Wohl keine medizinische Disziplin hat in den vergangenen 100 Jahren so intensive Veränderungen erfahren wie die Kinder- und Jugendmedizin. Noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war unser Fach primär von Problemen der Säuglings- und Kinderernährung sowie der Infektionskontrolle dominiert. So belegt der Langstein-Rott-Atlas für das Jahr 1913, dass die Säuglingssterblichkeit mit 167 Fällen/1000 Einjährige damals doppelt so hoch war wie die der 70- bis 80-Jährigen [1]. Die folgenden Jahrzehnte waren bestimmt durch ein wachsendes Verständnis einer ausgewogenen Ernährung, die Kontrolle von Infektionskrankheiten durch Impfungen und später auch Antibiotika und seit den 1950er-Jahren besonders durch die Entwicklung der spezialisierten Neugeborenenmedizin, aus der letztlich die Neonatologie entstand. Die Effekte des Fortschritts in der Kinder- und Jugendmedizin für das öffentliche Gesundheitswesen waren beeindruckend. Insbesondere durch Verbesserung der pädiatrischen Versorgung in den ersten 5 Lebensjahren konnte die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland um mehr als 3 Jahrzehnte gesteigert werden.

In der 2. Hälfte des 20. Jh. lag der Schwerpunkt der pädiatrischen Forschung auf der Untersuchung der Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von seltenen Erkrankungen. Etwa 8000 seltene Erkrankungen manifestieren sich primär im Kindes- und Jugendalter. Die Fortschritte auf den Gebieten Immunologie, Genetik, molekularer Medizin und nichtinvasiver bildgebender Untersuchungen haben das Fundament gelegt, für eine hochmoderne innovative Pädiatrie, der es gelungen ist, die Ursachen vieler Krankheiten zu entschlüsseln und, darauf aufbauend, therapeutische Konzepte zu entwickeln.

Pädiatrische Versorgungsstrukturen in Deutschland und Österreich

Die akademische Entwicklung der Kinder- und Jugendmedizin hat in hohem Maß den Aufbau pädiatrischer Versorgungsstrukturen in Deutschland geprägt. Neben einer wachsenden Zahl an kommunalen und universitären Kinderkliniken entstand insbesondere nach 1950 ein umfassendes Netz an ambulant tätigen Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte. Waren im Jahr 1955 in Deutschland gerade einmal 1500 primär in Kinderkliniken tätige Kinderärzte registriert, so waren im Jahr 2017 mehr als 16.000 Pädiaterinnen (knapp 60 %) und Pädiater als Mitglieder bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) angemeldet. Etwa die Hälfte dieser Ärzte und Ärztinnen ist heute bevorzugt in der ambulanten pädiatrischen Versorgung tätig.

Die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen steht in Deutschland und Österreich heute auf 2 Säulen. Dies sind zum einen die stationären Versorgungseinrichtungen, die sich bevorzugt um schwer kranke Kinder („secondary care“) und in hochspezialisierten Zentren („tertiary care“) um komplexe, insbesondere auch seltene Erkrankungen kümmern. Zum anderen übernimmt die ambulante Grundversorgung („primary care“) die wesentlichen Aufgaben in der Begleitung der Entwicklung des Kindes, der Prävention und der psychosozialen Betreuung der Familien.

Nach aktuellem Selbstverständnis erfüllt die ambulante Pädiatrie in diesem Kontext einen eigenständigen Versorgungsauftrag, der sich deutlich von dem der stationären Versorgung unterscheidet:

Ärztinnen und Ärzte in der pädiatrischen Grundversorgung sind die erste Anlaufstelle für alle medizinischen und psychosozialen Probleme von Kindern und Jugendlichen. Das setzt besondere Kompetenzen voraus, um den Patienten-Arzt-Kontakt für beide Seiten zufriedenstellend zu gestalten. Ärztinnen und Ärzte in der pädiatrischen Grundversorgung begleiten die Patienten häufig über lange Zeiträume, sei es während der normalen kindlichen und pubertären Entwicklung, sei es bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, und immer sind sie auch mit dem familiären und sozialen Umfeld ihrer Patienten befasst. (Fegeler et al. [2])

