Zusammenfassung
Bei durchschnittlich 50–80 % der intensivmedizinisch behandelten Patienten kommt es zu einer Beeinträchtigung der neuromuskulären Funktionen durch Schädigungen der Nerven und der Muskulatur, was zu den Bezeichnungen Critical-illness-Polyneuropathie und -Myopathie geführt hat. Beide Komponenten treten bei 30–50 % der Betroffenen kombiniert auf, beim Rest überwiegt die isolierte Myopathie, während die isolierte Neuropathie selten vorkommt. Mittlerweile wird der deskriptive Begriff der „intensive care unit-acquired weakness“ (ICUAW) bevorzugt. Bedeutendster Risikofaktor für die Entwicklung einer ICUAW sind Sepsis, Multiorgandysfunktion und ein „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS). Bei mindestens einem Drittel der Patienten bestehen am Ende des Intensivstationsaufenthalts noch bleibende Störungen wie Lähmungen, Sensibilitätsstörungen und Gleichgewichtsprobleme. Bei etwa 10 % persistieren diese beinbetonten und stark alltagsrelevanten Störungen über das erste Jahr nach ICU-Therapie hinaus. Die reine Myopathie führt selten zu Residuen, während die neuropathische Komponente für die Langzeitbeeinträchtigungen verantwortlich ist.
Abstract
An average of 50–80% of patients treated in the intensive care unit is affected by disturbances of neuromuscular functions due to damage to the nerves and muscles, which has led to the terms critical illness polyneuropathy and myopathy. Both components occur in 30–50% of patients, while the others predominantly show a pure myopathy, while pure neuropathy is rare. Meanwhile, the descriptive term of the concept as intensive care unit-acquired weakness (ICUAW) is preferred. The most significant risk factors for the development of ICUAW are sepsis, multiorgan dysfunction and acute respiratory distress syndrome (ARDS). In at least one third of patients, persistent impairment by paralysis, sensory disturbances and balance problems persist when they leave the ICU. At approximately 10%, these leg-accentuated and highly everyday relevant disorders persist over the first year after ICU therapy. Pure myopathy rarely leads to residual disturbances, while the neuropathic component is responsible for long-term impairments.
Unter den anhaltenden Folgen intensivmedizinscher Behandlungen wirken sich eine Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) und/oder -Myopathie (CIM) besonders alltagsbeeinträchtigend aus. Die Prävalenz der CIP und CIM beträgt im Durchschnitt – je nach Intensivstationskollektiv – 30–80 %. Die Prognose ist selbst bei schweren Verläufen potenziell gut, die Rückbildung der Symptome aber oft langwierig. Das mit der Erkrankung häufig einhergehende „Weaningversagen“ führt zu längerer Beatmung und längeren Liegezeiten. Die Diagnose einer CIP-CIM ist von sozialmedizinischer Relevanz, da sie eine Indikation zur Durchführung einer neurologischen Rehabilitation der Phase B über längere Zeiträume darstellt.
Die Prognose der Critical-illness-Polyneuropathie ist selbst bei schweren Verläufen potenziell gut
Je nach Ausstattung der Rehabilitationseinrichtung kann dort auch das Weaning von tracheotomierten und noch beatmeten Patienten fortgesetzt werden und die kritisch Kranken können somit relativ früh aus der Akutstation verlegt werden. Bei etwa 10 % der Intensivpatienten resultieren über das erste Jahr hinaus anhaltende muskuläre Störungen der Atmung, Gangstörungen und schmerzhafte neuropathische Missempfindungen. Da außer symptomorientierten Maßnahmen bzw. rehabilitativer Physio- und Ergotherapie keine kausalen Behandlungsmöglichkeiten bestehen, steht die Vermeidung bzw. Behandlung von Risikofaktoren während des ICU-Aufenthalts an erster Stelle.
