Zusammenfassung
Entscheidungen am Lebensende rechtzeitig zu thematisieren und eine Vorausverfügung festzulegen, beispielsweise im Rahmen von Advance Care Planning, kann Patientenautonomie bei medizinischen Entscheidungen ermöglichen, wenn Patient*innen nicht mehr einwilligungsfähig sind. Davon profitieren nicht nur Patient*innen, sondern auch ihre Angehörigen und die behandelnden Ärzt*innen. In der klinischen Realität finden entsprechende Gespräche dennoch häufig nicht statt.
In dieser Arbeit wird anhand einer prinzipienethisch geleiteten Analyse unter Einbezug eines Konzepts von personaler Autonomie nach Quante untersucht, ob die Initiierung bzw. das Führen eines Gespräches über Entscheidungen am Lebensende eine verbindliche Aufgabe von Ärzt*innen ist.
Im Ergebnis besteht eine prima facie Pflicht für Ärzt*innen, ihren Patient*innen mit einer eingeschränkten Lebenserwartung Gespräche über Entscheidungen am Lebensende anzubieten. Eine Verpflichtung zur tatsächlichen Durchführung dieser Gespräche wird durch die Patientenselbstbestimmung begrenzt. Mit Patient*innen, die angeben, über Entscheidungen am Lebensende nicht sprechen zu wollen, sollten die Verzichtsentscheidung gemeinsam kritisch reflektiert werden, Vertrauensangebote aufgegriffen und das Angebot zum Gespräch regelmäßig wiederholt werden.
Abstract
Background
Timely conversations about end-of-life decisions and advance care planning can enable autonomy for patients who lose capacity later on. The benefits of this have been shown for patients, their relatives and treating physicians. Yet, in the reality of clinical care these conversations often do not take place.
Methods
This paper uses a principle-based approach with special regard to the concept of personal autonomy by Quante to analyze whether physicians can be obliged to initiate or have conversations about end-of-life decisions.
Conclusions
A prima facie obligation can be found for physicians to offer conversations about end-of-life decisions to their patients with a reduced life expectancy. The obligation to effectively have this conversation is limited by the patients’ autonomy. The waiver of patients that do not wish to talk about the topic should be discussed and critically reflected upon with them. Furthermore, an environment of trust should be fostered and conversations should be offered repeatedly.
Notes
Eine weitere etablierte deutsche Übersetzung lautet „Behandlung im Voraus planen“ (in der Schmitten et al. 2016).
Beispielsweise im deutschsprachigen Raum durch die 2017 gegründete Fachgesellschaft „Deutsche interprofessionelle Vereinigung – Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) e. V.“.
Vergleiche u. a. die einschlägige Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2019) zu ACP.
Vgl. etwa Ferrell et al. (2017) für die Amerikanische Gesellschaft für Klinische Onkologie (ASCO).
Anders als der paradigmatische Pflichtbegriff Immanuel Kants können prima facie Pflichten bedingt sein, da sie mit dem Vorbehalt des ceteris paribus versehen sind. Sie müssen stets gegen andere prima facie Pflichten abgewogen werden, um die für die konkrete Situation tatsächliche Pflicht zu erkennen (Almond 2011).
So beispielsweise in einem online erschienenen Artikel der Ärzte-Zeitung zum „Bremer Symposium für Intensivmedizin und Intensivpflege“ vom 23. März 2018, http://www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/special-arzt-patient/?sid=960028, zugegriffen: 7. März 2021.
Im Gegenteil zeigt die klinische Erfahrung, dass Patient*innen aufgrund ihrer Möglichkeit zur Verdrängungsleistung in der Lage sind, in ihrem Sinne „unerwünschte“ Informationen zu filtern.
Auf die Begrenzung der Gruppe von Patient*innen, denen ein Gespräch angeboten werden sollte, wird unter dem Aspekt der Gerechtigkeit noch genauer eingegangen werden.
Vgl. hierzu auch die Empfehlungen der Bundesärztekammer (2013).
