Weil die Wissenschaft erkannt hat, dass schon der „banale“ Infekt bei Prädisponierten die Sensibilisierung erleichtert und bei Allergikern zu akuten Exazerbationen mit Etagenwechsel und Chronifizierung führen kann, soll nun ein Bogen über fast 2000 Jahre gespannt werden – von der aktuellsten Grundlagenforschung des 21. Jahrhunderts zur Weisheit des Klassikers der TCM „Shānghán zábìng lùn“ von 200 n. Chr. Dieser Klassiker setzt sich systematisch mit dem Ursprung und der Entwicklung von Kälte-induzierten Krankheiten und Behandlungsmöglichkeiten auseinander und verwendet perfekt modulierte Kräuterrezepturen für eine große Bandbreite von Krankheitsmanifestationen. Daher wird im Folgenden versucht, dieses diagnostische und therapeutische Konzept bei Erkältungskrankheiten systematisch anhand einiger weniger, aber häufig anzutreffender Krankheitsmuster zu erklären. Die Autorin möchte die Leser motivieren, in das chinesische Denken „einzutauchen“, sich mit den TCM-Denkweisen auseinanderzusetzen, um den systematisierbaren Prozess über den Verlauf der Krankheiten zu verstehen und mit unserem heutigen Wissen zu vernetzen. Exzellente Forscher könnten durch Gedankenaustausch und „exzellente Kooperationen“ zusammenarbeiten, um das Problem der Allergie gemeinsam zu bewältigen. Das Thema Allergie ist so komplex, dass es „kompetente Rebellen“ braucht, die den Status quo auf diversen Gebieten kritisch hinterfragen und gleichzeitig sehr hohe Kompetenz in ihrem eigenen Gebiet haben, um neue Lösungsansätze zu finden.

Die Traditionelle Chinesische Medizin basiert auf dem philosophischen Konzept der Yin-Yang-Theorie und der Lehre der 5 Wandlungsphasen. Die Lehre von Yin und Yang entsprang zunächst einer Naturphilosophie und beschreibt die Phänomene der Natur sowie deren Beziehungen zueinander und zum Universum. Sie wird benutzt, um den immerwährenden Prozess natürlicher Veränderung zu erklären.

Yang korrespondiert im chinesischen Schriftzeichen mit der von der Sonne beschienenen Seite eines Berges. Dort ist alles hell, warm und trocken, im Extrem wird jedoch dort alles vertrocknen und verbrennen.

Yin symbolisiert die Schattenseite des Berges, wo eher feuchtes, kaltes Klima und Dunkelheit vorherrschen.

Berg

Wolke

Sonne

Sonne über dem Horizont

Sonnenstrahlen

Sämtliche Aspekte des Universums werden dem Yin bzw. dem Yang zugeordnet. Einige Beispiele:

Die Monade (◘ Abb. 8.1) versinnbildlicht die Basis der chinesischen Philosophie: Harmonie und zyklischer Wandel. Obwohl Yin und Yang einander komplementäre, polare Gegensätze darstellen, sind sie voneinander abhängig, ergänzen, begrenzen und kontrollieren sie einander und können sich sogar ineinander umwandeln. So wird der Tag dem Yang und die Nacht dem Yin zugeordnet. Zu Mittag besteht ein Maximum an Yang. Während sich danach das Yang des Tages langsam zurückzieht, erstarkt das Yin, um gegen Mitternacht seinen Höhepunkt zu erreichen. Der Kreis schließt sich in einem regelmäßigen Rhythmus und zyklischen Wandel, indem das Yang nach Mitternacht wieder erwacht und zu Mittag erneut seinen Höhepunkt zeigt. Einen ähnlichen Zyklus kann man im Jahresverlauf beobachten, der sich immer wieder wiederholt. Der Kreis symbolisiert somit sämtliche zyklischen Prozesse des Universums.

Abb. 8.1
figure 1

Monade. Obwohl einander entgegengesetzt und komplementär, ergänzen sich Yin und Yang zu einem harmonischen Ganzen und bilden ein dynamisches Gleichgewicht

Gesundheit bedeutet in der TCM ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Yin und Yang. Ziel der TCM ist es, entstandene Ungleichgewichtszustände zu erkennen und auszugleichen.

Durch speziell entwickelte diagnostische Zusatzmöglichkeiten wie Zungen- und Pulsdiagnose gelingt es in der TCM, einerseits Krankheitsprozesse schon vor Ausbruch der Erkrankung festzustellen und diesen gegenzusteuern (Salutogenese, Sub-Health), andererseits bereits bestehende Erkrankungen mithilfe von Akupunktur, chinesischer Kräutertherapie, Ernährung nach den 5 Wandlungsphasen, Massagetechniken sowie Bewegungsübungen wie Tai ji und Qi gong zu behandeln.

Der Begriff der Komplementarität der chinesischen Philosophie wurde von der modernen Physik aufgegriffen. Der Physiker Niels Bohr führte in der Diskussion, ob subatomare Elemente (Elektronen, Neutronen oder Protonen) Teilchen (Materie) oder Wellen (immateriell) seien, den Begriff der Komplementarität ein, weil für ihn das Teilchenbild und das Wellenbild zwei sich ergänzende Beschreibungen derselben Wirklichkeit waren, von denen jede nur teilweise richtig war und eine beschränkte Anwendungsmöglichkeit hatte. Laut Niels Bohr werden beide Aspekte benötigt, um die atomare Wirklichkeit darzustellen, und beide müssen innerhalb der von der Heisenberg’schen Unschärfetheorie gesetzten Grenzen angewendet werden. Das Symbol der altchinesischen Monade, mit der einander komplementären Darstellung von Yin und Yang hat Niels Bohr so tief beeindruckt und inspiriert, dass er die Monade auf die Titelseite seiner wissenschaftlichen Abhandlung drucken ließ.

Das zweite große Denkkonzept der TCM ist das Konzept der 5 Wandlungsphasen oder Konzept der 5 Elemente (◘ Abb. 8.2) und entstand etwas später als die Philosophie des Yin-Yang-Konzepts in der Zeit der „kämpfenden Staaten“ 476–221 v. Chr. (Macciocia 1994). Die 5 Wandlungsphasen symbolisieren fünf verschiedene Qualitäten von Naturphänomenen, fünf Bewegungen und fünf Phasen im Kreislauf der Jahreszeiten.

Abb. 8.2
figure 2

5 Wandlungsphasen. Jeder Wandlungsphase (Wasser, Holz, Feuer, Erde und Metall) wird ein Yin-Organ (Niere, Leber, Herz, Milz und Lunge) und ein Yang-Organ (Harnblase, Gallenblase, Dünndarm, Magen, Dickdarm) sowie ein Wettereinfluss (Kälte, Wind, Hitze, Feuchtigkeit und Trockenheit), eine Emotion (Angst, Zorn, Freude, Sorge, Kummer) und eine Jahreszeit (Winter, Frühling, Sommer, Spätsommer, Herbst) zugeordnet

Das Ineinanderübergehen dieser Wandlungsphasen wird auch als Hervorbringungssequenz bezeichnet. Genau so wie die Jahreszeiten ineinander übergehen und zyklisch abwechseln, so produziert das Element Wasser über das Wachsen der Bäume das Element Holz, durch Verbrennen des Holzes entsteht Feuer, aus der Asche des Feuers wird Erde, Erde bringt Metall hervor und Metall produziert durch Verdampfen Wasser. Jedes Element wird daher als „Kind“ des davorstehenden Elements bezeichnet. Feuer stellt z. B. das Kind des Holzes dar. Da jedem Element/jeder Wandlungsphase auch ein Yin- und ein Yang-Organ zugeordnet wird, kann bei Schwäche eines Organs dessen „Mutter“ gestärkt werden. Ist das Feuer schwach, kann man Holz nachlegen und dadurch stärken, um das Kind zu kräftigen. Dies ist eine von vielen Behandlungstechniken der TCM. Wenn z. B. eine Schwäche der Lunge vorliegt, würde man die Mutter der Lunge, die Erde, mit Kräutern und Nahrung stärken. Jedem Element wird aber auch eine psychische Eigenschaft zugeordnet, die die ganzheitliche Betrachtung des Körpers als Einheit zwischen Soma und Psyche symbolisiert. Die Trennung zwischen Geist und Körper, wie sie in Europa seit René Descartes eingeführt wurde, fand in der TCM niemals statt.

Die TCM sieht den Menschen als Mikrokosmos im Makrokosmos des Universums. Wachstum und Harmonie des Menschen sowie dessen ständige Transformation im philosophischen Sinn sind abhängig von der ständigen Interaktion mit dem Universum, aber auch von einem dynamischen Gleichgewicht von Yin und Yang und von der Harmonie zwischen den 5 Elementen/Wandlungsphasen.

Laut Huángdì Nèijīng , dem „Inneren Klassiker des gelben Kaisers“(Wang 1997),

treffen die Einflüsse des Universums auf Erde und Menschen, wo sie Wachstum und Entwicklung aller Dinge fördern, aber auch stören können.“

Das Huángdì Nèijīng 黄帝内經, auch als Nèijīng 内經 bekannt, ist eines der ältesten Standardwerke der chinesischen Medizin und besteht aus zwei großen Teilen.

  1. 1.

    Teil-Sùwèn 黄帝内经素问 – ca. 200 v. Chr.: „Einfache Fragen“

  2. 2.

    Teil – Seit der Tang-Dynastie唐朝 – ca. 618–907 n. Chr. bekannt als Língshū 灵枢 – „Angelpunkt der Struktivkraft“.

Dieses medizinische Werk ist bis heute grundlegend und richtungsweisend für die Ausbildung innerhalb der chinesischen Medizin.

Einflüsse des „Himmels“ bzw. des Universums sind zum Beispiel klimatische Faktoren, wie Wind, der auf unserem Erdplaneten dem Holz entspricht. Die Hitze des Universums zeigt sich im Element Feuer, Feuchtigkeit des Himmels entspricht der Erde, Trockenheit dem Metall und Kälte entspricht dem Element Wasser. Somit formen die formlosen Wettereinflüsse des Himmels die Elemente der Erde und bestimmen auch deren Grenzen. Auch die Jahreszeiten werden den 5 Wandlungsphasen zugeordnet. Sind Yin und Yang die Manifestationen von Wasser und Feuer bzw. Winter und Sommer, so symbolisiert das Element Holz den Frühling mit dem Wachstum der sprießenden Blätter der Bäume. Dem Element Metall entspricht der Herbst, der mit der Ernte den Abschluss des Wachstums mit Rückzug symbolisiert und den Winter einleitet und dadurch den unendlichen zyklischen Prozess fortsetzt.

FormalPara TCM-Therapie

Während Akupunktur, Tuina und Akupressur mit dem Wellenbild bzw. dem immateriellen Aspekt des Körpers arbeiten und über Energieausgleich den Körper regulieren, leistet die chinesische Phytotherapie „materielle“ Arbeit. Materie wird dem Körper in Form von Kräutern zugeführt. Beide Therapien (materiell und immateriell) können in einem gemeinsamen Zusammenspiel zur Gesundung bzw. Harmonie zwischen Yin und Yang beitragen und aktiv vom Patienten über Qi gong und Tai ji sowie Ernährung nach den 5 Wandlungsphasen unterstützt werden.

FormalPara Akupunktur

Die Akupunktur verwendet Einstiche mit Nadeln an genau festgelegten Körperregionen, die spontan oder druckempfindlich sein können, bei funktionellen, reversiblen Erkrankungen zu diagnostischen und/oder therapeutischen Zwecken. Dabei werden Akupunkturpunkte an Meridianen, in denen nach TCM-Vorstellung das Qi fließt, durch den Nadelstich, durch Massage oder durch Laserlichtbestrahlung elektrisch gereizt. Durch einen Potenzialsprung am Akupunkturpunkt nach dem Akupunkturreiz kommt es zu einer Photonenemission, die über das Meridiansystem weitergeleitet wird. Dadurch kann eine Energieumverteilung auch an weit entfernten Körperstellen durchgeführt werden.

Die Akupunkturwirkung braucht funktionierende Nervenbahnen und wirkt nervös-reflektorisch, hat aber auch humeral-endokrine Wirkung, indem nach Akupunktur Endorphine, Enkephaline und Monoamine wie Serotonin, Noradrenalin, Dopamin und ACTH freigesetzt werden (Guo et al. 2009). Durch diese Aktivierung von Neurotransmittersubstanzen und Hormonen erklärt sich die entspannende, entzündungshemmende und schmerzstillende Wirkung der Akupunkur. Außerdem konnte gezeigt werden, dass es nach der Behandlung mit Akupunktur bei allergischem Asthma zu einer signifikanten Reduktion von Th2-induziertem IL-4 kommt, gemeinsam mit einer 32 % Reduktion von eosinophilen Granulozyten (Joos et al. 2000). Es wird spekuliert, dass die Akupunktur die Th1/Th2-Dysbalance, die für die Entwicklung des allergischen Geschehens verantwortlich ist, positiv beeinflusst.

FormalPara Chinesische Phytotherapie

Die chinesische Phytotherapie bietet ein umfassendes therapeutisches Konzept, um Krankheiten und deren Folgen zu behandeln, indem sie es einerseits dem Körper ermöglicht, selbst einen Weg zu finden, die pathogenen Faktoren zu eliminieren und andererseits durch „materielle“ Konstitutionsbehandlung mithilft, den Körper zu stärken und somit auch prophylaktisch die Anfälligkeit für neuerliche Erkrankungen zu reduzieren.