Zukünftige Herausforderungen

Gesellschaftliche Veränderungen und auch medizinische Entwicklungen stellen gegenwärtig die etablierten ambulanten Versorgungssysteme für Kinder- und Jugendliche vor enorme Herausforderungen. Die zunehmende Ökonomisierung der medizinischen Versorgung generell, insbesondere aber die anhaltend unzureichende Bewertung des erhöhten Betreuungsbedarfes von Kindern mit ihren Familien gefährden die wirtschaftliche Solidität kinderärztlicher Versorgung in Klinik und Praxis. Einzel‑, Gemeinschaftspraxen, medizinische Versorgungszentren und Ärztehäuser existieren bzw. entstehen nebeneinander, ohne dass sich eine übergeordnete, vorausschauende Strukturplanung erkennen lässt. Unverändert stellt die sektorale Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung ein Hindernis für die Entwicklung ganzheitlicher medizinischer Versorgungskonzepte für Kinder und Jugendliche dar. Dies gilt in besonderem Maß für Patienten mit komplexen Krankheiten. Wirtschaftliche Aspekte, aber auch gesellschaftliche Wertegefüge begünstigen in einigen Bereichen ein Überangebot an kinderärztlicher Versorgung in urbanen Zentren, während ländliche Regionen nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr durch Kinderärzte und -ärztinnen betreut werden können.

Ambulante pädiatrische Grundversorgung steht am Scheideweg

Die ambulante pädiatrische Grundversorgung steht an einem Scheideweg. Kann und will unser Gesundheitssystem auch zukünftig ein primär durch Kinder- und Jugendärzte getragenes Versorgungskonzept aufrechterhalten? Oder werden wir, wie in einigen europäischen Länder schon etabliert, die Grundversorgung zukünftig im Schulterschluss mit anderen Fachdisziplinen sicherstellen? Diese und viele weiteren Fragen berühren die Pädiatrie im ambulanten und im stationären Bereich, aber auch unseren Anspruch an eine kompetente primäre kinderärztliche Versorgung in ihren Grundfesten. Eine berufsgruppenübergreifende Diskussion scheint dringend geboten. Wir haben dies zum Anlass genommen, die Perspektiven der ambulanten pädiatrischen Versorgung in Deutschland und Österreich in den Mittelpunkt dieser Ausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde zu stellen.

Karl-Josef Eßer, von 2012 bis 2017 erster Generalsekretär der DGKJ, benennt in seinem Beitrag Hürden und Fallstricke für die zukünftige Sicherstellung einer flächendeckenden ambulanten pädiatrischen Versorgung in Deutschland. Die Überwindung sektoraler Grenzen ist eine wichtige Voraussetzung für eine wirksame Vernetzung von stationären und ambulanten Versorgungsstrukturen. Dabei müssen berufspolitische Interessen berücksichtigt sowie das Fach Kinder- und Jugendmedizin für den ärztlichen Nachwuchs attraktiv gestaltet werden. Eine gemeinsame Bedarfsplanung, die sich auch an der demografischen Entwicklung in unserem Land orientiert, wäre dringend geboten. Gesellschaftliche Werteveränderungen, z. B. hinsichtlich Arbeitsverständnis, Berücksichtigung einer „work-life balance“, sowie auch grundsätzliche Fragen der Lebensgestaltung und Erwartungen zukünftiger Generationen spielen eine wichtige Rolle. Schließlich gilt es, das nicht durchweg kraftvoll entwickelte Engagement der Gesundheitspolitik für die pädiatrische Versorgung von Kindern und Jugendlichen einzufordern und zu stärken.

Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, greift, gemeinsam mit den Koautoren Fehr und Fegeler, die genannten Problemfelder auf und beschreibt die zukünftige Entwicklung der flächendeckenden ambulanten pädiatrischen Versorgung in Deutschland aus der Perspektive des berufsständischen Werks. Der heute erreichte hohe Standard der ambulanten Grundversorgung kann nur erhalten und weiterentwickelt werden, wenn es gelingt, die vorhandenen Strukturen besser und schneller an die sich stetig verändernden medizinischen Herausforderungen (Stichwort „neue Morbiditäten“) und demografischen Bedingungen anzupassen. Hier sehen die Autoren zudem dringenden Handlungsbedarf für die Gesundheitspolitik. Weitere Themen des Beitrags betreffen die Förderung des pädiatrischen Nachwuchses gerade im Hinblick auf die Attraktivität einer ärztlichen Tätigkeit in der ambulanten Grundversorgung sowie die bessere Vernetzung von ambulanter und stationärer Pädiatrie.