Geschichte des Krankheitskonzepts und Terminologie
Bereits im 19. Jahrhundert wurden beispielsweise von William Osler im Jahr 1892 neuromuskuläre Defizite nach septischen Erkrankungen beschrieben („rapid loss of flesh“, [48]) und bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts häuften sich Einzelfallberichte über das Auftreten von Muskelschwächen nach schweren systemischen Erkrankungen. Differenziertere Beschreibungen des Syndroms entstanden nach der Verbreitung der Beatmungstechnologie und Intensivmedizin um und nach 1960 [18, 47]. Die in der Folge immer häufiger beobachtbaren neuromuskulären Defizite bei intensivmedizinisch behandelten komatösen Patienten führten u. a. durch den deutschen Neurologen und Intensivmediziner Hans Georg Mertens zur Bezeichnung „Komapolyneuropathie“ [43]. Die Arbeitsgruppe um den kanadischen Neurologen Charles Bolton publizierte in den 1980er-Jahren weitere systematische Untersuchungen des Syndroms, das als „critical illness polyneuropathy“ bezeichnet wurde, und wies insbesondere auf den kausalen Zusammenhang mit einer Sepsis hin [11]. In der Weiterentwicklung konnten unterschiedlichste Arbeitsgruppen zeigen, dass die „Critical-illness-Konstellation“ nicht nur mit einer neuronalen (CIP), sondern häufiger auch mit einer myopathischen (CIM) Schädigung einherging [34]. Um die oft schwer unterscheidbare und kombiniert auftretende neuronale und myopathische Komponente mit einem Begriff für das Syndrom zu erfassen, wurde im angloamerikanischen Sprachraum die Bezeichnung „intensiv care unit-acquired weakness“ (ICUAW) eingeführt. Ein weiterer Terminus ist die sog. Critical-illness-Polyneuromyopathie (CIPNM). Mittlerweile ist die ICUAW eine anerkannte und häufige Komplikation schwerer Erkrankungen unter intensivmedizinscher Therapie. In der folgenden Übersicht wird für das Syndrom der Terminus ICUAW verwendet.
Definition
Unter der CIP und CIM versteht man 2 ätiologische Facetten einer generalisierten Muskelschwäche einschließlich der Atemmuskeln, die sich im Zusammenhang mit schweren, meist intensivmedizinisch behandlungspflichtigen Erkrankungen entwickeln und zu Spätfolgen führen. Auffällig wird die Erkrankung oft durch eine verzögerte Entwöhnung vom Respirator. Als führende neuromuskuläre Schädigungsursache wird die Inflammation bei septischem Geschehen angesehen; es bestehen jedoch Interaktionen der multifaktoriellen Risikofaktoren, die im intensivmedizinischen Kontext wirksam werden.
Epidemiologie
Die Prävalenz der ICUAW, die über alle Intensivpatienten hinweg mit etwa 50 % angegeben wird, ist abhängig von der Art, Schwere und Dauer der intensivmedizinisch behandlungspflichtigen Erkrankung und deren Behandlungscharakteristika sowie von der Sensitivität der eingesetzten Diagnostik (rein klinisch vs. neurophysiologisch). Je nach untersuchtem Kollektiv variiert die Prävalenz zwischen 25 und fast 100 % [16, 57]. Bei Patienten mit einer Beatmungsdauer von 5–7 Tagen traten Muskelschwächen bereits bei 26–65 % der Patienten auf, bei länger beatmeten Patienten (>10 Tage) wurde sie bei 2 Dritteln diagnostiziert. Selbst bei Patienten mit kurzer Beatmungsdauer von 24 h fanden sich bereits bei 11 % klinische Zeichen einer ICUAW [45]. Bei Patienten mit „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS) lag die ICUAW-Prävalenz nach Beendigung der Sedierung bei etwa 60 % und betrug 36 % bei Krankenhausentlassung [6, 19, 40]. Die höchsten Prävalenzen finden sich bei Sepsis mit etwa 70 % und bei zusätzlicher Multiorgandysfunktion mit bis zu 100 % [62].
Die höchsten Prävalenzen finden sich bei Sepsis mit etwa 70 %
Ältere Patienten und Frauen sind häufiger von einer ICUAW betroffen (siehe Risikofaktoren). Die Erkrankung geht mit einer erhöhten – zum Teil fast verdoppelten – mittelfristigen Sterblichkeit einher und führt bei einem Drittel der Patienten zu längerfristigen motorischen Defiziten. Da das Auftreten einer ICUAW auch einen Surrogatparameter der Schwere der Erkrankung und ihrer intensivmedizinischen Behandlungsintensität darstellt, ist es statistisch schwierig, ihren „exklusiven“ Anteil an einer schlechteren Prognose durch Adjustierung der entsprechenden Parameter herauszurechnen.