FormalPara Arzneien

In Europa werden derzeit ca. 400 verschiedene Arzneimittel der chinesischen Medizin in großteils speziell geschulten Apotheken angeboten. Die meisten Arzneien (90 %) sind pflanzlicher Herkunft (◘ Abb. 8.3), es gibt jedoch auch einige wenige mineralische Substanzen und Arzneien aus dem Tierreich. Viele Tierprodukte sind aus Artenschutzgründen streng verboten, wie zum Beispiel Tigerknochen oder Rhinozeros-Hörner.

Abb. 8.3
figure 3

Chinesische Arzneimischung. Rohdrogen vor der Dekoktierung

Jede Arznei wird klassifiziert nach:

FormalPara Temperaturverhalten

Heiß und warm: Diese Arzneien sind aktivierend, beschleunigen, dynamisieren, lösen und zerstreuen. So bewirken Zimtzweigchen (Ramulus [Rm.] Cinnamomi Gui zhi) durch ihre warme Schärfe eine Erwärmung der Körperoberfläche und können bei Verkühlungen leicht schweißtreibend und immunstimulierend wirken.

Neutral: Weder wärmend noch kühlend. Oft bei Diuretika, wie Poria (Fuling).

Kühlend und kalt: Der kühle Aspekt bewirkt eine Befeuchtung mit Säften, Verlangsamung von Stoffwechselprozessen und Beruhigung. Kühles und Kaltes kann Hitze kühlen und Yin anreichern. So verwendet man z. B. Radix (Rd.) Rehmanniae viride (Sheng di huang), um das Nieren-Yin bei menopausalen Hitzewallungen zu stärken oder um Hitze nach hochfieberhaften Infektionserkrankungen zu kühlen, wenn zum Beispiel nach einer Pneumonie trotz antibiotischer Behandlung lang anhaltender trockener Husten, große Unruhe und Herzklopfen mit subfebrilen Temperaturen entstanden sind.

FormalPara Geschmacksrichtung

Der Geschmack einer Arznei gibt Aufschluss über die Wirkebene und Eindringtiefe. Jedes Arzneimittel kann verschiedene Geschmacksrichtungen haben:

scharf: an der Oberfläche wirksam, zerstreuend bei Ansammlungen von Feuchtigkeit oder Schleim, öffnend, entfaltend

süß: befeuchtend, Säfte spendend, aktive Energie tonisierend, regulierend, harmonisierend

neutral: oft diuretisch wirksam, regulierend

sauer: adstringierend, Säfte erhaltend, Schweiß hemmend

bitter: nach unten ausleitend, trocknend, klärend

salzig: befeuchtend, Säfte erzeugend, laxierend, Knoten erweichend, in der Tiefe wirkend

FormalPara Organ und Leitbahnenbezug

Jede Arznei hat einen oder mehrere spezielle Wirkorte, in denen sie ihr Potenzial besonders gut entfaltet. So wirken scharfe Arzneien besonders gut in der Lunge, saure Arzneien in der Leber, süße und neutrale in der Milz, bittere im Herzen und salzige in der Niere.

FormalPara Wirkrichtung

Oberflächlich wirkende Arzneien: Während warme, oberflächlich wirksame Arzneien pathogene Faktoren wie Kälte im Anfangsstadium von Verkühlungen befreien können (z. B. Rm. Cinnamomi), behandelt man mit kühlen, oberflächlich wirksamen Arzneien fieberhafte Erkrankungen im Sommer, z. B. mit der Klettenfrucht, Fructus (Fr.) Arctii (Niu bang zi), eine Angina tonsillaris.

Im Inneren wirkende Arzneien: Regulieren und stärken innere Organe, Blut und Qi: z. B. Rd. Ginseng (Ren shen) stärkt das Qi von Milz, Herz und Lunge.

Emporhebende Arzneien: Heben das körpereigene Qi nach oben und entfalten an der Oberfläche ihre Wirkung: z. B. Rhizoma (Rh.) Cimicifugae (Sheng ma), das Traubensilberkerzenrhizom, das entzündetes Zahnfleisch kühlen und auch andere kühlende Arzneien kopfwärts ziehen kann.

Absenkende Arzneien: Ziehen Energien nach unten und innen, besonders auch bei gegenläufigen Qi-Bewegungen, wie aufsteigendem Leber-Yang mit den Symptomen Kopfschmerzen, Schwindel und Migräne. Hier wirkt z. B. Rh. Gastrodiae (Tian ma) und senkt das hochschlagende Leber-Yang ab. Auch die zerriebene Austernschale, Co. Ostreae (Mu li), kann bei Unruhezuständen das aufsteigende Yang nach unten führen und durch seine salzige Schwere in der Niere verankern.

FormalPara Rezepturen

Rezepte der chinesischen Arzneimitteltherapie bestehen fast nie aus Einzelarzneien, sondern sind nach dem Multi-target-Prinzip eine komplexe Mischung aus verschiedenen Arzneien, die

  1. 1.

    einander verstärken, ohne Nebenwirkungen zu erzeugen, weil die Einzelarznei in ihrer Dosis gering gehalten werden kann;

  2. 2.

    einander antagonisieren: so verschreibt man zum Beispiel bei einem akuten Infekt mit Husten in der Rezeptur Xiao qing long tang viele scharfe, warme Arzneien (Hb. Ephedrae, Rm. Cinnamomi, Rh. Zingiberis), die Kälte zerstreuen können, und eine adstringierende, saure Arznei (Fr Schisandrae), die dann als Ausgleich zu den stark zerstreuenden Arzneien, deren Wirkung modifiziert und nebenwirkungsfrei hält. Daher wirkt auch Hb. Ephedrae in dieser Modifikation nicht blutdrucksteigernd.

  3. 3.

    Oft werden Arzneien mit unterschiedlicher Wirkung bewusst kombiniert, um komplexe Beschwerdebilder besser beeinflussen zu können. So wird bei einer Form des Burnout-Syndroms die Rezeptur Gui pi tang verwendet, die einerseits Qi-tonisierende Arzneien wie Rd. Ginseng und Rd. Astragali verwendet und andererseits entspannende Arzneien wie Sm. Ziziphi spinosae (Suan zao ren). Dadurch wird die Müdigkeit, die so typisch für das Burnout-Syndrom ist, behandelt, aber auch die zeitgleich vorhandene geistige Unruhe, die in so einem Fall oft zu Panikattacken führen kann.

Der Aufbau einer Rezeptur setzt sich aus einem hierarchischen Prinzip zusammen, das sich von der im alten China verwendeten Rangordnung ableitet:

  1. 1.

    Kaiserarznei : Dieser Bestandteil bestimmt die Hauptwirkrichtung der Rezeptur.

  2. 2.

    Ministerarznei : Wirkt ähnlich wie die Kaiserarznei und unterstützt und verstärkt diese in ihrer Wirkung.

  3. 3.

    Assistentenarznei : Behandelt Nebenbefunde, die von den Hauptarzneien nicht abgedeckt werden können, bzw. antagonisiert die Hauptarzneien, um Nebenwirkungen zu vermeiden.

  4. 4.

    Botenarznei: Kann die Wirkung der anderen Arzneien auf gewisse Organe, Meridiane oder Wirkrichtungen lenken und hat auch harmonisierende Wirkung auf die gesamte Rezeptur, indem sie toxische Nebenwirkungen abpuffert.

Während das Gesundheitssystem des 21. Jh. Krankheiten und Patienten in ICD-Codes einordnet und sich z. B. unter Gastritis ein gewisses Beschwerdebild vorstellt, werden im Konzept der chinesischen Phytotherapie des „Shānghán zábìng lùn“ Krankheiten und Patienten in Rezepturmustergruppen eingeteilt. Rezepturen beschreiben also genau komplexe Krankheitsmuster. So können sich TCM-Ärzte einen Patienten mit einem Li zhong wan-Muster genau vorstellen und wissen, dass es sich hier um einen kälteempfindlichen, verdauungsschwachen, appetitlosen, zu Durchfall neigenden Patienten handelt, der dann bei Kälte zu krampfartigen Bauchschmerzen neigt.

FormalPara Rechtliche Aspekte

Chinesische Arzneimitteltherapie ist in Österreich apothekenpflichtig, somit dürfen chinesische Arzneimittelrezepturen ausschließlich in Apotheken hergestellt und verkauft werden.

Zuletzt hat die EU-Richtlinie 2004/24/EG: „Traditional Herbal Medicinal Products Directive“ für große Aufregung gesorgt. Sie bestimmt, welche Anforderungen Fertigarzneimittel erfüllen müssen, um zugelassen zu werden, nämlich: medizinische Verwendung seit mehr als 30 Jahren, davon 15 Jahre in der EU. Ihre Anwendung muss ohne ärztliche Aufsicht möglich und sicher sein, weiters sind viele Indikationen von dieser Richtlinie ausgeschlossen.

Die EU-Richtlinie 2004/24/EG verpflichtet die Produzenten von pflanzlichen Fertigpräparaten und Mischpräparaten aus mehreren Kräutern zu Zulassungsverfahren. Sie müssen Dossiers über Qualität, Wirkung und mögliche Nebenwirkungen der einzelnen Erzeugnisse vorlegen.

Nicht betroffen von der „Traditional Herbal Medicinal Products Directive“ sind pflanzliche Arzneimittel, die in Apotheken nach ärztlichem Rezept oder nach Arzneibuchvorschriften hergestellt werden.

Daher fällt die chinesische Arzneimitteltherapie nicht in die Kriterien der EU-Richtlinie 2004/24/EG „Traditional Herbal Medicinal Products Directive“.

FormalPara Toxikologie und Sicherheitsaspekte

Auf TCM spezialisierte österreichische und deutsche Apotheken werden von Großhändlern mit chinesischen Arzneien beliefert, die aus zuverlässigen, staatlich kontrollierten Betrieben der VR China einkaufen und problemanfällige, aus China kommende Chargen auf Pestizide (inkl. Herbizide), Aflatoxine, mikrobielle Verunreinigungen und Schwermetallgehalt überprüfen.

Dringend abgeraten wird vom Kauf von Billigarzneien aus dem Internet, da diese oft weder auf Identität noch auf Reinheit überprüft sind.

Zur Überwachung eventueller Nebenwirkungen von TCM-Arzneien wurde das Centrum für Therapiesicherheit in der Chinesischen Arzneitherapie (CTCA) (► https://www.ctca.center/index.php/de) vom deutschen Arzt Dr. Axel Wiebrecht in Berlin gegründet, das sämtlichen gemeldeten Nebenwirkungen nachgeht und bei Problemen die Ärzteschaft informiert. Alle wichtigen Ausbildungsgesellschaften sind dort Mitglied, sodass ein schneller Infomationstransfer ermöglicht wird und die Sicherheit der Patienten gewahrt werden kann.

FormalPara Darreichungsformen

Dekokte (Tangji): stellen die häufigste klassische Zubereitungsart für chinesische Kräuter dar.

Die Arzneien werden in einem Topf aus Keramik, Email oder Edelstahl mit Wasser bis 1 cm oberhalb der Kräuter bedeckt. Nach 20–30 Minuten lässt man die Arzneien bei großer Hitze aufkochen und reduziert dann die Hitze für weitere 20–30 Minuten. Dann werden die Kräuter abgeseiht, neuerlich mit Wasser bedeckt, nochmals aufgekocht und 20–30 Minuten köcheln gelassen. Danach wird das Wasser wieder abgeseiht und mit der ersten Abkochung vermischt. Das fertige Dekokt ist im Kühlschrank mehrere Tage haltbar, sollte jedoch nicht kalt eingenommen werden.

Pulver (San) : Die Bestandteile werden zerrieben und eingenommen.

Pillen (Wan): Die zerriebenen Bestandteile werden mit Flüssigkeit oder Bindemittel zu Pillen geformt und sind dadurch leichter einnehmbar als Dekokte.

Granulate (Chongfuji): Die Arzneien werden dekoktiert und der Absud unter Vakuum bei relativ tiefer Temperatur eingedickt.

In Taiwan wird das eingedickte Granulat wiederholt auf einen Füllstoff gesprüht (meist die pulverisierte Ausgangsdroge, aber auch Maisstärke oder mikrokristalline Zellulose) und danach zum fertigen Granulat verarbeitet. Diese Granulate sind nicht vollständig wasserlöslich, die gepulverten Drogenanteile bilden nach dem Versetzen mit Wasser eine Suspension.

In der Volksrepublik China werden die Granulate in einem zweistufigen Verfahren hergestellt. Die eingedickte Flüssigkeit wird sprühgetrocknet, der Primärextrakt wird dann mit Hilfsstoffen (u. a. Maltodextrin) auf den gewünschten Verdünnungsfaktor eingestellt und anschließend zu einem Extraktgranulat verarbeitet.

Die fertigen Granulate werden dann vom Patienten in heißem Wasser angemischt bzw. aufgelöst und am besten eine Stunde vor oder nach einer Mahlzeit eingenommen. Granulate können von manchen Apotheken auch zu Tabletten gepresst werden.