Der Beitrag von Wieland Kiess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche in Leipzig, widmet sich dem essenziellen Thema der Qualitätssicherung in der ambulanten pädiatrischen Versorgung. Früherkennungsuntersuchungen sind ein Grundpfeiler der frühen Prävention und stellen ein zentrales Element der pädiatrischen Grundversorgung dar. Die kontinuierliche Begleitung der körperlichen und der psychosozialen Entwicklung von Kindern bis ins Erwachsenenalter wird nahezu ausschließlich durch Kinder- und Jugendärzte oder Kinder- und Jugendärztinnen getragen. Damit dieses exzellente Konzept individuell und auch bevölkerungsbezogen seine Wirksamkeit entfalten kann, sind qualitätssichernde Maßnahmen unumgänglich. Ähnlich wie in der stationären Versorgung schon seit Jahren etabliert, muss auch in der ambulanten Grundversorgung sichergestellt werden, dass Methodik, Umfang, Inanspruchnahme und Zugang für alle Kinder und Jugendlichen mit ihren Familien qualitativ vergleichbar und gleichermaßen möglich sind. Kiess illustriert anhand von Ergebnissen aus der Versorgungsforschung Schwachstellen in der aktuellen Praxis. Auf Basis einer eindeutigeren Festlegung, welche medizinischen, sozialen und ethischen Ziele erreicht werden sollen, erläutert der Autor ein umfangreiches Repertoire an qualitätssichernden Maßnahmen für die ambulante Pädiatrie der Zukunft.

Eine besondere Freude ist es, dass unser Mitherausgeber Reinhold Kerbl es gemeinsam mit Peter Voitl übernommen hat, für das aktuelle Leitthema die Situation der ambulanten pädiatrischen Versorgung in Österreich darzulegen. Wie in Deutschland ist in Österreich die zukünftige Entwicklung der ambulanten pädiatrischen Versorgung unklar. Bisher wird die Versorgung durch ein duales Prinzip gewährleistet, das in Ballungszentren bevorzugt von Fachärztinnen und -ärzten für Kinder- und Jugendheilkunde und im ländlichen Bereich primär von Fachärztinnen und -ärzten für Allgemeinmedizin mit nur 3‑monatiger pädiatrischer Fachausbildung getragen wird. Während aktuell niedergelassene Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte bevorzugt in Einzelpraxen arbeiten, scheint dieses Modell auch in Österreich wenig Zukunft zu haben. Zudem wurde 2017 durch ein neues „Primärversorgungsgesetz“ die Einrichtung von „Primärversorgungszentren“ (primary healthcare center, PHC) auf den Weg gebracht, in denen ein Team „um den Allgemeinmediziner herum“ aufgebaut werden soll. Verschiedene Versorgungsmodelle mit Einzelpraxen, Einzelpraxen im Verbund, Gruppenpraxen, pädiatrischen PHC, „Satellitenniederlassungen“ und Exposituren von Kinder- und Jugendabteilungen existieren derzeit nebeneinander, ohne dass es – vergleichbar mit Deutschland – eine klare gesundheitspolitische Strategie für Kinder- und Jugendmedizin gibt. Der Beitrag von Kerbl ist für uns außerordentlich lehrreich, zeigt er doch deutlich die Risiken einer unzureichenden gesundheitspolitischen Strukturplanung auf.

Der 5. Beitrag unseres Leitthemas befasst sich mit der Situation der ambulanten pädiatrischen Versorgung in Europa. Martin Weber, bei der World Health Organization (WHO) in Kopenhagen verantwortlich für „child and adolescent health and development in Europe“, rundet mit seinem Beitrag die Diskussion ab. Tatsächlich existieren in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedliche Versorgungsmodelle der Primärversorgung von Kindern und Jugendlichen sehr unterschiedliche Versorgungsmodelle. In den meisten Ländern wird die ambulante Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen durch Pädiater oder gemeinsam durch Haus- und Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte übernommen. Der Beitrag stellt die deutschen Verhältnisse in Bezug zu denen in anderen europäischen Ländern. Studien der WHO geben Hinweise auf wesentliche Indikatoren der Kinder- und Jugendgesundheit in Europa. Für die nahe Zukunft werden die Ergebnisse einer vergleichenden Studie zu Qualität und Effektivität unterschiedlicher Primärversorgungsmodelle erwartet. Solche Untersuchungen sind wichtig, um Strukturdiskussionen in Deutschland und anderen Ländern zukünftig auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen.

Liebe Leserinnen und Leser, wir haben das Leitthema der Februar-Ausgabe der Monatsschrift Kinderheilkunde der zukünftigen Entwicklung von ambulanten pädiatrischen Primärversorgungsstrukturen gewidmet. Wir haben dies in der Hoffnung getan, dass die hochrelevanten Beiträge für Sie eine wichtige Informationsquelle und ggf. Orientierungshilfe darstellen. Darüber hinaus wollen wir damit aber auch einen Anstoß geben, für die dringend notwendigen gesundheitspolitischen Diskussionen und Entscheidungen in Deutschland und Österreich.

Ihre

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Fred Zepp und

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Ingeborg Krägeloh-Mann