Risikofaktoren
In mehreren Studien wurde konsistent ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung einer ICUAW und einer Sepsis bzw. einem „systemic inflammatory response syndrome“ (SIRS) sowie einer Multiorgandysfunktion gezeigt [16]. Als weiterer Risikofaktor wurden Hyperglykämien identifiziert [28, 31] und mit einer Odds Ratio (OR) von 2,6 (95 %-Konfidenzintervall [95 %-KI]: 1,6–4,2) war eine „konventionelle“ gegenüber einer „strengen“ Glukosekontrolle mit einem höheren ICUAW-Risiko verbunden. Gesicherte Zusammenhänge bestehen auch mit einer Hyperosmolarität, einer parenteralen Ernährung sowie dem Einsatz von Vasopressoren und Aminoglykosiden [22, 45, 60]. Weitere nicht voneinander unabhängige Risikofaktoren sind die Dauer der Beatmung, des Intensivstationsaufenthalts und der Immobilität [16]. Auch der mit einem höheren Lebensalter vergesellschaftete Muskelabbau („frailty“) wirkt als Risikofaktor [26, 32].
Widersprüchlich bzw. uneindeutig ist die Datenlage bezüglich einer unabhängigen Begünstigung der ICUAW durch Kortikosteroide [16, 58], die Durchführung von Nierenersatzverfahren [59] und den Einsatz von Muskelrelaxanzien [58]. Unklar sind bei den erwähnten Faktoren Dosis- bzw. Expositions-Wirkungs-Beziehungen und Fragen eines begünstigenden und vulnerablen Zeitfensters während der Intensivbehandlung [27].
Frauen sind etwa 4‑fach häufiger betroffen, wobei unklar ist, ob dies allein an der geringeren Muskelmasse liegt [16]. Die in Infobox 1 zusammengestellten (potenziellen) Risikofaktoren sind nicht unabhängig voneinander, sondern sind jeweils Ausdruck der Schwere einer intensivmedizinischen Erkrankung.
Infobox 1 Risikofaktoren für die Entwicklung einer „intensive care unit-acquired weakness“ (ICUAW)
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Sepsis und „systemic inflammatory response syndrome“ (SIRS)
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Erkrankungsschwere und Therapieintensität („acute physiology and chronic health evaluation“, APACHE)
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Künstliche Beatmung
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Multiorganversagen
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Dauer des Intensivaufenthalts
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Nierenversagen und Nierenersatztherapie
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Medikamente/Therapien: Aminoglykoside, nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien, Kortikosteroide, Vasopressoren, Katecholamine
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Hypogonadismus bei Männern
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Hyperkatabolismus
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Parenterale Ernährung bzw. Hyperalimentation
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Hyperglykämie
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Hyperosmolarität
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Septische Enzephalopathie
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Immobilität
Die genannten meist durch Regressionsanalysen identifizierbaren Risikofaktoren lassen Rückschlüsse auf die möglichen zugrunde liegenden Pathomechanismen der ICUAW ziehen, die grundsätzlich als multifaktoriell und interagierend zu betrachten sind.
Pathomechanismen
Eine zusammenfassende Veranschaulichung der Pathomechanismen der ICUAW ist in Abb. 1 dargestellt.
Störungen der Inflammation und Mikrozirkulation spielen eine Schlüsselrolle in der Entwicklung einer ICUAW. In tierexperimentellen Modellen zur Sepsis geht die ICUAW mit einer E‑Selektin-Überexpression des Gefäßendothels insbesondere peripherer Nerven einher, wodurch eine Endothelaktivierung sowie eine Vasodilatation und damit Erhöhung der Gefäßpermeabilität induziert wird [7, 20]. Durch endoneurale Ödembildung und hierdurch bedingter Hypoxämie und Energiedefizienz kommt es sekundär zu einer Axonschädigung der Nerven. Aufgrund der erhöhten Gefäßpermeabilität tritt eine zusätzliche direkte axonale Schädigung durch Penetration toxischer Metabolite auf [10].