Hydrophile Konzentrate : Hydrophile Konzentrate sind Kräuterextrakte aus einem Alkohol-Wasser-Gemisch mit Glyzerin als Stabilisator und sind besonders für die Behandlung von Kindern und geschmacklich empfindlichen Patienten geeignet. Sie müssen kühl gelagert werden.

Sirupe: Durch Vermischung von Dekokten mit Rohrzucker lassen sich für Kinder bekömmliche Sirupe herstellen.

Salben: Chinesische Arzneidekokte können dekoktiert, konzentriert in Salbengrundlagen gemischt und lokal auf die Haut appliziert werden (z. B. bei Neurodermitis, Akne oder auch bei Sportverletzungen). Salben können auch durch direkte Einarbeitung löslicher Granulate in handelsübliche Salbengrundlagen hergestellt werden.

Zäpfchen: Hochkonzentrierte Dekokte können auch zur Zäpfchenherstellung verwendet werden, weiters können Extraktgranulate auch direkt in die Zäpfchengrundlage eingeschmolzen werden.

FormalPara TCM-Therapie bei akuten Infekten

In der TCM gibt es 2 Klassiker, die sich besonders mit Infektionskrankheiten und deren Fortschreiten im Körper beschäftigen:

  • Shānghán zábìng lùn: der Klassiker für Kälte-induzierte und vermischte Erkrankungen

  • Wēn Bìng Lùn: der Klassiker für Wärme-induzierte Erkrankungen

8.1 Das Shānghán zábìng lùn 傷寒雜病論

Das Shānghán zábìng lùn wurde von Zhāng Zhòng-Jǐng ca. 200 n. Chr. verfasst und gilt als eines der ältesten und meist zitierten Lehrbücher der chinesischen Medizin. Ursprünglich verloren und rekonstruiert, besteht es aus 2 Teilen: dem Shānghán lùn (Klassiker für Kälte-induzierte Erkrankungen) (Zhang 1997) und dem Jīnguì Yàolüè (wesentliche Verschreibungen aus der Goldenen Kammer) (Wiseman und Wilms 2013).

Der erste Teil, das Shānghán lùn, setzt sich systematisch mit dem Ursprung und der Entwicklung von Kälte-induzierten Krankheiten und Behandlungsmöglichkeiten auseinander und verwendet perfekt modulierte Kräuter in Form von Rezepturen für eine große Bandbreite von Krankheitsmanifestationen. Unbestreitbar gilt der Autor Zhāng Zhòng-Jǐng bis heute als brilliantester medizinischer Denker, den China je hervorgebracht hat. Er beschreibt das Eindringen des Kälte-Pathogens in den Körper und dessen mögliche Transformation innerhalb von 6 Schichten. Dieses 6-Schichten-Modell übernahm Zhāng Zhòng-Jǐng von dem damals „relativ“ neuen Huángdì Nèijīng, jenem Buch, das als das früheste, vor 2200 Jahren geschriebene komplexe Werk über Traditionelle Chinesische Medizin gilt und das 2011 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde (Bing Wang 1997).

Die Transformation innerhalb der 6 Schichten stellt neben der Yin/Yang-Theorie und der Theorie der 5 Wandlungsphasen ein zusätzliches System symbolischer Methodologie dar und beschreibt 6 unterschiedliche Kategorien für Zustände, die direkt vom Wettermuster beeinflusst werden und die die Krankheitsentwicklung modifizieren können.

Da die formlosen Energien des Himmels und die geformten Elemente der Erde einander inspirieren, kann es“ laut Huángdì Nèijīng (Sùwèn Kapitel 66)innerhalb des Yin-Qi und Yang-Qi zu unterschiedlichen Quantitäten kommen und daher gibt es 3 Yin und 3 Yang. Das Yin wird in 3 verschiedene Yin Schichten geteilt, je nachdem wieviel Yin es enthält. Am meisten Yin enthält das Tai Yin, etwas weniger Yin befindet sich im Shao Yin und am wenigsten im Jue Yin. Auch das Yang wird entsprechend der Menge an Yang in 3 verschiedene Yang-Schichten geteilt. Tai Yang enthält das meiste Yang, gefolgt vom Yang Ming und dem Shao Yang, das am wenigsten Yang beeinhaltet.“

Diese 6 Schichten werden neben den Wettereinflüssen auch in Beziehung zu den 5 Elementen gesetzt (◘ Tab. 8.1).

Tab. 8.1 Sechs Schichten: 3 Yang- und 3 Yin-Schichten

Zhāng Zhòng-Jǐng widmete jeder Schichte ein Kapitel, indem er erstmals systematisch Krankheitsmanifestationen zahlreicher Ungleichgewichtszustände inklusive klinischer Diagnosen innerhalb der jeweiligen Schichte beschrieb und mit seinem großen Kräuterwissen vereinte. Dabei entwickelte er hoch-raffinierte Kräuterrezepturen, die auch heute, 1800 Jahre nach Abfassung dieses Klassikers der TCM, sehr häufig eingesetzt werden und aktueller denn je sind.

Für das Thema Allergie/Infektanfälligkeit ist es relevant, wie der individuelle Mensch auf die klimatischen Faktoren Kälte, Hitze, Trockenheit, Feuchtigkeit und Wind reagiert und wie die 3 Yin- und die 3 Yang-Schichten des individuellen Menschen mit diesen interagieren. Deshalb müssen diese 6 Schichten näher beschrieben werden:

8.1.1 Tai Yang (Blase/Dünndarm)

Diese äußerste Schichte mit ihren Leitbahnen Blase und Dünndarm stellt eine Schutzhülle des Körpers gegenüber Einflüssen der Außenwelt dar. In dieser Schichte zirkuliert das Abwehr-Qi (Wei Qi), das den Körper vor pathogenen Faktoren von außen bewahren soll. Seine physiologische Funktion ist der Schutz der Oberfläche. Das Abwehr-Qi reguliert das Öffnen und Schließen der Poren und die Schweißsekretion. Dadurch steuert es auch das „Versiegeln“ der äußersten Schichte, damit pathogene Faktoren wie Wind-Kälte oder Viren bzw. Bakterien nicht eintreten können. Wenn die äußeren Einflüsse zu stark werden oder das Wei Qi zu schwach ist, wird der Öffnungs-/Schließmechanismus der Poren gestört und der pathogene Faktor kann in den Körper eintreten. Dann nimmt die Krankheit ihren Lauf.

Der Meridian des mit der Tai Yang-Schichte assoziierten Organs Blase zieht von der Stirn über Nacken und Rücken, Hinterseite des Beins bis zu Spitze der kleinen Zehe und ist sehr anfällig für Einflüsse durch Kälte. Der zweite zugeordnete Meridian, der Dünndarmmeridian, umstreift ebenfalls den Nacken und die Schultern. Auch wenn die Assoziation mit dem Organ Dünndarm zunächst verwunderlich ist, kann man aufgrund des heutigen Wissens über die enorme immunologische Bedeutung der Mikrobiota, die die größte mengenmäßige Konzentration im Dünndarm haben, erkennen, wie genial man in China bereits vor 1800 Jahren gedacht hat. Auch der Dünndarm hat die Aufgabe des „Versiegelns“ und soll mit seiner intakten Epithelbarriere nur jene Nahrungsmittel bzw. Nährstoffe absorbieren, die der Körper verträgt, jedoch nicht durchlässig für Pathogene sein. Funktioniert diese „Versiegelung“ nicht, ist die Anfälligkeit für eine Dysregulation erhöht, einerseits weil Pathogene leichter eindringen können, andererseits jedoch weil der Dünndarm als Sitz des darmassoziierten Immunsystems immunologisch in die falsche (Th2-) Richtung steuern kann.

Schon im I Ging (chin. 易经, „Buch der Wandlungen“ oder „Klassiker der Wandlungen“) (Wilhelm 1967), einer Sammlung von Strichzeichnungen und den ältesten klassischen chinesischen Texten aus dem 3. Jahrtausend vor Christus, hatte die Blase das Hexagramm 12 , mit dem Namen pǐ, der laut Heiner Frühauf (einem der profundesten Sinologen, vergleichenden Sprachwissenschaftler und Kenner der TCM in der heutigen Zeit) ein alter Ausdruck für bù不(deutsch: nein) ist. Lt. Heiner Frühauf hatte die Tai Yang-Schichte also die Aufgabe, Nein zu sagen und zu entscheiden, was in den Körper darf und was nicht, sowohl außen über die Haut als auch über die im Embryonalstadium nach innen gestülpte Haut, über den Dünndarm.

Das Tai Yang-Kapitel beschreibt mit Akribie, welche Mechanismen und kompliziertere Krankheitsprozesse durch das Eindringen von pathogenen Faktoren (aus heutiger Sicht würde man vom banalen Infekt oder „common cold“ sprechen) in die Tai Yang-Schichte als äußerste der Yang-Schichten, aber auch überhaupt als äußerste Pforte des Körpers, aktiviert und ausgelöst werden können und wie die Transformation der Pathologie von der äußersten Schichte zu den inneren Schichten stattfindet. Dem Schutz dieser oberflächlichsten Schichte wird in der TCM oberste Priorität beigemessen und erklärt, warum fast die Hälfte des Shānghán lùn dem Tai Yang-Kapitel gewidmet ist.

Kommentar: Genau hier sind die heutigen Top-Allergologen in völligem Einklang mit Zhāng Zhòng-Jǐng, weil auch sie – fast 2000 Jahre später – erkannt haben, dass der „banale“ Infekt über immunologische Mechanismen zur Auslösung einer eosinophilen bzw. neutrophilen chronischen Inflammation und über Irritation der Th1,Th17/Treg/Th2-Balance mit veränderten Lipidmediatoren führen kann und dadurch komplizierte Krankheitsverläufe verursacht.

8.1.2 Yang Ming (Magen/Dickdarm)

Diese Schichte und deren zugehörige Meridiane bzw. Organe Magen und Dickdarm sind gekennzeichnet durch eine große Menge an Qi und Blut. Aus TCM-Sicht fermentiert und transformiert der Magen die aufgenommene Nahrung, bereitet sie für die Qi-Produktion vor und ist dadurch „Quelle des Körper-Qi“. Außerdem verdampft der Magen physiologisch die aufgenommenen Flüssigkeiten und schickt die nun entstandenen Säfte zur Lunge, wo sie wiederum auf Haut, Schleimhäute und Muskulatur verteilt werden.

Trifft nun der pathogene Faktor über den Tai Yang oder selten auch direkt auf die Yang Ming-Schichte, so kommt es zu einer heftigen Gegenwehr mit starken Krankheitszeichen wie hohem Fieber, starkem Schwitzen und Hitzegefühl (ohne Aversion gegen Kälte), großem Durst und kräftigem Puls. Man kann dieses Muster nun weiter in Hitze- und Füllemuster unterteilen.

Beim Yang Ming-Hitzemuster, auch als Yang Ming-Meridianmuster bezeichnet, beobachtet man nach Eintritt des pathogenen Faktors in den Meridian eine Umwandlung in Hitze mit einem Versengen von Körperflüssigkeit und Körperfeuchtigkeit mit trockenem Mund, trockener Zunge, trockenen Schleimhäuten und unstillbarem Durst.

Das Yang Ming-Füllemuster, auch Yang Ming-Darmmuster genannt, äußert sich in einer durch die Hitze entstandenen Ablagerung von Abfallstoffen im Darm mit typischen Symptomen wie abdominalem Völlegefühl, hartem Stuhl, Schwitzen an den Extremitäten, geistiger Unruhe und wellenförmigen Fieberschüben zu gewissen Tageszeiten.

8.1.3 Shao Yang (Gallenblase/3-facher Erwärmer)

Diese Schichte hat Scharnierfunktion und nimmt den eingedrungenen pathogenen Faktor meist aus der Tai Yang Schichte auf und befeuert ihn mit dem ministeriellen Feuer von Gallenblase bzw. 3-fachem Erwärmer und leitet ihn entweder wieder zurück an die Oberfläche oder weiter in die Tiefe. Die Shao Yang-Schichte wird oft auch als Drehpunkt (pivot, shu) zwischen den 3 Yang-Schichten bezeichnet, die das Qi dynamisch verteilt. Dringt ein sehr starkes Pathogen in die Shao Yang-Schichte ein, kann diese Drehachse blockiert werden und der pathogene Faktor bleibt in dieser Schichte stecken und kann weder vor noch zurück. Daher spricht man auch von einem „halb äußeren und halb inneren“ Zustand, weil der Krankheitsprozess weder im Äußeren noch im Inneren, sondern dazwischen stattfindet. Daher helfen weder Diaphorese noch abführende TCM-Methoden. Typische Symptome sind abwechselnde Hitze- und Kälteempfindungen. Kälte, wenn der pathogene Faktor Kälte überwiegt, und Hitze, wenn die insuffiziente Abwehr des wahren Qi überwiegt. Jedenfalls schafft es das wahre Qi nicht, den pathogenen Faktor zu eliminieren und dieser steckt nun in der Shao Yang-Schichte fest.

Physiologisch initiiert die Shao Yang-Schichte eine sanft nach oben gerichtete Bewegung der Wärme (ministerielles Feuer).