Die Abwägung, inwieweit hier die Autonomie der Ärzt*innen begrenzend sein kann, ist eng mit dem ärztlichen Rollenverständnis verknüpft und kann an dieser Stelle nicht im Detail diskutiert werden. Eine Bevorzugung der ärztlichen Autonomie über das Wohl der Patient*innen lässt sich aus der spezifischen ärztlichen Verantwortungsübernahme jedoch nur schwerlich ableiten.
Zumindest sollten Ärzt*innen Sorge dafür tragen, dass ihre Patient*innen ein solches Gespräch mit einer entsprechend ausgebildeten Person führen können. Dies kann neben einem persönlichen Gespräch die Delegation z. B. an ACP-Gesprächsbegleiter*innen oder Psychoonkolog*innen umfassen.
D. h. nicht nur mit der in diesem Fall behandelnden Person und nicht nur im aktuellen Setting.
Selbstverständlich sollte grundsätzlich auch die Entscheidung, Gespräche über EOLD führen zu wollen, im Falle ernsthafter Zweifel auf ihren Autonomiegehalt überprüft werden, z. B. wenn eine Patientin glaubt, sie sei aus rechtlichen Gründen verpflichtet, eine Patientenverfügung zu erstellen. Ein solches Szenario spielt im klinischen Alltag jedoch eine weit geringere Rolle als die im Fokus dieser Untersuchung stehende Situation.
Bei Fokussierung auf die Belastung Dritter drohte neben einer unzulässigen Missachtung der Wünsche der Patient*innen auch die Gefahr, dass Ärzt*innen wiederum eigene Belastungen durch nicht geklärte Patientenwünsche in die Abwägung mit aufnähmen und primär aus diesem Grund auf Gespräche über EOLD drängen würden.
Dieses Argument unterschiede sich wesentlich von dem davor als unplausibel zurückgewiesenen Verweis auf mögliche Schadensvermeidung für Dritte, da hierbei explizit auf ein für den Patienten/die Patientin wichtiges Gut abgehoben wird.
Ein „Zwang“ zu Gesprächen über EOLD stünde auch im Widerspruch zu Quantes Wertung der bewussten Delegation von Entscheidungen als autonomiebewahrende Maßnahme und eines legitimen lokalen Verzichts auf autonomes Handeln.
Angesichts der Arbeitsteilung im Gesundheitswesen kann es sinnvoll sein, das personale Vertrauen in das individuelle Gegenüber durch ein institutionelles Verlassen auf Instrumente der Vorsorge wie eine Patientenverfügung zu ergänzen (Steinfath 2016).
Literatur
Ach JS, Schöne-Seifert B (2013) Relationale Autonomie. Eine kritische Analyse. In: Wiesemann C, Simon A (Hrsg) Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen, praktische Anwendungen. Mentis, Münster, S 42–57
Almond B (2011) Pflicht. In: Düwell M, Hübenthal C (Hrsg) Handbuch Ethik, 3. Aufl. Metzler, Stuttgart, S 464–474
Anderson J (2013) Relationale Autonomie 2.0. In: Wiesemann C, Simon A (Hrsg) Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen, praktische Anwendungen. Münster, Mentis, S 61–75
Back AL et al (2006) Discussing prognosis. „how much do you want to know?“ talking to patients who do not want information or who are ambivalent. J Clin Oncol 24(25):4214–4217. https://doi.org/10.1200/JCO.2006.06.008
Beauchamp T, Childress J (2019) Principles of biomedical ethics, 8. Aufl. Oxford University Press, New York
Brom L et al (2014) Patients’ preferences for participation in treatment decision-making at the end of life. Qualitative interviews with advanced cancer patients. Plos One 9(6):e100435. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0100435
Bundesärztekammer (2013) Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. Dtsch Arztebl 110(33–34):1580–1585
Butow PN et al (1997) The dynamics of change. Cancer patients’ preferences for information, involvement and support. Ann Oncol 8(9):857–863
Christakis NA (2000) Extent and determinants of error in doctors’ prognoses in terminally ill patients. Prospective cohort study commentary: why do doctors overestimate? BMJ 320(7233):469–473. https://doi.org/10.1136/bmj.320.7233.469
Curtis JR et al (2013) Effect of communication skills training for residents and nurse practitioners on quality of communication with patients with serious illness. JAMA 310(21):2271–2281. https://doi.org/10.1001/jama.2013.282081