Inflammatorische Prozesse spielen eine wichtige Rolle
Hyperglykämien induzieren zusätzlich eine neuronale und auch myogene mitochondriale Dysfunktion [60] und ADP-Depletion [12].
Weitere schädigende Kofaktoren sind metabolische Veränderungen wie eine katabole Stoffwechsellage und Hypoalbuminämie mit verminderter Proteinsynthese [39]. Schädigungen des Muskels und der Axone können auch durch Schädigungen von Ionenkanälen (Kanalopathien) auftreten [46]. Beschrieben ist eine Alteration schneller Natriumkanäle, die tierexperimentell zu einer Untererregbarkeit der Muskelfasermembran führten [52]. Weiterhin wurde tierexperimentell auch eine Veränderung der intrazellulären Kalziumhomöostase mit konsekutiver Verminderung der Muskelkontraktilität gezeigt [53, 65].
Speziell bei der CIM kommt es multifaktoriell auf komplexe Weise zu funktionellen und strukturellen Muskelveränderungen beispielsweise durch eine verminderte Synthese und einen erhöhten Verbrauch von Muskelproteinen [50], insbesondere von Myosin. Dies führt zu bereits frühzeitig auftretenden Muskelatrophien. Ähnlich wie bei der CIP spielen inflammatorische Prozesse auch bei der Muskelschädigung eine wichtige Rolle. Als atrophiebegünstigende proinflammatorische Mediatoren konnten Tumornekrosefaktor α sowie Interleukin 1, Interleukin 2 [21] und auch „growth and differentiation factor (GDF-)15“ identifiziert werden [8]. Ferner kommt es bei der CIM zu einer verminderten Autophagie in Muskelzellen und somit zu einer Aggregation toxischer Komponenten mit konsekutiver Schädigung der Muskelfaserintegrität [4, 17, 41].
Die Small-fibre-Degeneration erklärt die häufig beschriebenen neuropathischen Schmerzen
Während die isolierte CIP eine sog. Large-fibre-Neuropathie mit zugrunde liegender axonaler Degeneration darstellt, kann bei ICUAW in einzelnen Studien zusätzlich auch eine sog. Small-fibre-Neuropathie mit in der Hautbiopsie verminderter intraepidermaler Nervenfaserdichte nachgewiesen werden [56]. Die zusätzliche Small-fibre-Degeneration erklärt die von Patienten häufig noch Monate nach dem Intensivaufenthalt beschriebenen neuropathischen Schmerzen mit brennenden Dysästhesien und verminderter Thermästhesie. Eine Small-fibre-Neuropathie im Rahmen einer ICUAW zeigt eine hohe Koinzidenz mit dem Auftreten von Sepsis und Multiorgandysfunktion, wird aber auch unabhängig von kritischer Krankheit beschrieben, weswegen die zugrunde liegende Pathophysiologie zum aktuellen Zeitpunkt weitgehend unklar bleibt [38].
Eine Mitbeteiligung des autonomen Nervensystems im Rahmen der ICUAW ist ebenfalls möglich [61]. Es konnte in einigen Untersuchungen eine abnorme Herzratenvariabilität sowie eine pathologische sympathische Hautantwort dokumentiert werden, wenngleich sich dies in anderen Studien nicht reproduzieren lies, was auch den methodischen Schwierigkeiten der entsprechenden Messungen auf einer Intensivstation geschuldet sein kann.
Diagnosestellung
Die Verdachtsdiagnose wird aus dem klinischen Bild bei entsprechender Risikokonstellation gestellt und durch neurophysiologische Diagnostik bestätigt. Allerdings ist angesichts von Sedierung und/oder Bewusstseinsstörungen eine klinisch valide neurologische Untersuchung der meist beatmeten Patienten manchmal nur eingeschränkt möglich. Auch die Beurteilung der neurophysiologischen Diagnostik auf der Intensivstation kann durch Störartefakte, Gewebeödeme, Hypothermie, mangelnde Muskelwillkürinnervation und Gerinnungsstörungen bzw. Antikoagulation (Elektromyographie dann nicht möglich) beeinträchtigt sein [33].