8.1.4 Tai Yin (Milz/Lunge)

Wenn die 3 äußeren Schichten das Pathogen nicht abhalten können, dringt es tiefer ein und trifft zunächst auf die Tai Yin-Schichte , wo es das Yang der Milz stören kann. Die physiologische Aufgabe der Milz in der TCM ist die Transformation der Nahrung in Qi. Der TCM-Begriff Milz entspricht, übersetzt in die heutige Zeit, auch der Funktion des Pankreas, das die TCM vor 2000 Jahren noch nicht kannte und das über seine enzymatischen Funktion die Nahrungsbestandteile aufspaltet und ermöglicht, dass Fette, Aminosäuren und Zucker dem Zitronensäurezyklus zur Verfügung gestellt werden können, damit sie schließlich in ATP (Adenosintriphosphat) umgewandelt werden können. ATP als universeller und unmittelbar verfügbarer Energieträger in jeder Zelle entspricht dem Qi-Begriff der TCM.

Zusätzlich ist die Milz in der TCM gemeinsam mit dem Magen auch für die Verdampfung der aufgenommenen Flüssigkeiten und deren Transformation in, den Körper gleichmäßig benetzende, Feuchtigkeit und in schützende, befeuchtende Schleimhautfilme verantwortlich.

Wenn das Milz-Yang durch die eindringende Kälte geschwächt wird, häuft sich die Kälte und Feuchtigkeit an, kondensiert und transformiert sich in Schleim, der an diversen Schleimhäuten oder Höhlen (Nasennebenhöhle, Mittelohr, Tuben, Polyposis nasi, Bronchien, Zysten) abgelagert werden muss oder als Durchfall bzw. schleimiges Sekret den Körper über seine diversen Öffnungen verlässt. Zusätzlich klagt der Patient über Bauchschmerzen, die sich durch Wärme verbessern, abdominelles Völlegefühl und Erbrechen sowie rezidivierende Infekte des Respirationstraktes mit viel Sekretbildung.

8.1.5 Shao Yin (Herz/Niere)

Das Shao Yin -Syndrom ist ein Muster der inneren Leere, die durch Eindringen eines pathogenen Faktors in das Innere entstanden ist. Man unterscheidet zwei verschiedene Transformationsmuster:

Bei der Kältetransformation (Han hua) gelangt Kälte aus der Tai Yin-Schichte, aber auch aus allen anderen Schichten in die Shao Yin-Schichte. Dort angekommen stört die Kälte das Nieren- und Herz-Yang mit Symptomen wie extremer Kälteempfindlichkeit, dem Wunsch, ständig und in eingerollter Position zu schlafen, nicht übelriechenden Durchfällen und viel hellem Harn. Der Puls ist fein und schwach. Die Kälte kann als so stark empfunden werden, dass selbst die dickste Kleidung nicht erwärmt.

Eine zweite Manifestation der Shao Yin Schichte zeigt sich als Hitzetransformation (Re hua) mit Yin-Mangel und Symptomen wie Herzklopfen, Unruhe, Schlaflosigkeit, Durst, trockene Kehle, trockener Husten, purpurrote Zunge und einem schnellen, zarten Puls. Diese Form der Transformation entsteht oft nach Yang Ming-Mustern, bei denen der Körper der ursprünglichen Kälte mit zu viel Hitze gegengesteuert und es im Laufe der Zeit durch die Chronfizierung an „Kühlflüssigkeit“ = Yin mangelt.

8.1.6 Jue Yin (Leber/Perikard)

Die Kälte braucht relativ lange, um in diese tiefste Schichte vorzudringen, und führt dann zu einer Abkühlung des Blutes. Physiologisch speichert die Leber das Blut und ist für dessen Bewegung und Verteilung verantwortlich. Lange Zeit wurde dieses Syndrom nicht verstanden, weil das Shānghán zábìng lùn von einem „gegenläufigen Fluss“ mit extremer Hitze oben und extremer Kälte im unteren Teil des Körpers spricht. Auch in dieser Phase können allergische Symptome entstehen. Rezepturen aus der Jue Yin-Schichte konnten in jüngster Zeit sehr gute Ergebnisse bei Erdnussallergie erzielen. Eine genauere Beschreibung dieser Vorgänge erfolgt im ► Abschn. 8.3.1.4.

Fazit: Zhāng Zhòng-Jǐngs 6-Schichten-Konzept war von der Überzeugung getragen, dass alle körperlichen Prozesse in Zusammenhang mit der makrokosmischen Sphäre stehen. In seinem Buch, das heute als eines der bedeutendsten und hervorragendsten Akte individueller Schöpfung in der chinesischen Medizin gilt, zeigt er erstmals auf, dass bestimmte Schlüsselsymptome und Schlüsselpulse zu einer gewissen Diagnose führen, für die er systematisch spezifische Behandlungsmöglichkeiten beschreibt. Seine Fähigkeit, aus den unzähligen Symptomen, die sämtliche Erkrankungen aufweisen, die Essenz herauszufinden, die ein spezifisches Syndrom symbolisiert, ist dafür verantwortlich, dass Zhāng Zhòng-Jǐng Werk bis heute als genial betrachtet wird.

Die Entschlüsselung dieser Essenz in heutige medizinische Diagnosen und Parameter stellt eine große Herausforderung dar, lohnt sich aber sehr. Die Beschäftigung mit dem Shānghán zábìng lùn gilt als die Königsdisziplin unter den TCM-Ärzten und benötigt viel Vorwissen. Nach intensivem Studium und Auseinandersetzung erkennen jedoch viele Ärzte, wie effizient die Rezepturen von Zhāng Zhòng-Jǐng auch bei Patienten von heute anwendbar sind und welch großen Stellenwert sie additiv zur State-of-the-art-Therapie haben können. Gerade im Zusammenhang mit den steigenden Allergieraten in der heutigen Zeit erkennt auch die wissenschaftliche Forschung die verloren gegangene systematische Betrachtungsweise von Krankheiten in Zusammenhang mit dem Umfeld und der Umwelt und bezeichnet dies heute als die epigenetischen Faktoren. Umso mehr kann das Werk von Zhāng Zhòng-Jǐng geschätzt werden, weil es „neue“, aber bereits 1800 Jahre alte Zugänge und Einblicke in die Krankheiten der heutigen Zeit ermöglicht.

8.2 Wēn Bìng Lùn 溫 病

Die Autoren dieses Klassikers über Wärme-induzierte Erkrankungen waren Wú Yòu Xìng (1582–1652), Yě Tiān Shì (1690–1760) und Wú Jū Tŏng (1758–1836) (Liu 2001). Dieses Werk entstand somit wesentlich später als das Shānghán zábìng lùn, nachdem in Südchina nach einer Folge von Epidemien das Bedürfnis aufkam, das Shānghán zábìng lùn um Methoden zu ergänzen, die speziell bei Wärme-bedingten infektiösen Volkskrankheiten wirksam sind.

Das Wēn Bìng Lùn verwendet ein 4-Schichten-Modell, um zu beschreiben, wie der pathologische Faktor Wärme oder Wind-Hitze in den Körper eindringt:

8.2.1 Abwehr- oder Wei-Schichte

Die Abwehr- oder Wei-Schichte ist die oberflächlichste Schichte, die für die Abwehr von Wärme-Hitze-Pathogenen verantwortlich ist. In der Wei-Schichte zirkuliert das Abwehr Qi, das sich sanft zwischen Haut, Subkutis und Muskulatur, jedoch auch in Nase und Kehle bewegt und das Öffnen der Poren der Haut kontrolliert. Für die gleichmäßige Verteilung des Abwehr-Qi ist die Lunge verantwortlich. Bei Kontakt mit einem Wärme-Hitze-Pathogen (Virus, Bakterium) entsteht nun ein Kampf mit dem Abwehr-Qi, der den gleichmäßigen Fluss des Abwehr-Qi hemmt. Die Lunge schafft es nicht mehr, das Abwehr-Qi an der Oberfläche und an den Schleimhäuten der Nase und des Rachens zu verteilen. Dadurch kann der Erreger eindringen und oberflächliche Beschwerden auslösen, die in diesem Fall äußere Hitzemuster sind: Fieber, Niesen, Rhinitis, Halsschmerzen und Husten und paradoxerweise leichtes Frösteln, wegen der Stagnation des Abwehr-Qi, das die Oberfläche nicht mehr wärmen kann. Manchmal kann bereits ein leichtes Durstgefühl auftreten, weil die Hitze bereits beginnt, die Flüssigkeiten zu schädigen.

In dieser Phase ist die Zunge noch kaum verändert, die Zungenspitze weist bereits eine leichte Rötung auf, was auf den pathogenen Faktor „Hitze“ zurückzuführen ist. Deshalb ist auch der Puls beschleunigt. Der Puls ist auch oberflächlich verstärkt tastbar, weil sich der pathogene Faktor noch ganz „außen“ befindet.

Allgemein sind die Zeichen noch milde, betreffen hauptsächlich den oberen Respirationstrakt und können bei rechtzeitiger Behandlung aus der Oberfläche eliminiert werden. Erfolgt die Behandlung zu spät oder ist der pathogene Faktor zu stark bzw. die Virulenz des Erregers zu hoch, kann die Erkrankung in die Qi-Schichte fortschreiten.

8.2.2 Qi-Schichte

Gelangt das Wärme-Hitze-Pathogen nun in die Qi-Schichte , trifft es auf heftige Gegenwehr des (noch) kräftigen Zheng-Qi. In der Qi-Schichte sind nun auch die inneren Organe Lunge, Milz, Magen und Dickdarm direkt involviert. Der Kampf der „hitzigen“ Gegner erzeugt Fülle-Hitze-Muster und eine Verletzung der Körperflüssigkeiten. Dadurch entstehen Symptome wie hohes Fieber (ohne Frösteln), Abneigung gegen Hitze, starkes Schwitzen, großer Durst, Ruhelosigkeit sowie -variabel- akute Entzündungen der diversen Organe.

Typisch für eine Erkrankung dieser Schichte sind der starke „große“ Puls und gelblicher (häufig dicker, manchmal aber auch bereits trockener) Zungenbelag, der die Fülle-Hitzesymptomatik dieses Stadiums verdeutlicht.

Meist gelangt das Pathogen über die Abwehr-Schichte in die Qi-Schichte. Manchmal kann es auch direkt den Magen/Darm attackieren. Typisch dafür wären sommerliche Gastroenteritiden.

Kommentar: Die Symptome der Qi-Schichte entsprechen oft jenen der Yang Ming-Schichte des 6-Schichten-Modells aus dem Shānghán zábìng lùn (obwohl diese durch Kälte ausgelöst, aber durch die massive Gegenwehr in Hitze umgewandelt werden) und werden zum Teil mit denselben Rezepturen behandelt.

8.2.3 Nähr- oder Ying-Schichte

Wenn der Erreger aus der Qi-Schichte nicht eliminiert werden kann, zieht er sich in die nächsttiefere Schichte, die Ying-(Nähr-) Schichte zurück. Der Organismus hat nun schon viel Qi verbraucht, die lang dauernde Hitze schädigt bereits die Schleimhäute und die „Kühlflüssigkeit“ geht zur Neige. Daher fühlen sich die Schleimhäute trocken an, auch die Haut wird trocken und zeigt evtl. sogar schon makulopapulöse Effloreszenzen. Das Fieber verschlechtert sich nachts, weil bereits ein Yin-Mangel eingetreten ist. Die schwelende Hitze versengt auch das Herz und verwirrt den Geist, führt zu Unruhe und Schlaflosigkeit. Dieser Patient ist nicht mehr durstig. Durst als Zeichen der Austrocknung der Magensäfte ist typisch für die Qi-Schichte. Wenn der Durst verschwindet, erkennt der TCM-Arzt, dass die Krankheit die Ying-Schichte erreicht hat. Die Zunge ist dunkelrot und trocken, der Puls wegen der Hitze beschleunigt.

Kommentar: Viele Symptome der Ying-Schichte entsprechen jenen der Shao Yin-Schichte des 6-Schichten-Modells, die in Hitze (Re hua) übergeht, und auch hier verwendet man zum Teil dieselben Rezepturen als Therapie.

Übersetzt in heutiges wissenschaftliches Denken entspricht diese Phase der nicht gestoppten Entzündung mit Neigung zu eosinophiler Inflammation. Einige Rezepturen dieser Schichte wirken gut bei Asthma oder auch bei trockener Bronchitis und eosinophiler Sinusitis.

8.2.4 Blutschichte

Die tiefste Schichte nach Wēn Bìng Lùn ist die Blutschichte . Wärme/Hitze ist nun aus der Ying-Schichte ins Blut übergetreten und aktiviert dieses zu chaotischen Bewegungen. Das erhitzte Blut irritiert die Gefäßwände, sodass es zu Nasenbluten, blutig tingiertem Sekret aus den Bronchien, blutigem Erbrechen und blutigen Stühlen kommen kann. An der Haut imponieren nun trockene oder makulopapulöse Exantheme, die beim Aufkratzen bluten. Die Hitze bringt die Körpersäfte aus der Tiefe zum Schäumen und diese „kochen“ nun nach oben. Daher besteht zwar ein Durstgefühl, der Patient möchte jedoch nicht trinken, sondern „nur seinen Mund mit Wasser ausspülen“. Die Hitze wühlt auch den Geist auf und äußert sich in starker Ruhelosigkeit. Die Zunge ist dunkelrot und hat Bläschen. Klinisch wäre eine akute Meningitis mit Exanthem ein typisches Beispiel für eine akute Manifestation einer Wärme-/Hitzeerkrankung, die bis in die Blutschichte vorgedrungen ist, die man heute jedoch niemals alleine mit TCM behandeln würde.

