die Zahl der niedergelassenen Kassenärzte im Verhältnis zur Bevölkerung rückläufig. Zum anderen sind die Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronischen Schmerzen zeitlich aufwendig. Dieser Aufwand wird von den Krankenkassen nicht annähernd abgegolten. Schmerztherapie ist de facto im Leistungskatalog der Krankenkassen für Allgemeinmediziner nicht abgebildet.

Daneben darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch erhebliche Defizite in der Ausbildung zur Schmerztherapie in Österreich bestehen. An keiner medizinischen Universität wird Schmerzmedizin nach dem Vorbild Deutschlands als Querschnittsfach [1] unterrichtet. Wenige Allgemeinmediziner haben das postgraduelle Ärztekammerdiplom „Spezielle Schmerztherapie“ absolviert. In Niederösterreich kommen beispielsweise über 22.000 Einwohner auf einen Allgemeinmediziner mit Schmerzdiplom (n = 72, Stand November 2014). Für die Patienten hat all das dramatische Konsequenzen. Im Durchschnitt werden 8 Ärzte pro Jahr von betroffenen Patienten konsultiert, und bis zur Diagnose einer chronischen Schmerzerkrankung dauert es im Schnitt 1,7 Jahre. Etwa 18 % der Patienten bekommen überhaupt nie eine Diagnose.

Es fehlt also eine strukturierte Schmerzversorgungspyramide, die eine sinnvoll abgestufte Versorgung vom Hausarzt über den spezialisierten Schmerzmediziner und die Schmerzambulanz bis zur bettenführenden Schmerzabteilung oder das spezialisierte Schmerz-Rehazentrum umfasst.

Lösungsansätze

Von „bottom up“ zu „top down“

Entscheidend wäre die strukturelle Verankerung der Schmerztherapie im Gesundheitssystem. In Zeiten von Ressourcenknappheit stehen Einzelinitiativen auf verlorenem Posten. Vorbild könnten andere europäische Länder sein. Italien hat mit seinem – bereits 2010 beschlossenen – Gesetz Nr. 38 („Legge 38“) die Grundlage für wesentliche strukturelle Verbesserungen in der schmerzmedizinischen Versorgung gelegt. Es räumt den Bürgern das Recht auf palliativ- und schmerzmedizinische Versorgung ein und verpflichtet die italienischen Regionen, flächendeckend schmerzmedizinische und palliativmedizinische Angebote zu etablieren.

Vorbildlich ist der Weg, den das belgische Gesundheitsministerium vor mehr als zweieinhalb Jahren eingeschlagen hat: 34 spezialisierte Einrichtungen, geografisch durch das gesamte Land verteilt und in Krankenhäusern angesiedelt, wurden im Zuge eines Akkreditierungsverfahrens als „multidisziplinäre Schmerzzentren“ anerkannt und qualifizierten sich damit für eine zusätzliche öffentliche Finanzierung. Ihre Aufgabe ist die Behandlung von chronischen und in bestimmten Fällen subakuten Schmerzen auf ambulanter und stationärer Basis. Als Voraussetzung für die Anerkennung waren zahlreiche Qualitäts- und Strukturkriterien zu erfüllen, darunter eine anspruchsvolle personelle Ausstattung mit Angehörigen unterschiedlicher medizinischer Fächer und nichtärztlicher Gesundheitsberufe, die zur multidisziplinären Schmerztherapie beitragen können – ein Beispiel für eine sehr gelungene Top-down-Planung in einem europäischen Land, das hinsichtlich Größe und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit mit Österreich durchaus vergleichbar ist.

Perspektiven in Österreich

Aktuell gibt es einen kleinen Hoffnungsschimmer aufgrund zweier parlamentarischer Initiativen der Grünen. Ein Antrag, nämlich der, in dem die Bundesministerin für Gesundheit ersucht wird, die Gesundheit Österreich GmbH (ÖBIG) mit der Grundlagenarbeit für Bundesqualitätsstandards zur Verbesserung der Versorgung von Schmerzpatienten in Österreich zu beauftragen, wurde einstimmig angenommen. Die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) wird noch im November mit Grundlagenarbeiten auf Basis des schon vor mehr als 7 Jahren vorgelegten Konzeptes der ÖSG und des im Juli 2015 veröffentlichten Deutschen Konsensus „Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen“ (http://www.dgss.org/presse-news/pressemeldungen) beginnen.

Der zweite Antrag zur Verbesserung der stationären Versorgung von Schmerzpatienten in Form von vermehrten Bettenkapazitäten und der Etablierung von Stationen in qualifizierten Schmerzzentren konnte keine Mehrheit erzielen. Das zeigt die klare Tendenz, dass alles, was unmittelbar Kosten verursacht, abgelehnt wird.

Es gibt aber erfreulicherweise auch immer noch Eigeninitiativen auf „Bottom-up-Basis“. Durch persönliches Engagement von Frau OÄ Dr. Janina Dieber konnte im Landeskrankenhaus Hartberg eine interdisziplinäre Schmerzambulanz inklusive Kooperation mit dem Ärztenetzwerk „styriamed.net“ der Region Hartberg/Fürstenfeld aufgebaut werden – ein beachtenswertes Beispiel für gelungene Zusammenarbeit über Ortsgrenzen hinweg zwischen mehr als 40 niedergelassenen Allgemein- und Fachmediziner/innen und einer Schmerzambulanz. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Befunderhebung durch Austausch der Patientendaten sowie eine ausgelagerte multimodale Therapie ist seit 3 Jahren erfolgreich und hat nun auch die Aufmerksamkeit der steirischen Ärztekammer gefunden. Zu Recht wurde dieses Projekt aktuell mit der „Goldenen Dolores“ ausgezeichnet, einem erstmals vergebenen Förderpreis der überparteilichen Plattform „Allianz Chronischer Schmerz“ (www.schmerz-allianz.at), zusammengesetzt aus 35 Selbsthilfegruppen.

Auch die Erhebung der Schmerzsituation von stationären Patienten in 2 österreichischen Krankenhäusern mit etablierter Schmerzversorgung kam zu einem mehr als respektablen Ergebnis und übertraf in der Effektivität vergleichbare internationale Daten [2].

Es ist also keineswegs notwendig, das Rad neu zu erfinden, wenn wir den vielen Menschen in Österreich, die an chronischen Schmerzen leiden, endlich eine bessere Versorgung anbieten wollen. Wir können auf intensive Vorarbeiten im Land und internationale Modelle aufbauen. Nun braucht es endlich den politischen Willen, dies auch umzusetzen.

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W. Jaksch