Klinische Präsentation
Motorik
Das Leitsymptom der ICUAW sind meist symmetrische und schlaffe Paresen, wobei sich der neuropathische Anteil (CIP) eher distal und der myopathische Anteil (CIM) eher proximal manifestiert. Die CIM-Komponente geht innerhalb weniger Tage mit Muskelatrophien einher. In 2 Drittel der Fälle kommt es dabei auch zu einer Mitbeteiligung der Atemmuskulatur einschließlich des Zwerchfells mit nachfolgendem Weaningversagen [36]. Eine Beteiligung der Hirnnerven als solche ist extrem selten; so sind Störungen der Okulo- und Pupillomotorik nicht beschrieben [9], allerdings kasuistisch eine Beteiligung der mimischen Muskulatur [25]. Die faziale Schwäche im publizierten Fall könnte allerdings auch auf eine autoimmune Polyradikuloneuritis im Sinne eines Guillain-Barré-Syndroms zurückzuführen gewesen sein.
Kürzlich konnte durch eine systematische fiberendoskopische Evaluation bei 90 % der ICUAW-Patienten eine Schluckstörung nachgewiesen werden, die bei 75 % der Betroffenen mit einer Aspiration von Flüssigkeiten einherging. Auch die pharyngeale Sensorik war bei 77 % der Patienten beeinträchtigt [49]. Als Erklärung der Schluckdysfunktion favorisierten die Autoren mechanische Folgen der orotrachealen Intubation und eine „Inaktivitätsdysfunktion“ eher als eine neuro- oder myopathische Genese per se. Ausgeprägtere Störungen der Hirnnervenfunktion oder der mimischen Muskulatur müssen daher Anlass zur kritischen differenzialdiagnostischen Überprüfung der Diagnose geben.
Reflexe
Die Muskeleigenreflexe können initial noch auslösbar sein, sind in der Folge dann meist abgeschwächt oder nicht auslösbar. Bei einer reinen CIM können sie wenig beeinträchtigt oder erhalten sein. Insbesondere bei der CIM finden sich mit zunehmendem Krankheitsverlauf deutliche Muskelatrophien bei erhaltener Sensibilität.
Sensibilität
Bei der CIP finden sich ausgeprägter Störung der Oberflächensensibilität, der Propriozeption sowie der Temperatur- und Schmerzwahrnehmung [26]; bei der CIM finden sich keine Sensibilitätsstörungen.
Neurophysiologische Diagnostik
Bei einer distal symmetrischen sensomotorischen Manifestation der ICUAW zeigen sich in der Elektroneurographie (ENG) als Ausdruck der vorwiegend axonalen Schädigung der Nerven reduzierte Amplituden der Muskelsummenaktionspotenziale (MSAP) bzw. der sensiblen Nervenaktionspotenziale (SNAP) bei (noch) normaler oder gering reduzierter Nervenleitgeschwindigkeit (NLG; Abb. 2). Diese Veränderungen treten typischerweise innerhalb von 1–2 Wochen nach der klinischen Manifestation auf, können jedoch mitunter bereits 72 h nach ICU-Aufnahme zu finden sein [1, 55]. Bei einer CIM sind die MSAP durch die muskuläre Dysfunktion ebenfalls deutlich (>50 % der Norm) amplitudengemindert [37, 63, 64] bei erhaltenen SNAP.
Ob reduzierte MSAP durch eine CIM oder CIP verursacht werden, kann durch eine direkte Muskelstimulation geklärt werden: Bei der Neuropathie führt die direkte Muskelstimulation zu einer normalen Potenzialantwort, bei der Myopathie ist angesichts des Verlusts der elektrischen Stimulierbarkeit des Muskels sowohl bei nervaler als auch direkter Muskelstimulation eine deutlich reduzierte Amplitude der Muskelantwort zu finden ([35]; Abb. 3).