Im Alltag eines TCM-Mediziners sieht man jedoch häufig chronische Prozesse, bei denen die Hitze oder das Hitze-Toxin nach Infekten in die Blutschichte gelangt, dort stecken bleibt und Symptome wie eine trockene Neurodermitis, Asthma bronchiale und respiratorische Allergien, mit juckenden Schleimhäuten, kaum Sekretbildung oder trockenen Husten mit blutig tingiertem Sekret auslöst. Auch Autoimmunerkrankungen wie Purpura Schönlein Henoch, Lupus erythematodes, idiopathische Thrombozytopenie sowie akute Leukämien würden in dieses Bild passen.

Synoposis: Obwohl das Shānghán zábìng lùn und das Wēn Bìng Lùn aus völlig unterschiedlichen Zeiten stammen und primär entweder von eintretender Kälte bzw. von eintretender Hitze sprechen, gibt es Gemeinsamkeiten und manche Rezepturen werden von beiden Klassikern verwendet.

Gemeinsam ist den beiden Werken, dass sie das Eindringen von pathogenen Faktoren von außen nach innen und die entsprechende Gegenreaktion des Körpers beschreiben.

Wenn das Shānghán zábìng lùn die Yang Ming-Schichte beschreibt, wo die Kälte in Hitze umgewandelt wird, entspricht dies in weiten Teilen der Beschreibung der Qi-Schichte aus dem Wēn Bìng Lùn. Eine weitere Parallelität ist zwischen jener Manifestation der Shao Yin-Schichte des Shānghán zábìng lùn, die in Hitze übergeht, und der Ying-Schichte des Wēn Bìng Lùn zu beobachten. Auch der Bezug zum Blut der jeweils innersten Schichte der beiden Klassiker stellt eine gewisse Parallelität dar.

In den heute erhältlichen Büchern über TCM-Rezepturen werden die 6 Schichten des Shānghán zábìng lùn und die 4 Schichten des Wēn Bìng Lùn oft zwischendurch im Text erwähnt. Für TCM-Anfänger und mäßig Fortgeschrittenen ist es oft ziemlich verwirrend, die unterschiedlichen Schichten richtig zuzuordnen. Daher hat die Autorin im Folgenden versucht, diese komplizierten Zusammenhänge in einer vereinfachenden Grafik darzustellen und zusammenzufassen. Über 6 klassische Startrezepturenmuster soll die typische Pathogenese von Erkrankungen, die durch das Eindringen eines pathogenen Faktors in die jeweils tiefere Schichten entstehen, beschrieben werden.

Zhāng Zhòng-Jǐngs Leistung war es, diese Krankheitswege in Form von Mustern systematisch und sequenziell zu beschreiben, und er schuf dafür Rezepturen, die Jahrhunderte der Überprüfung überstanden. Die Rezepturen sind so wirksam, dass auch heute etwa ein Drittel aller verwendeten Rezepturen der TCM von Zhāng Zhòng-Jǐng stammen.

8.3 „Wait and see“ oder TCM-Therapie? 6 Startrezepturen oder „Wait-and-see“-Helfer beim akuten Infekt

Die TCM bietet vielseitige diagnostische Möglichkeiten, um zu erkennen, in welcher Schichte sich die aktuelle Krankheit befindet, und hat spezielle Kräuterrezepturen, um Krankheiten in den diversen Schichten abzufangen und zu sanieren, aber auch um ein Fortschreiten in die nächsttiefere Schichte zu vermeiden.

Beim banalen Infekt (der in Mitteleuropa und den USA am häufigsten durch den pathogenen Faktor Wind-Kälte ausgelöst wird) verwendete Zhāng Zhòng-Jǐng je nach Konstitution des Patienten verschiedene Startrezepturen, die sofort nach Erkrankungsbeginn eingenommen werden sollten, um das weitere Eindringen des pathogenen Faktors Kälte zu vermeiden.

Hier kommt Zhāng Zhòng-Jĭng dem Wunsch der Allergologen von heute nach bzw. er dachte vor 1800 Jahren genauso wie die heutigen wissenschaftlich tätigen Allergologen und versuchte den akuten Infekt augenblicklich abzufangen, um ein weiteres Fortschreiten in eine tiefere Schichte zu vermeiden. In die heutige immunologische Sprache übersetzt würde dies Stärkung der Immunabwehr des Wirts mit Aktivierung der Interferone, Modulation der passenden Th1,Th17-Treg-Th2-Antworten und der Lipidmediatoren bedeuten.

Somit stellen diese Rezepturen auch ein wunderbares Werkzeug dar, um in der „Wait-and-see“-Phase nicht nur zu „warten“, sondern den Körper zur Gesundung zu lenken und dem Patienten die Gabe eines Antibiotikums, aber auch eines Antipyretikums/NSAR zu ersparen.

6 wichtige Rezepturengruppen und die Wege und Muster, die sich der Infekt bzw. die Krankheit im entsprechenden Körper je nach der aktuellen Konstitution bahnt, wenn es verabsäumt wird, die Erkrankung rechtzeitig auszuleiten, sollen beschrieben werden.

Kommentar: Hier begibt sich die Autorin auf „Glatteis“, diesmal aus TCM-Sicht. Das Shānghán zábìng lùn ist für den TCM-Laien, aber auch für fortgeschrittene TCM-Ärzte oftmals schwer verständlich. In 398 Paragraphen beschreibt Zhāng Zhòng-Jǐng seine Sicht vom Entstehen und Fortschreiten von Erkältungserkrankungen. Heute können weltweit nur wenige Ärzte mit allen Passagen von diesem 1800 Jahre alten, oftmals kryptischen Text, der über die Jahrhunderte immer wieder von nachfolgenden Ärztegenerationen interpretiert und diskutiert wurde, umgehen. Obwohl die Rezepturen bis heute häufigst eingesetzt werden, wurde die Weisheit „zwischen den Zeilen“ in dieser langen Zeit jedoch nur innerhalb von gewissen elitären Ärztefamilien weitergegeben. Zwar hat jede TCM-Universität im heutigen China Shānghán zábìng lùn-Experten. Das „moderne“ China versucht sich jedoch dem Westen anzupassen und erforscht pharmakologisch intensiv die Wirkung von Einzelkräutern, aber nicht die der komplexen Rezepturen. Dadurch bleiben Teile des wahren Schatzes des Shānghán zábìng lùn nach wie vor unverstanden im Verborgenen.

Umgekehrt erlebt das Wissen dieses Klassikers unter sehr erfahrenen TCM-Ärzten im Westen einen wahren Boom. Die oft schwer verständlichen Paragraphen werden neu interpretiert und Shānghán zábìng lùn-Experten, wie Arnauld Versluys, Heiner Frühauf und der Österreicher Gerhard Schwestka, sind gefragte Referenten bei TCM-Kongressen, die man wie Opernstars schon Jahre im Voraus buchen muss. Die Autorin hatte die Ehre, bei diesen wunderbaren Lehrern lernen zu dürfen, und erkannte die mangelnde Interaktion zwischen der modernen Wissenschaft und dem jahrtausendealten Wissen. Genau dieses Wissen und auch die dazugehörigen Kräuter könnte die heutige evidenzbasierte Medizin gut gebrauchen, um aktuelle Fragen wie die der steigenden Allergieprävalenz zu beantworten.

Deshalb versucht die Autorin im Folgenden, Teile des komplexen Wissens des Shānghán zábìng lùn und auch des Wēn Bìng Lùn für Nicht-TCM-Ärzte bzw. für leicht fortgeschrittene TCM-Ärzte vereinfacht darzustellen, um genau dieser Ärztegruppe ein additives Denkkonzept vorzustellen, wie banale Infekte Asthma, Neurodermitis und andere chronische Krankheiten verursachen können und welche Wege sie dabei nehmen. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, weil dafür ein Wissens-Spagat über 2000 Jahre notwendig ist. Deshalb bitte ich um Nachsicht einerseits der Shānghán zábìng lùn-Experten, weil ich auf wenigen Seiten natürlich niemals vollständig sein kann, und andererseits von den Nicht-TCM-Ärzten, weil ich didaktisch nicht auf sämtliche Grundbegriffe der TCM eingehen kann.

Übersicht (◘ Abb. 8.4): Bei wem wird im Rahmen einer akuten Erkältung welche Startrezeptur eingesetzt?

  1. 1.

    Gui zhi tang: bei gesunden, aber minimal geschwächten und leicht erschöpften Menschen (ca. 70 % aller Mitteleuropäer)

  2. 2.

    Ma huang tang: bei gesunden, aber starken Menschen, die die Kraft haben, „heftig“ zu reagieren (fiebern schnell und hoch)

  3. 3.

    Xiao chai hu tang: bei Menschen, die immer sofort mit Halsschmerzen und Mandelentzündung sowie mit starken Schleimhautschwellungen reagieren und dabei zusätzlich unter extremen, subjektiv empfundenen Temperaturschwankungen leiden. Hier dringt der pathogene Faktor direkt in die Shao Yang-Schichte vor. Dieses Muster kann auch als Folgemuster eines Gui zhi tang-Musters entstehen.

  1. 4a.

    Xiao qing long tang: bei durch zu viel Feuchtigkeit vorbelasteten Patienten, die schon vor dem Infekt unter chronischer Verschleimung leiden (schleimiger Husten, Patienten mit chronischer Rhinosinusitis, Polyposis nasi, Kinder mit Seromukotympanon) und bei denen ein akuter Infekt häufig innerhalb kurzer Zeit in den unteren Respirationstrakt rutscht

  2. 4b.

    Wu ling san: wieder bei feuchtigkeitsbelasteten Patienten, nur diesmal eher im oberen Respirationstrakt mit rezidivierender Otitis media und evtl. chronisch-rezidivierender Rhinitis. Wu ling san hat engen Bezug zum Blasenmeridian und zur Niere, weshalb die Wirkung auf die Ohren, die nach TCM-Öffner der Nieren-sind, erklärbar wird.

  1. 5.

    Mahuang xixin fuzi tang: bei Menschen, die schon vor dem Infekt unter extremer Kälte leiden. Nicht nur die Füße sind kalt, sondern die Kälte zieht sich bis zum Unterbauch (Patienten tragen selbst im Sommer lange Unterhosen oder Stirnbänder und Mützen). Beim Infekt mit zusätzlicher Kälte von außen fühlen sich diese Patienten hochfiebrig, als hätten sie 39 °C, haben aber nur maximal 36,8 °C.

  2. 6.

    Yin qiao san: kein Rezept aus dem Shānghán zábìng lùn, sondern aus dem Wēn Bìng Lùn, dem Klassiker für Wärme-induzierte Erkrankungen: hier befällt Wind-Hitze als pathogener Faktor den Körper. In Mittel-Nordeuropa wird diese Rezeptur meistens nur im Sommer im Rahmen von hochakuten Infekten, wie eitrigen Anginen oder akuter Konjunktivitis bei hitzigen Patienten verwendet. Manchmal brauchen auch epidemische Infektionserkrankungen, wie die akute Influenza-Infektion mit hochfiebrigen Symptomen, zumindest Teile dieser detoxifizierenden Rezeptur. Auch bei der SARS-Epidemie wurde eine Modifikation von Yin qiao san angewendet.

Abb. 8.4
figure 4

6 mögliche Startrezepturen oder „Wait-and-see“-Helfer. Rezepturen zur Behandlung von Erkältungserkrankungen über die oberflächlichste der 6 „Schichten“ des Shānghán zábìng lùn (rot) – die Tai Yang-Schichte und die oberflächlichste der 4 Schichten des Wēn Bìng Lùn (gelb) – die Wei Schichte sowie Verhinderung des Ausbreitens der pathogenen Muster in tiefere Schichten

8.3.1 Gui zhi tang-Methode

8.3.1.1 Wind-Kälte befällt die Tai Yang-Schichte

Wie schon vorher beschrieben kannte Zhāng Zhòng-Jǐng im Jahr 200 n. Chr. keine Viren und Bakterien, sondern beobachtete empirisch, dass die äußeren pathogenen Faktoren Kälte und Wind den Organismus befallen und über die Poren der Haut, aber auch über Mund und Nase in den Körper eindringen. Dort bewirken sie eine Stagnation im Fluss des oberflächlichsten Qi, des Abwehr-Qi, das sich zwischen Haut und Subkutis befindet. Das Abwehr-Qi (Wei Qi) kann man sich als Kapillardurchblutung in der Unterhaut vorstellen, die durch Abstrahlung von Wärme den Körper unempfindlich gegenüber Wind und Kälte macht. Ist der pathogene Einfluss von außen zu stark oder das Wei Qi zu schwach, kann das Abwehr-Qi nicht mehr sanft und gleichmäßig fließen. Der Patient spürt eine Abneigung gegen Kälte und Schüttelfrost. Kälte dringt in Folge auch in die äußerste der 6 Schichten, in die Tai Yang-Schichte, und deren Meridiane (Blasen-/Dünndarm-Meridian), aber auch in den Lungenmeridian ein und blockiert dort den Fluss von Qi. Stagnation des Qi am Blasenmeridian, der von der Stirne nach dorsal paramedian zum Nacken zieht, verursacht Kopf- und Nackenschmerzen. Da die Lunge die Verteilung des Qi kontrolliert, und auch die Lunge beeinträchtigt ist, spürt der Betroffene eine verstopfte Nase, Niesen, Husten und Halskratzen.