Detering KM et al (2010) The impact of advance care planning on end of life care in elderly patients. Randomised controlled trial. BMJ 340:c1345. https://doi.org/10.1136/bmj.c1345
Dyar S et al (2012) A nurse practitioner directed intervention improves the quality of life of patients with metastatic cancer. Results of a randomized pilot study. J Palliat Med 15(8):890–895. https://doi.org/10.1089/jpm.2012.0014
Enzinger A et al (2015) Outcomes of prognostic disclosure: associations with prognostic understanding, distress, and relationship with physician among patients with advanced cancer. J Clin Oncol 33(32):3809–3816. https://doi.org/10.1200/JCO.2015.61.9239
Fenton J et al (2018) Impact of prognostic discussions on the patient-physician relationship: prospective cohort study. J Clin Oncol 36(3):225–230. https://doi.org/10.1200/JCO.2017.75.6288
Ferrell BR et al (2017) Integration of palliative care into standard oncology care: American society of clinical oncology clinical practice guideline update. J Clin Oncol 35(1):96–112. https://doi.org/10.1200/JCO.2016.70.1474
Fries H (2020) Gibt es eine ärztliche Verpflichtung zu Gesprächen über Entscheidungen am Lebensende? Eine medizinethische Analyse. Philipps-Universität, Marburg. https://doi.org/10.17192/z2020.0451 (Dissertation)
Gordon E et al (2003) “Hitting you over the head”. Oncologists’ disclosure of prognosis to advanced cancer patients. Bioethics 17(2):142–168. https://doi.org/10.1111/1467-8519.00330
Johnson S et al (2018) A randomised controlled trial of an advance care planning intervention for patients with incurable cancer. Br J Cancer 119(10):1182–1190. https://doi.org/10.1038/s41416-018-0303-7
Keating N et al (2010) Cancer patients’ roles in treatment decisions. Do characteristics of the decision in-fluence roles? J Clin Oncol 28(28):4364–4370. https://doi.org/10.1200/JCO.2009.26.8870
Krones T et al (2019) Advance care planning for the severely ill in the hospital: a randomized trial. BMJ Support Palliat Care. https://doi.org/10.1136/bmjspcare-2017-001489
Mack JW et al (2012) Reasons why physicians do not have discussions about poor prognosis, why it matters, and what can be improved. J Clin Oncol 30(22):2715–2717. https://doi.org/10.7326/0003-4819-156-3-201202070-00008
Owusu Boakye S et al (2016) Selbstbestimmung braucht Vertrauen – Entscheidungsfindung am Lebensende. In: Steinfath H, Wiesemann C (Hrsg) Autonomie und Vertrauen. Schlüsselbegriffe der modernen Medizin, 1. Aufl. Springer, Wiesbaden, S 101–132
Panagopoulou E et al (2008) Concealment of information in clinical practice. Is lying less stressful than telling the truth? J Clin Oncol 26(7):1175–1177. https://doi.org/10.1200/JCO.2007.12.8751
Quante M (2002) Personales Leben und menschlicher Tod, 1. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Quante M (2010) Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften. Blaue Reihe Philosophie. Meiner, Hamburg
Quill TE (2000) Perspectives on care at the close of life. Initiating end-of-life discussions with seriously ill patients: addressing the “elephant in the room”. JAMA 284(19):2502–2507. https://doi.org/10.1001/jama.284.19.2502
Ross WD (2009) The right and the good. Clarendon Press, Oxford (Erstausgabe 1930)
Schildmann J et al (2013) “One also needs a bit of trust in the doctor … ”: a qualitative interview study with pancreatic cancer patients about their perceptions and views on information and treatment decision-making. Ann Oncol 24(9):2444–2449. https://doi.org/10.1093/annonc/mdt193
in der Schmitten J, Nauck F, Marckmann G (2016) Behandlung im Voraus planen (Advance Care Planning). Ein neues Konzept zur Realisierung wirksamer Patientenverfügungen. Palliativmedizin 17(04):177–195. https://doi.org/10.1055/s-0042-110711
Schöne-Seifert B (2007) Grundlagen der Medizinethik. Kröner, Stuttgart
Schubart JR et al (2019) Advance care planning among patients with advanced cancer. J Oncol Pract 15(1):e65–e73. https://doi.org/10.1200/JOP.18.00044