In der Elektromyographie (EMG) lässt sich sowohl bei der CIP als auch bei der CIM meist eine pathologische Spontanaktivität in Form von Fibrillationen und positiven scharfen Wellen [26] nachweisen. Ebenfalls finden sich vermehrt Polyphasien, zum einen wegen der axonalen Degeneration im Rahmen der CIP, zum anderen bei schlechter Synchronisation der Muskelfaserpotenziale im Rahmen der CIM. Myopathisch veränderte Potenziale motorischer Einheiten bei der Myopathie lassen sich bei Willkürinnervation nachweisen, sofern diese beim jeweiligen Intensivpatienten untersuchbar ist.
In der Elektromyographie finden sich vermehrt Polyphasien
Leitungsmessungen des N. phrenicus und EMG-Ableitungen der Interkostalmuskulatur bzw. des Zwerchfells haben einen diagnostischen Stellenwert beim isolierten Weaningversagen ohne sonstige neuromuskuläre Defizite an den Extremitäten, bedürfen aber einer entsprechenden neurophysiologischen Expertise.
Muskelbiopsie
Grundsätzlich kann die Myopathie bzw. der myopathische Anteil an einer ICUAW auch mit einer Muskelbiopsie diagnostiziert werden; allerdings ist dies eher von akademischem Interesse. Gerade bei septischen Patienten mit Gerinnungsstörungen ist eine Biopsie ohne therapeutische Konsequenzen nicht indiziert. Mögliche myopathische Subtypen sind:
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klassische CIM: unspezifische Typ-1- und Typ-2-Faseratrophie, fettige Degeneration, nichtnekrotisch (klinisch: keine Erhöhung der Kreatinkinase [CK]);
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nekrotisierende Myopathie (klinisch: CK ↑);
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„Thick-filament-Myopathie“: Verlust des intermyofibrillären Netzwerks (CK ↑).
Muskelultraschall
In den letzten Jahren wurde der mögliche Stellenwert der Muskel-(Nerv‑)Sonographie diskutiert, dessen Vorteil darin liegt, dass er im Vergleich zur Neurophysiologie bettseitig einfach verfügbar und nicht an die Mitarbeit des Patienten gebunden ist. So könnten atrophische Muskelveränderungen sehr früh erfasst werden und Veränderungen der Echotextur des Muskels sowie die Erfassung von Faszikulationen auf eine Schädigung hinweisen [14, 23, 50]. Eine aktuelle Studie an 71 Patienten konnte allerdings keine ausreichend gute Treffsicherheit des Muskel-Nerv-Ultraschalls bei der Identifikation einer ICUAW identifizieren [63], sodass insgesamt die Sensitivität und Spezifität der Methode unklar bleibt.
Differenzialdiagnose
Wurde die CIP/CIM in den ersten Jahren nach ihrer Beschreibung eher unterdiagnostiziert, besteht mittlerweile eher die Gefahr einer vorschnellen Zuordnung jeglicher generalisierten Muskelschwäche auf der Intensivstation zu einer ICUAW. Wichtig ist eine differenzierte neurologische Untersuchung mit der Aufdeckung von „red flags“, die gegen eine ICUAW sprechen. Gerade bei septischen Konstellationen mit Multiorgandysfunktion sind auch andere Ursachen von Tetraparesen mit therapeutischem Handlungsbedarf, wie beispielsweise spinale Blutungen oder spinale Hämatome, potenziell abklärungsbedürftig. Eine Zusammenstellung der zu berücksichtigenden Differenzialdiagnosen und der ist der Tab. 1 zu entnehmen. Die „red flags“ sind in Infobox 2 aufgeführt.
Infobox 2 „Red flags“, die gegen eine „intensive care unit-acquired weakness“ sprechen
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Beteiligung von Hirnnerven
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Sensibilitätsstörungen im Vordergrund
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Pyramidenbahnzeichen (z. B. Babinski)
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Erhöhter Muskeltonus (Spastik)
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Gesteigerte Muskeleigenreflexe
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„Reflexsprung“ (obere Extremität gut auslösbar – untere Extremität erloschen)
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Obere Extremität motorisch und/oder sensibel komplett ausgespart
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Progredienz nach der Intensive-care-unit-Phase
Prävention und Therapie
In Kenntnis der beschriebenen Risikofaktoren und Pathomechanismen der ICUAW kommt einer raschen entsprechenden Therapie und Vermeidung der wesentliche Stellenwert zu ([26, 31]; Zusammenstellung in Infobox 3).