Zunge:

- unauffällig oder dünner weißer Belag

Puls:

- oberflächlich, moderat

Abb. 8.5
figure 5

Gui zhi tang-Methode. Gui zhi tang befreit beim beginnenden respiratorischen Infekt die oberflächlichste Schichte des Körpers (Tai Yang) mit scharfen, warmen, leicht schweißtreibenden Arzneien, die den pathogenen Faktor Kälte über Schweißinduktion nach außen abfließen lassen, und stärkt die inneren Schichten des Körpers, um ein tieferes Eindringen der pathogenen Faktoren zu verhindern

Als Therapie befreit man die Oberfläche, indem man die Poren mit scharfen, warmen, schweißtreibenden Substanzen leicht öffnet und die Kälte über Schweißinduktion nach außen abfließen lässt (◘ Abb. 8.5).

Wenn nun die Konstitution des Körpers schon vor dem Infekt müde und geschwächt war, so reicht es nicht, nur die äußerste Körperschicht über Schwitzen zu befreien, sondern man muss auch den Körper stärken, damit er den Viren – oder aus TCM-Sicht dem pathogenen Faktor Wind-Kälte – besser widerstehen kann. Sehr gerne wird der Vergleich mit einem römischen Zeltlager herangezogen, das, wenn es angegriffen wird, die Grenzen verteidigen muss, um nicht eingenommen zu werden, jedoch auch für den Nachschub an Waffen, Nahrung für die Soldaten etc. von innen heraus sorgen muss, um den Angriff zu überstehen. Wenn der Nachschub schwächelt, kann der Krieg auf Dauer nicht gewonnen werden. Die folgende Rezeptur Gui zhi tang arbeitet in diese Richtung. Sie besteht aus Arzneien, die die Oberfläche (Abwehr-Qi = Wei Qi) verteidigen, indem sie zart Schwitzen induzieren, jedoch auch das Innere (Nähr-Qi = Ying Qi) nähren, um ein tieferes Eindringen der pathogenen Faktoren zu vermeiden und den „Abwehrkampf“ so lange, wie notwendig, zu ermöglichen.

Gui zhi tang - :

SHL § 12 „Dekokt aus Zimtzweigen“ (◘ Abb. 8.6):

Rm. Cinnamomi (Gui zhi) - :

warm, süß, scharf, Zimtzweige

Rd. Paeoniae albae (Bai shao) - :

kühl, bitter, sauer, weiße Pfingstrosenwurzel

Rh. Zingiberis rec. (Sheng jiang) - :

warm, scharf, frischer Ingwer

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) - :

süß, warm, Süßholzwurzel

Fr. Ziziphi jujubae (Da zao) - :

süß, neutral, rote Dattel

Abb. 8.6
figure 6

Gui zhi tang. 5 Arzneien: Zimtzweige, Wurzeln der weißen Pfingstrose, frischer Ingwer, rote Datteln, Süßholzwurzeln

Rezeptanalyse: Diese Rezeptur gilt als das „Kronjuwel“ des Shānghán lùn und ist die Basis für viele andere Rezepturen. Die warmen, scharfen Zimtzweige entlasten die von außen zugezogene Wind-Kälte. Über eine Öffnung der Poren und zarte Stimulierung von Schweißsekretion kann der pathogene Faktor Kälte wieder nach außen geleitet werden. Der frische Ingwer, ebenfalls warm und scharf, hilft den Zimtzweigen das Äußere zu entlasten. Außerdem regulieren die Zimtzweige gemeinsam mit der Wurzel der weißen Pfingstrose die Disharmonie zwischen Abwehr- und Nähr-Qi. Die weiße Pfingstrosenwurzel ist sauer, daher adstringierend, und blockiert dadurch das tiefere Eindringen des pathogenen Faktors Wind-Kälte ins Innere des Körpers. Gemeinsam mit Süßholz und den Datteln ist sie in dieser Rezeptur für die Versorgung und den „Nachschub“ zuständig. Das Süßholz und die Datteln tonisieren die Milz und harmonisieren und stärken so das Innere, während die Oberfläche entlastet wird. Im Originaltext steht auch, dass Gui zhi tang unbedingt warm eingenommen und der Patient zwei Stunden zur Schweißbildung zugedeckt werden sollte. Außerdem „nehme man nach einer Weile dazu noch Haferbrei oder Reisschleim ein“, um die Wirkung zu verstärken. Tritt Schwitzen ein und verschwindet das Syndrom, kann man die Einnahme beenden. Wenn kein Schwitzen eintritt, nimmt man das Dekokt innerhalb eines halben Tages noch 2 weitere Male ein. Tritt noch immer kein Schwitzen auf, verabreicht man das Dekokt fortlaufend 2- bis 3-mal pro Tag.

Akupunktur

Oberfläche befreien: B 12, Di 20

Wind-Kälte vertreiben: Lu 7, G 20, LG 16

Dingchuan

Ernährung

Ernährung ist ein ganz wichtiger Bestandteil in der TCM. Man isst, um Kraft zu bekommen, und deshalb betrachtet die TCM die Nahrung als wichtigsten Energielieferanten oder Qi-Produzenten. Mit thermischen und geschmacklichen Aspekten kann Ungleichgewichtszuständen im Körper gegengesteuert werden.

Die Wind-Kälte wird mit scharfen, warmen Speisen und Gewürzen ausgeglichen:

– wärmende Speisen: heiße Suppe, Fleischbrühe

– scharfe Gewürze: Zwiebel, Knoblauch (s. ◘ Abb. 8.7), frischer Ingwer, Kren, Chilli, Rettich, Cayennepfeffer

– schweißtreibende Tees mit frischem Ingwer, Zimt und

braunem Zucker (innerhalb der ersten 24 Stunden)

– dazu verabreicht man Reis, um das Innere zu kräftigen

Abb. 8.7
figure 7

Abteilung für „Wind-Kälte-Entfernung“ auf einem Markt in China. Zwiebel, Knoblauch und frischer Ingwer sind geeignete Nahrungsmittel für die Anfangsphase des akuten respiratorischen Infekts im Herbst und Winter

Auch die westliche traditionelle Medizin verwendet Wickel, Sauna und schweißtreibende Tees!

Wenn sich ein akuter Infekt ebenfalls mit Fieber, Frösteln, aber Schweißlosigkeit zeigt, aber ein steifer Nacken im Vordergrund steht, liegt aus TCM-Sicht auch der pathogene Faktor Wind-Kälte vor, der hier besonders den oberen Tai Yang einschnürt und die Körpersäfte daran hindert, Kopf und Nacken zu erreichen und dadurch einen Torticollis spasticus oder Nackenschmerzen erzeugt. Die Muskelschmerzen werden von Zhāng Zhòng-Jǐng bereits als erstes Zeichens des Fortschreiten des pathogenen Faktors in Richtung Yang Ming-Schichte interpretiert. Als Therapie muss man das Äußere und die Muskelschichte von Wind-Kälte befreien und Säfte erzeugen. Dabei wird die Rezeptur Gui zhi tang um 2 Arzneien ergänzt und heißt dann

Ge gen tang :

- SHL § 31,32

Rm. Cinnamomi (Gui zhi) - :

warm, süß, scharf

Rd. Paeoniae albae (Bai shao) - :

kühl, bitter, sauer

Rh. Zingiberis rec. (Sheng jiang) - :

warm, scharf

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) - :

süß, warm

Fr. Jujubae (Da zao) - :

süß, neutral

plus :

Rd. Puerariae (Ge gen) - süß, scharf, kühl: nährt die Sehnen

Hb. Ephedrae (Ma huang) - warm, scharf, bitter

Puls:

li

1. Position: oberflächlich, saitenförmig

 

re

2. Position: oberflächlich, schlüpfrig: Tai Yang/Yang Ming

 

re

1. Position: saitenförmig: Holz-Puls an Metallposition: daher süße Kräuter geben!

Rezeptanalyse: Aus klassischer TCM-Sicht startet bei diesem Krankheitsbild bereits der Übertritt des pathogenen Faktors von Tai Yang zu Yang Ming. Rd. Puerariae befreit die Muskelschicht von den pathogenen Faktoren, entspannt dadurch den Nacken und bringt auch Körpersäfte in die obere Rückenpartie. Gemeinsam mit den sehr stark Wind-Kälte-entlastenden Hb. Ephedrae und Rm. Cinnamomi wird die Oberfläche befreit und die Muskulatur entspannt. Gerne wird dieses Rezept auch beim Übergang einer akuten in eine chronische Rhinosinusitis mit Schleimhautschwellung und Windempfindlichkeit gegeben. Nachdem Rd. Puerariae auch Durchfall stoppen kann, wird diese Rezeptur auch bei fieberhaften Infekten mit Diarrhö verschrieben.

Wie schon im ► Abschn. 7.4.1. beschrieben, hemmt Ge gen tang die virale Replikation und stimuliert die Ausschüttung von IFN-β aus Epithelzellen (Chang et al. 2012).

Wenn der pathogene Einfluss in der Tai Yang-Schichte nicht abgewehrt werden kann, reagiert der Körper auf 2 mögliche Arten:

  1. 1.

    Der pathogene Faktor Kälte kann in die Yang Ming-Schichte übergehen und dabei Fieber und Entzündung der Schleimhäute ausbilden (s. ► Abschn. 8.3.2.2).

  2. 2.

    Bei mangelnder Reaktion des Körpers, besonders gefördert durch vorzeitige Gabe von Antipyretika, wird ein adäquates Anfiebern verhindert und der Infekt schreitet in die Shao Yang-Schichte fort.

8.3.1.2 Kälte in der Shao Yang-Schichte

Wenn der pathogene Einfluss in der Tai Yang-Schichte nicht abgewehrt werden konnte, weil keine Schweißsekretion ausgelöst wurde oder das Wärmen der Oberfläche nicht stark genug möglich war bzw. durch Antipyretikaeinnahme der physiologische Prozess des Fieberns unterdrückt wurde (aus TCM-Sicht kühlen Antipyretika und verstärken dadurch den Faktor Kälte), dringt der pathogene Faktor Wind-Kälte in eine tiefere Schicht – die Shao Yang-Schichte – ein. Es handelt sich hier um den Kampf zwischen der Wind-Kälte, die versucht, tiefer einzudringen, und dem „Wahren“ Qi (Zheng Qi), das versucht, den pathogenen Faktor nach außen zu treiben. Dieser Zustand ist so tief, dass er durch die Schwitzmethode mit Gui zhi tang nicht mehr eliminiert werden kann, ist aber noch nicht tief genug, um durch Abführen über den Stuhl eliminiert werden zu können. Dadurch entsteht ein „halb äußerlicher und halb innerlicher“ Zustand, mit abwechselndem Fieber und Frösteln. Der Patient berichtet dann als Kardinalsymptom, dass ihm sehr schnell zu heiß und im nächsten Moment sofort wieder zu kalt sei, weiters über ein Völlegefühl im Thorax, und im Hypochondrium. Der halb innerliche Zustand äußert sich in Hitze, die sich nach oben bewegt, mit bitterem Mundgeschmack, Schwindel und Engegefühl im Thorax, mit entzündeten Schleimhäuten in Bronchien, Pharynx und Nase und damit verbundenem Husten, Schnupfen und Halsschmerzen. Im Shao-Yang trifft der pathogene Faktor nun auf das ministerielle Feuer, das die inflammatorische Phase entfacht und zu den oben erwähnten Schleimhautentzündungen, aber auch bereits zu spastischer Bronchitis und akuten Exazerbationen eines Asthma bronchiale führen kann. Trotzdem hat der Patient kalte Hände (nur die Fingerspitzen sind kalt) und unangenehme Kälte in den Zehenspitzen. Die assoziierten Meridiane/Organe des Shao Yang sind der 3-fache Erwärmer und die Gallenblase, die in diesem Zustand den Magen attackiert, was zu Sodbrennen, Nausea und Völlegefühl führen kann.

Xiao chai hu tang :

- SHL § 96: „Kleines Bupleurum Dekokt“ ( wird im SHL 12 x erwähnt)

Rd. Bupleuri (Chai hu):

- kühl, leicht scharf

Rd. Scutellariae (Huang qin):

- bitter, kalt

Rh. Pinelliae (Ban xia):

- warm, scharf

Rh. Zingiberis rec. (Sheng jiang):

- warm, scharf

Rd. Ginseng (Ren shen):

- neutral, süß, bitter

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao):

- süß, warm,

Fr. Ziziphi jujubae (Da zao):

- warm, süß: rote Datteln

Puls:

- dünn und saitenförmig an der linken mittleren Position

Zunge:

- Belag: weiß und dünn

Rezeptanalyse: Bupleurum ist die Arznei, um den pathogenen Faktor aus der Shao Yang-Ebene zu entlüften, besonders wenn sie mit Rd. Scutellariae kombiniert wird. Diese bitter-kalte Arznei lässt Hitze aus dem Shao Yang abfließen. Rhizoma Pinelliae wärmt und transformiert Schleim und verbessert den Husten. Ginseng, frischer Ingwer, Süßholz und Datteln unterstützen das „Wahre“ Qi und verhindern, dass der pathogene Faktor tiefer in den Körper eindringt. Ginseng im Speziellen gibt dem Körper die Kraft, um den pathogenen Faktor endlich los zu werden.