Seifart C et al (2020a) Barrieren für Gespräche über Tod und Sterben in der Medizin. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 55(05):334–339. https://doi.org/10.1055/a-1002-8080
Seifart C et al (2020b) Let us talk about death: gender effects in cancer patients’ preferences for end-of-life discussions. Support Care Cancer 28(10):4667–4675. https://doi.org/10.1007/s00520-019-05275-1
Simon A, Nauck F (2013) Patientenautonomie in der klinischen Praxis. In: Wiesemann C, Simon A (Hrsg) Patientenautonomie. Theoretische Grundlagen, praktische Anwendungen. Mentis, Münster
Smith T et al (2010) Giving honest information to patients with advanced cancer maintains hope. Oncol (Willist Park) 24(6):521–525
Stein R et al (2013) Randomized controlled trial of a structured intervention to facilitate end-of-life decision making in patients with advanced cancer. J Clin Oncol 31(27):3403–3410. https://doi.org/10.1200/JCO.2011.40.8872
Steinfath H (2016) Das Wechselspiel von Autonomie und Vertrauen – eine philosophische Einführung. In: Steinfath H, Wiesemann C (Hrsg) Autonomie und Vertrauen. Schlüsselbegriffe der modernen Medizin, 1. Aufl. Springer, Wiesbaden, S 11–68
Tanco K et al (2015) Patient perception of physician compassion after a more optimistic vs a less optimistic message: a randomized clinical trial. JAMA Oncol 1(2):176–183. https://doi.org/10.1001/jamaon-col.2014.297
Temel J et al (2017) Effects of early integrated palliative care in patients with lung and GI cancer. A randomized clinical trial. J Clin Oncol 35(8):834–841. https://doi.org/10.1200/JCO.2016.70.5046
Weeks J et al (2012) Patients’ expectations about effects of chemotherapy for advanced cancer. N Engl J Med 367(17):1616–1625. https://doi.org/10.1056/NEJMoa1204410
Wiesemann C (2016) Vertrauen als moralische Praxis – Bedeutung für Medizin und Ethik. In: Steinfath H, Wiesemann C (Hrsg) Autonomie und Vertrauen. Schlüsselbegriffe der modernen Medizin, 1. Aufl. Springer, Wiesbaden, S 69–99
Wright A et al (2008) Associations between end-of-life discussions, patient mental health, medical care near death, and care-giver bereavement adjustment. JAMA 300(14):1665–1673. https://doi.org/10.1001/jama.300.14.1665
Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2019) Advance Care Planning. Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer. Dtsch Arztebl 116(50):2372. https://doi.org/10.3238/arztebl.2019.zeko_sn_acp_01
Zhang B et al (2009) Health care costs in the last week of life: associations with end-of-life conversations. Arch Intern Med 169(5):480–488. https://doi.org/10.1001/archinternmed.2008.587
Danksagung
Dieser Text basiert auf einer Promotionsarbeit, die am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg, finanziell unterstützt durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, durchgeführt wurde. Der Autor bedankt sich insbesondere bei PD Dr. Carola Seifart, Ethikkommission des Fachbereichs Medizin der Philipps-Universität Marburg, für ihre unermüdliche Betreuung des Forschungsprojekts und der Arbeit.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Ethics declarations
Interessenkonflikt
H. Fries gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Ethische Standards
Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Additional information
Der vorliegende Text wurde mit dem Nachwuchspreis 2021 der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. ausgezeichnet. Er basiert auf einer Promotionsarbeit, die vom Autor am Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg unter Betreuung von PD Dr. C. Seifart durchgeführt wurde (Fries 2020).
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Fries, H. Dem Tod ins Gesicht schauen – müssen wir Gespräche über Entscheidungen am Lebensende führen?. Ethik Med 34, 177–193 (2022). https://doi.org/10.1007/s00481-021-00679-2
Received:
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00481-021-00679-2