Infobox 3 Maßnahmen bei „intensive care unit-acquired weakness“ (ICUAW)
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Therapie der Sepsis
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Glukosesenkung unter Vermeidung von Hypoglykämien
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Homöostase (metabolisch, Elektrolyte, Ernährung)
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Normoalbuminurie
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Kritischer Einsatz von Muskelrelaxanztien und Kortikosteroiden
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Möglichst kurze Analgosedierung mit geringstgradig vertretbarem Level
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Frühe passive und aktive Mobilisierung (Physiotherapie, Stehapparat, Bettfahrrad)
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Neuromuskuläre elektrische Stimulation
Ein früher Physiotherapiebeginn innerhalb von 48 h zeigte signifikant positive Effekte
Die empfohlenen Maßnahmen sind empirischer und plausibler Natur bei insgesamt unbefriedigendem Evidenzlevel. Durch frühe Mobilisation kann immerhin die ICU-Verweildauer signifikant gesenkt werden [51]. Ein 30-minütiges passives und aktives Bettfahrradtraining pro Tag zusätzlich zur konventionellen Physiotherapie führte zu einer deutlich verlängerten Gehstrecke, einer Zunahme der Muskelkraft des M. quadriceps und zu einem verbesserten funktionellen Lebensqualitätsscore bei Krankenhausentlassung [15]. Ähnlich positive Effekte waren auch durch eine neuromuskuläre Elektrostimulationstherapie der Beinmuskulatur zu erzielen [2]. Ein früher Beginn der Physiotherapie innerhalb von 48 h zeigte ebenfalls signifikant positive Effekte im Vergleich zu einem späteren Beginn: Es konnte so eine Gehstrecke bei Krankenhausentlassung von 33 m gegenüber 0 m erreicht werden [54]. Für die Rehabilitationsphase lagen in einem Cochrane-Review nicht genügend qualifizierte Studien vor, um Aussagen zur Wirksamkeit der Physiotherapie treffen zu können [42].
Die Datenlage zu der kasuistisch als wirksam publizierten intravenösen Immunglobulinen (IVIG) ist nicht ausreichend und schlüssig genug, um eine allgemeine Handlungsempfehlung abzugeben [13, 44].
Prognose und Langzeitfolgen
Das Auftreten einer ICUAW verschlechtert die mittel- und langfristige Prognose der Intensivpatienten und verkompliziert deren Rehabilitationsverlauf. Bereits die Wahrscheinlichkeit, das Krankenhaus lebend zu verlassen, ist bei ICUAW-Patienten um 30 % herabgesetzt und die 1‑Jahres-Sterblichkeit ist um 10–20 % höher als bei nicht betroffenen Patienten (z. B. 29,3 vs. 48,2 % in einer Studie an 730 ARDS-Patienten von Hermans et al., 2015; [29]. Bei Entlassung aus dem Krankenhaus sind ein Drittel der Patienten noch von den Folgen der ICUAW beeinträchtigt. Nach 3 Monaten sind es noch 20–30 %, nach 6–12 Monaten noch etwa 10–15 % und nach 2 Jahren etwa 10 % [19, 28, 30].
Betrachtet man das Gesamtkollektiv der ICUAW-Patienten, zeigen die Durchschnittswerte der Beeinträchtigungen gute Besserungen: z. B. einen Anstieg des Barthel-Index von etwa 20 während der Akutphase auf etwa 85 nach einem Jahr. Hauptbeeinträchtigung der Patienten, die sich wenig bessern, sind auch nach einem Jahr Muskelschwächen mit ihren alltagsbeeinträchtigenden Folgen der Einschränkung der Gehfähigkeit und Mobilität. Allerdings evaluierten die wenigen Langzeitstudien meistens nur sehr grob per Telefon das Merkmal „Schwäche“, sodass differenzierte Angaben zum Profil der Langzeitschäden fehlen. Wenn zusätzliche Einschränkungen nach einem Jahr evaluiert werden, zeigen sich vor allem deutlich geringere Scores der Lebenszufriedenheit einschließlich psychischer Folgen. So sind die Häufigkeiten von Angst und Depression etwa doppelt so hoch wie bei den Patienten, bei denen sich die ICUAW gut zurückgebildet hat (etwa 50 vs. 25 %; [3]).