Dieser Zustand entwickelt sich oft im Verlauf eines Infekts (3.–10. Tag), wenn die Tai Yang-Schicht nicht befreit werden konnte, aber auch manchmal im Anschluss an einen Infekt, wenn noch Restbeschwerden mit Temperaturempfindlichkeit und Bronchitis, Halsschmerzen oder Sinusitis vorhanden sind.

Xiao chai hu tang wird auch als 3. Startrezeptur beschrieben. Sie wird gerne bereits als Anfangsrezeptur bei Patienten gegeben, die beim Infekt von Beginn an über stark schmerzende und geschwollene Schleimhäute mit Tonsillitis oder Rhinosinusitis klagen, weil das ministerielle Feuer des Shao Yang hochgeflammt ist (◘ Abb. 8.25 und 8.27). Durch dieses Hochsteigen des Shao Yang-Feuers empfinden diese Patienten starke Schmerzen im Hals und der HNO-Arzt sieht stark gerötete Tonsillen und Schleimhäute, die auch schon gelbliche Stippchen tragen können, jedoch noch mit negativem Streptokokken-Schnelltest. Oft tritt dieses Symptom bei jenem Menschentypus auf, dem auch im Alltag schnell die „Galle hochsteigt“. Somit stellt Xiao chai hu tang den idealen „Wait-and-see“-Helfer bei beginnender Tonsillitis dar (s. ► Abschn. 8.3.3.1).

Analysen von Rd. Bupleuri offenbarten 15 phytochemische Inhaltsstoffe, hauptsächlich Flavonoide und Lignane. Extrakte aus Rd. Bupleuri zeigten antivirale, aber auch antibakterielle Wirksamkeit, besonders gegen grampositive Keime (Mohamed et al. 2014).

In Zellkulturen von Neugeborenen zeigte Xiao chai hu tang antivirale Aktivität gegenüber Coxsackie-B-Virus-Typ-1-Infektionen, indem es die virale Replikation, über Induktion der angeborenen Immunabwehr über IFN-α- und IFN-β-Sekretion, hemmte. Dieser Effekt trat sowohl prophylaktisch verabreicht in der Frühphase des Infekts, als auch therapeutisch gegeben in einer späteren Phase des Infekts auf. Außerdem neutralisierte die Rezeptur den zytopathischen Effekt des Virus (Cheng et al. 2006).

Idealerweise kann die Rezeptur dann noch mit 2–3 der folgenden Kräuter (zur Auswahl) mit spezifisch antiinflammatorischer Wirkung auf den Rachen ergänzt werden:

Rd. Isatidis (Ban lan gen):

- kalt, bitter

Fo. Isatidis (Da qing ye):

- sehr kalt, bitter, salzig

Fr. Lasiospherae (Ma bo):

- neutral, scharf

Rd. Platycodi (Jie geng):

- neutral, scharf, bitter

Fr. Arctii (Niu ban gzi):

- kalt, scharf, bitter

Extrakte von Folium Isatidis hemmten RNA- und DNA-Viren (Influenza A, Coxsackie B und RSV und Adeno-Virus Typ 7) in vitro. In vivo konnten damit im Mausversuch die virale Replikation und die Gewebsschäden der Lunge abgeschwächt sowie die Überlebenszeit verlängert werden (Deng et al. 2013).

Akupunktur Di 4, Le 3, G 41, 3E5, PC 6 plus Lu 11, M 10

Wenn noch mehr äußere Symptome (in der Tai Yang-Schichte) vorhanden sind, was sich in Abneigung gegen Kälte und Gliederschmerzen äußern würde, ergänzt man die Rezeptur mit Rm. Cinnamomi (Gui zhi). Die Rezeptur heißt dann:

Chai hu gui zhi tang - :

SHL § 164

Die Rezeptur Xiao chai hu tang kann nun entsprechend der Symptome Patienten-zentriert modifiziert werden.

Bei Beschwerden der Nase und Nasennebenhöhlen: plus 2–3 der folgenden Kräuter zur Auswahl:

Fl. Magnoliae (Xin yi):

- nasenabschwellend, antihistaminische Wirkung

Fr. Xanthii (Cang er zi):

- nasenabschwellend, antihistaminische Wirkung

Rd. Anglicae dahuricae (Bai zhi):

- nasenabschwellend, antihistaminische Wirkung

Rd. Saposhnikoviae (Fang feng):

- scharf, süß, leicht warm, vertreibt Wind-Feuchtigkeit

Rd. Ligustici (Gao ben):

- scharf, warm, bei Schmerzen im Bereich der Zähne und bis zum Scheitel

Rh. Cimicifugae (Sheng ma):

- süß, scharf, kühl, aufsteigende Wirkung, leitet Rezeptur zum Gesicht

Hb. Schizonepetae Hb. (Jing jie):

- scharf, leicht warm, vertreibt Wind

Rd. Platycodi (Jie geng):

- neutral, bitter, scharf, bei zähem Schleim

ev. plus Cang er zi san:

Fl. Magnoliae (Xin yi):

- warm, scharf

Fr. Xanthii (Cang er zi):

- warm, süß, bitter

Rd. Anglicae dahuricae (Bai zhi):

- warm, scharf

Hb. Menthae (Bo he):

- kühl, scharf, aromatisch

Diese Rezeptur und besonders Fr. Xanthii wurden schon im ► Abschn. 7.4.1 (◘ Abb. 7.12) beschrieben, weil sie lt. Studien Nasenschleimhaut-abschwellende Wirkung zeigen, aber auch die eosinophilen Granulozyten in der Nasenschleimhaut, die Histaminfreisetzung, IgE, IL-5, IL-6 und IL-1β sowie die Phosphorylierung von NF-κB hemmen. So gesehen könnte diese Rezeptur die Entstehung einer Eosinophilie verhindern bzw. als Therapie bei der eosininophilen Rhinosinusitis verwendet werden. Aus TCM-Sicht kritisch betrachtet, arbeitet Cang er zi san (wenn ohne Zusatz verwendet) jedoch nur in den äußeren Schichten und eigentlich fehlen darin Arzneien, die die Schleim-transformierende Wirkung der Milz konstitutionell stärken. Daher sollte diese Rezeptur idealerweise als Ganzes einer anderen Rezeptur beigefügt werden, je nachdem, wo sich der pathogene Faktor befindet. Wenn dieser sich noch in der Shao Yang-Schichte befindet und der Patient das klassische Symptom des „schnell zu heiß, schnell zu kalt“ aufweist, wäre bei inzipienter Sinusitis oder starkem Schnupfen eine Ergänzung zu Xiao chai hu tang ideal.

Diese Kombination kann aber auch verwendet werden, wenn der Patient an chronischer Sinusitis leidet und die Bandbreite der Wärmeregulation sehr gering ist. Aus TCM-Sicht hat sich bei der chronischen Rhinosinusitis der Infekt in der Shao Yang-Schichte verkeilt und kann weder nach außen, noch nach unten abgeleitet werden. Rd. Bupleuri hilft dann, die Ventilation des pathogenen Faktors zu bewerkstelligen, und Rd. Ginseng gibt dem Körper die Kraft dazu, die durch den Krankheitsprozess schon teilweise verloren gegangen sein könnte.

Akupunktur ev. plus Di 19/20, Lu7, PdM, M 2

Sehr oft kommt es in dieser Krankheitsphase zu Husten bzw. zu Asthmaexazerbationen. In der Praxis sieht man hier häufig, besonders nach Gabe von Antipyretika bzw. bei Aspirin-Unverträglichkeit, verstärkt auftretende trockene oder feuchte Bronchitiden, die auch bereits spastisch verlaufen können. Diese Symptome könnten auch einer AERD („aspirin exacerbated respiratory disease“) entsprechen. Der Gallenblasenmeridian (Beinmeridian des Shao Yang) ist nach der 5-Elemente-Lehre der gekoppelte Meridian des Lebermeridians und für den gleichmäßigen Fluss von Qi im Körper zuständig. Bei Blockade können Giemen und trockene Rasselgeräusche entstehen. Hier verfügt die TCM nun über ein großes Repertoire an Arzneien mit spezifischen Wirkungen, die individuell an die aktuellen Beschwerden des Patienten angepasst werden können.

Bei Husten und Bronchitis: Xiao chai hu tang plus 2–3 der folgenden Kräuter zur Auswahl:

Fr. Trichosanthis (Gua luo) -:

kalt, süß, leicht bitter, schleimlösend

Rd. Trichosanthis (Tian hua fen) -:

kalt, süß, leicht bitter, bei zähem, schwer löslichem Schleim

Fo. Perillae (Zi su ye) -:

warm, scharf, aromatisch, antipyretisch, bronchodilatativ

Fr. Perillae (Zi su zi) -:

warm, scharf, hustenlösend, leitet rebellierendes Qi nach unten

Sm. Armeniacae (Xing ren) -:

warm, bitter, leicht befeuchtend, Husten lösend bei trockenem Husten

Rd. Platycodi (Jie geng) -:

neutral, scharf bitter, bei zähem, dick-schleimigem Husten

Rh. Belamcandae (She gan) -:

kalt, bitter: antivirale Wirkung, starke Schleimtransformation

Rd. Asteris (Zi wan) -:

leicht warm, bitter, scharf: antiviral, hustenstillend, schleimlösend

Rd. Stemoniae (Bai bu) -:

süß, leicht warm, bitter: eher bei trockenem Husten

Rh. Cynanchi (Bai qian) -:

scharf, süß, leicht warm, bitter: bei zähem Schleim, der in der Kehle gurgelt

Co. Mori (Sang bai pi) -:

Rinde des Maulbeerbaums: kalt, süß, lindert Husten und Atemnot bei bereits beginnender Hitze, fördert die Abwärtsbewegung und Diurese

Bei spastischer Bronchitis und Asthma mit Kälte: Xiao chai hu tang plus 2–3 der folgenden Kräuter zur Auswahl:

Die Arzneien für diese Indikationen sollten scharf sein, um die Stagnation von Qi (= Spasmus) zu lösen, und warm sein, um die Kälte zu entfernen.

Sm. Sinapis (Bai jie zi) - :

Senfsamen: warm, scharf, aromatisch

Rh. Zingiberis off. (Gan jiang) - :

heiß, scharf, verbessert Feuchtigkeitstransformation der Milz

Fr. Schisandrae (Wu wei zi) -:

warm, sauer

Sm. Armeniacae (Xing ren) -:

warm, bitter, leicht feucht

Fr. Xanthii Fr. (Cang er zi) -:

warm, scharf, bitter, antihistaminische Wirkung, reduziert Eosinophilie

Rd. Asteris (Zi wan):

- leicht warm, bitter, scharf

Rm. Cinnamomi (Gui zhi):

- warm, scharf, süß

Pc. Cicadae (Chan tui) -:

kalt, salzig, leicht süß: gut gegen Spasmen

Rd. Paeoniae albae (Bai shao) - :

sauer, kühl, bitter. Eventuell erst nach dem 4. Tag des Infekts dazugeben, verhindert Übertritt in die Jue Yin-Schichte und „Austrocknen“ der Leber durch das ministerielle Feuer, stärkt Blut und löst Spasmen

In Kombination mit Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao), das IL-4, IL-5, IL-13 senkt und IFN-y erhöht, bildet Bai shao die berühmte Rezeptur: Shao yao gan cao tang, die wunderbar spasmolytisch im ganzen Körper eingesetzt werden kann.

Akupunktur ev. plus B13, Lu 1/2, Lu 7, KG 17, M 40, G 34, Ding chuan

Auf die spastische Bronchitis mit verstärkter Hitzesymptomatik wird in ► Abschn. 8.3.3 genauer eingegangen.

Während bei Kälteerkrankungen der Shao Yang-Schichte trotz der Kälte noch „ministerielles“ Feuer vorhanden ist, das sich nach oben bewegt, wodurch oben Hitze und unten Kälte entsteht, folgt auf diesen Zustand, wenn er nicht behoben werden kann, sehr häufig ein Tiefertreten des pathogenen Faktors Kälte in die Tai Yin-Schichte.

Der pathogene Faktor hat somit die 3 oberflächlichen Yang-Schichten verlassen und dringt nun in Richtung der 3 inneren Yin-Schichten vor, wo er sich „festhakt“ und schwieriger zu eliminieren ist. Immunologisch gesehen geht hier die Krankheit von der akuten Entzündung in einen chronifizierten Prozess über, der sich, aus heutiger Sicht, entweder in eine „nichtgestoppte“ neutrophile Inflammation oder in Richtung eosinophiler Inflammation weiterentwickeln kann.

Das Syndrom der „Kälte in der Tai Yin-Schichte“ entspricht eher der chronischen neutrophilen Entzündung.

Die Entwicklung in Richtung eosinophiler Entzündung wird beim Eindringen des pathogenen Faktors in die Hitze-Transformationsschichte des Shao Yin und in die Jue Yin-Schichte besprochen.