Bei der Prognose und Geschwindigkeit der Regeneration unterscheiden sich CIP und CIM deutlich: Die Regeneration einer CIM ist mit 80–100 % deutlich besser als die einer CIP mit 50–70 %. So beschrieben Guerneri et al. [24] bei 11 von 12 Patienten mit elektrophysiologisch gesicherter ausschließlicher CIM eine komplette Erholung innerhalb von 6 Monaten und eine Normalisierung der neurophysiologischen Befunde. Bei den Patienten mit einer isolierten oder mit einer mit CIM kombinierten CIP zeigten nur 2 von 7 Patienten eine komplette Genesung nach 6 Monaten.
Die 1‑Jahres-Sterblichkeit der Patienten mit ICUAW ist um 10–20 % höher als bei Nichtbetroffenen
Bei der CIP bilden sich die Schäden teilweise nur langsam zurück, weil die Geschwindigkeit der Regeneration der axonalen Schädigung maximal 1 mm pro Tag beträgt. Nach einem Jahr wird ein Plateau erreicht, jedoch sind auch im 2. Jahr nach der Erkrankung noch leichte Besserungen möglich. Dies schlägt sich auch in langen stationären Rehabilitationszeiten nieder, die in der Regel 2–3 Monate andauern.
Über die Muskelschwächen hinaus persistieren auch nach einem Jahr vor allem Sensibilitätsstörungen mit propriozeptiv bedingter Ataxie an Armen, Händen, Beinen und Füßen. Auch können Missempfindungen und mit Latenz neuropathische Schmerzen auftreten. Die Betonung der unteren Extremität geht mit zum Teil ausgeprägten Gang- und Gleichgewichtsstörungen einher. An der oberen Extremität finden sich oft noch Störungen der Feinmotorik und gelegentlich ein neuropathischer Tremor. Persistierende autonome Störungen gehen mit Neigung zu Ödemen und Störungen der Scheißsekretion einher.
Diese Beeinträchtigungen sind mit drastischen Einschränkungen der Lebensqualität verbunden und beeinträchtigen die soziale und berufliche Reintegration der ehemaligen ICU-Patienten erheblich. Erschwert wird die Rehabilitation auch dadurch, dass die ICUAW bei etwa 10–30 % der Patienten auch mit unterschiedlich ausgeprägten kognitiven Defiziten aufgrund einer septischen Enzephalopathie vergesellschaftet ist.
Fazit für die Praxis
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Bei beatmeten Patienten ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer neuromuskulären Schädigung im Sinne der ICUAW zu rechnen.
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Das Management von Risikopatienten für eine ICUAW ist supportiv und besteht aus der Vermeidung/Bekämpfung der Risikofaktoren, früher Mobilisation und möglichst frühem Weaning.
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Die klinische Verdachtsdiagnose sollte differenzialdiagnostisch mit einer neurologischen und ggf. neurophysiologischen Untersuchung überprüft werden, um keine anderen kausal therapierbaren Ursachen für das Lähmungsbild zu übersehen
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Bei der Pflege sind zusätzliche Druckläsionen durch Lagerungen zu vermeiden.
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Für ICUAW-Patienten ist eine (neurologische) Rehabilitation der Phase B anzustreben.
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Grundsätzlich ist die Prognose bei reiner Myopathie sehr gut, während die motorischen Schwächen und Sensibilitätsstörungen je nach Ausprägung der Neuropathie über längere Zeiträume persistieren.
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Bei etwa 10 % der Betroffenen ist auch nach einem Jahr mit deutlichen Langzeitresiduen zu rechnen.
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D. Senger und F. Erbguth geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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U. Janssens, Eschweiler
M. Joannidis, Innsbruck
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Senger, D., Erbguth, F. Critical-illness-Myopathie und -Polyneuropathie. Med Klin Intensivmed Notfmed 112, 589–596 (2017). https://doi.org/10.1007/s00063-017-0339-0
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