Die Tatsache, dass Zhāng Zhòng-Jǐng diese Differenzierung oder „Phänotypisierung“ bereits vor 1800 Jahren empirisch vornahm und mit dem, ihm eigenen, TCM „Vokabular“ beschrieb, zeigt, wie genial dieser Mann gewesen sein muss und dass er durchaus als Vordenker der heutigen Immunologie angesehen werden kann. Zusätzlich schuf er jedoch auch wirksame pflanzliche Rezepturen für jede Nuance dieser Symptome, die seit Jahrhunderten klinisch erfolgreich angewendet werden, die jedoch die heutige wissenschaftliche Immunologie noch nicht entdeckt hat. Diese Rezepturen unterscheiden sich von sämtlichen Medikamenten gegen Infektionskrankheiten, da sie weniger den Erreger und die proinflammatorischen Reaktionen des Körpers, wie Fieber, bekämpfen, sondern die körpereigenen Selbstheilungskräfte aktivieren und regulieren.

8.3.1.3 Kälte in der Tai Yin-Schichte oder kalter Schleim behindert die Lunge

Bei Gesundheit wärmt aus TCM-Sicht das Feuer des Herzens, das über Perikard und Dünndarm weitergeleitet wird, auch das Wasser der Nieren und die Milz, wodurch physiologischer Dampf entsteht. Dieser Dampf strebt nach oben und benetzt die Schleimhäute und bildet einen schützenden, klaren Schleimhautfilm.

Wenn im Verlauf der Erkrankung die Kälte überwiegt, weil der Körper es nicht geschafft hat, die Kälte aus der Shao Yang-Schichte zu eliminieren, und das gegenregulierende, wärmende Yang immer mehr abnimmt, dann kann die Kälte noch tiefer – in die Tai Yin (Milz/Lunge)-Schichte – eintreten (◘ Abb. 8.8) und schwächt deren feuchtigkeitstransformierende Funktionen. Was davor noch „warmer Dampf“ war, entwickelt sich aufgrund fehlender Wärme und fehlendem Yang zu „kaltem Schleim“, der sich in vermehrter Feuchtigkeit und Sekreten im Respirationstrakt und Symptomen wie Husten mit klarem, weißen Sputum und feuchten Rasselgeräuschen, Schnupfen mit weißlichem Sekret und nasaler Verstopfung, Sinusitis und Druckgefühl in den Ohren äußert. Der mittlerweile entstandene Yang-Mangel führt zu aufgestauten Säften und aufsteigendem Yin und bewirkt, dass in der Lunge der Qi-Mechanismus unterbrochen und die Qi-Richtung geändert wird, was zu Husten führt. Der Patient empfindet ein Völlegefühl und Unbehagen in Thorax und Diaphragma.

Abb. 8.8
figure 8

Übergang in die Tai Yin-Schichte. Kann die eindringende Kälte weder an der Tai Yang-Schichte, noch in der Shao Yang-Schichte aufgehalten werden, dringt die Kälte in die Tai Yin-Schichte ein und stört deren feuchtigkeitstransformierende Funktionen. Wegen fehlender Wärme und fehlendem Yang entsteht kein physiologischer „warmer Dampf“, der die Schleimhäute sanft und gleichmäßig benetzen würde, sondern „kalter Schleim“, der sich in vermehrter Feuchtigkeit und Sekreten im Respirationstrakt und Symptomen wie Husten mit klarem, weißem Sputum und feuchten Rasselgeräuschen, Schnupfen mit weißlichem Sekret und nasaler Verstopfung, Sinusitis und Druckgefühl in Nase und Ohren äußert. Besonders geeignete Rezepturen wären Ling gan wu wei jiang xin tang und Ling gui zhu gan tang

Hier bietet sich für Symptome im Respirationstrakt besonders die folgende Rezeptur an:

Ling gan wu wei jiang xin tang - :

JGYL § 12–35

Diese Rezeptur eliminiert die Feuchtigkeit aus der Lunge.

Poria (Fu ling) -:

stärkt die Feuchtigkeitstransformation der Milz und lässt Nässe abfließen

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) -:

harmonisiert und stärkt ebenfalls die Milz

Rh. Zingiberis off. (Gan jiang) - :

zerstreut und transformiert durch seine Schärfe einerseits den Überschuss an Feuchtigkeit an den Schleimhäuten, ohne das Qi zu verletzen, und wärmt und stärkt andererseits das Milz-Yang, wodurch die Feuchtigkeit, die tagtäglich mit der Nahrung aufgenommen wird, wieder verdampft werden kann und prophylaktisch die Ansammlung von neuem „Schleim“ verhindert wird.

(Hb. Asari (Xi xin)) wärmt Lunge und wandelt aufgestaute Säfte um. Derzeit wegen des in den meisten Spezies vorkommenden Safrolgehalts vom Markt genommen und nicht erhältlich.)

Fr. Schisandrae (Wu wei zi) - :

sauer, süß, warm. Seine adstringierenden Eigenschaften stoppen das Auslaufen von Lungen-Qi und verhindern, dass die zerstreuenden Eigenschaften der anderen Arzneien zu heftig werden.

Die Kombination von Rh. Zingiberis off, Hb. Asari und Fr. Schisandrae wird von Zhāng Zhòng-Jǐng immer wieder verwendet, um durch Kälte entstandene, aufgestaute Säfte zu zerstreuen und zu trocknen (z. B. auch in Xiao qing long tang8.3.4.1). Die im Prinzip überhaupt nicht zu dieser Rezeptur passenden adstringierenden und süßen Eigenschaften von Fr. Schisandrae stellen ein elegantes Gegengewicht zu den anderen Arzneien dieser Rezeptur dar und beugen raffiniert eventuellen Nebenwirkungen, die durch die Schärfe entstehen könnten, vor.

Zunge - :

geschwollen, weißer Belag

Puls - :

schlüpfrig, saitenförmig wegen Qi-Stase

◘ Abb. 8.9 zeigt, dass das klinische Bild einer „Kälte in der Tai Yin-Schichte“, heute am ehesten einer nicht gestoppten, persistierenden neutrophilen Inflammation mit den Symptomen einer Rhinosinusitis/Bronchitis/Asthma vom neutrophilen Phänotyp mit vermehrten Th1- und Th17-Zellen und vermehrten IL-6-, IL-8- und IL-17-Zytokinen entspräche, die mit starker Schleimbildung einhergehen und im Fall von Asthma und Rhinosinusitis (Akdis et al. 2013) schlecht auf Steroide ansprechen.

Abb. 8.9
figure 9

Das Shānghán zábìng lùn-Syndrom „Kälte im Tai Yin“ entspricht der nicht gestoppten, persistierenden neutrophilen Inflammation. Die aktuellste immunologische Forschung beschreibt heute mit anderen „Vokabeln“ genau jene Symptome, die Zhāng Zhòng-Jǐng bereits vor fast 2000 Jahren als „Kälte in der Tai Yin-Schichte“ erklärt und behandelt hat, folgendermaßen: Findet der Switch der Lipidmediatorenklasse in Lipoxine, Resolvine und Protektine nicht statt, triggern Zytokine wie IL-6, IL-8 und IL-17 den weiteren Einstrom von neutrophilen Granulozyten an den Ort der Entzündung. Fehlende Apoptose der neutrophilen Granulozyten durch Makrophagen mit verstärkter Schleimproduktion resultiert in Hemmung der Gewebsabheilung und Chronifizierung dieses Prozesses

Während rezente Forschung die Pathogenese dieser Syndrome immer besser erklären kann, gibt es therapeutisch für die neutrophile Inflammation derzeit noch wenige Optionen (s. ► Abschn. 3.7.2.1).

Die konsequente Überprüfung der therapeutischen Ansatzes von Zhāng Zhòng-Jǐng Rezepturen könnte hier sehr lohnend sein und einen wertvollen und sinnvollen Beitrag zur Behandlung der neutrophilen Inflammation leisten.

Wenn es gelingt, den Husten mit Ling gan wu wei jiang xin tang zu beenden, ist die TCM-Behandlung in dieser Situation nicht abgeschlossen. Zur Stärkung der Konstitution nach dem Husten verwendet man in diesem Stadium gerne wärmende Arzneien und Nahrungsmittel, die Feuchtigkeit verdampfen, die Transformation der Feuchtigkeit verbessern und das Übermaß an Feuchtigkeit über den Harn ausleiten:

Ling gui zhu gan tang :

- SHL § 67

Poria (Fu ling) -:

neutral, süß, bland

Rm. Cinnamomi (Gui zhi) -:

warm, scharf

Rh. Atractylodis macroceph. (Bai zhu) -:

warm, süß, bitter

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) -:

warm, süß

Weil auch für die Verdampfung der im Alltag aufgenommenen Feuchtigkeit aus Nahrung und Getränken die Wärme fehlt, klagt der Patient auch noch nach Abklingen des Hustens über abdominelle Schwellungen, Völlegefühl und Bauchschmerzen und hat weichen, geruchslosen Stuhl bis breiigen Durchfall. Heute wird in so einem Fall dann oft eine Nahrungsmittelintoleranz diagnostiziert. Bei der Bauchpalpation imponiert ein eiskalter Oberbauch zwischen Nabel und Xyphoid. Zusätzliche Symptome können Nausea, wenig Appetit, fehlender Durst und kalte Extremitäten sein. Der geringe Durst erklärt sich aus der Tatsache, dass ohnehin genug Feuchtigkeit, die nicht verdampft werden kann, den Körper belastet und deshalb instinktiv Trinken als unangenehm empfunden wird. Zusätzlich kann der Patient unter Schwindel und Benommenheit leiden sowie Schwierigkeiten beim klaren Denken haben, was von der TCM als „ Schleim benebelt den Geist“ bezeichnet wird. Wieder beschreibt Zhāng Zhòng-Jǐng als eine mögliche Ursache dieses Zustandes eine unsachgemäße Anwendung eine Abführmittels während eines Infekts. Heute beobachten wir, dass die Entstehung dieses Krankheitsbildes häufig durch Antibiotikaeinnahme getriggert wird, die aus TCM-Sicht kühlend und verschleimend wirkt und zu geringerer Diversität der Mikrobiota des Stuhls mit Überhandnehmen von pathogenen Keimen führt und die Epithelbarriere durchgängiger macht.

Puls -:

1. und 2. Position links: tief (Yang kann nicht aufsteigen) und saitenförmig (wegen Flüssigkeitsstagnation)

1. Position rechts: rollt nach distal= Schleim

Zunge -:

blass, geschwollen, groß, gedunsen, Zahneindrücke (◘ Abb. 8.10)

Abb. 8.10
figure 10

Zunge bei Kälte im Tai Yin. Die Zunge lässt die mangelnde Transformation von Feuchtigkeit erkennen. Die Zunge schwillt an und sucht sich noch Raum in den Zahnzwischenräumen, wodurch das Bild der Zahneindrücke entsteht

Belag - nass, weißlich

Poria stärkt die „Milz“ und leitet die gestaute Feuchtigkeit über den Harn aus. Damit dies möglich ist, muss der warme Zimt die Feuchtigkeit erwärmen und auflösen. Gemeinsam stärken diese beiden Arzneien die feuchtigkeitstransformierende Kraft des Milz-Qi. Diese Funktion erfüllt auch Rh. Atractylodis macrocephalae, die das Yang-Qi des Magens und der Milz stärkt und zusätzlich die Nässe trocknet. Süßholz kräftigt das Qi im Verdauungstrakt und kann auch eine IFN-y-Ausschüttung initiieren, was für die virale Abwehr sehr wichtig ist.

Diese Arzneien bewirken eine verbesserte Transformation der „lästigen“ Feuchtigkeit und initiieren auch eine Zirkulation der in den diversen Körperhöhlen eingesperrten Flüssigkeiten. Sollte dennoch Feuchtigkeit in den Nasennebenhöhlen stecken, kann man diese mit Zusatz von Rd. Angelicae dahuricae (Bai zhi) oder Fl. Magnoliae (Xin yi) gezielt eliminieren. Wenn die Feuchtigkeit eher in der Lunge rasselt, wird man schleimlösende Substanzen wie Rh. Pinelliae (Ban xia), Sm. Armeniacae (Xing ren), Fr. Trichosanthis (Gua lou), Bl. Allii macrostemi (Xie bai) oder Pc. Citri ret. (Chen pi) hinzufügen. Klassische Indikationen für diese Rezeptur sind auch Schwindel beim Aufstehen und Morbus Menière, der auch häufig im Rahmen eines Infektes auftritt, oder Status post Otitis media mit Seromukotympanon.

Diese Rezeptur eignet sich auch als konstitutionsstärkende Rezeptur zur Langzeittherapie für Kinder und Erwachsene, um chronische Verschleimungen (Seromukotympanon, Polyposis nasi, chronische neutrophile Rhinosinusitis und Bronchitis mit weißlichem Sekret) zu sanieren und wirkt auch sehr gut bei schnarchenden Kindern.

Akupunktur

Oberfläche befreien: B 12, B13 mit Moxa

Feuchtigkeitstransformation verbessern: M40, MP 3, KG 12 mit Moxa

Nase befreien: Di 4, Di 19 oder Di 20, Yin tang

Während die letzte Rezeptur noch die Oberfläche-wärmende Arznei Zimt beinhaltete, wirkt die folgende Rezeptur noch tiefer in der Tai Yin-Schichte und zielt noch stärker auf die schleimtransformierende und trocknende Funktion der Milz.

Li zhong wan :

- SHL § 386

Rh. Zingiberis off. (Gan jiang) -:

heiß. scharf

Rd. Ginseng (Ren shen) -:

neutral, süß, bitter

Rh. Atractylodis macroceph. (Bai zhu) -:

warm, süß, bitter

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) -:

warm, süß

ev. plus Schleim transformierende Lungenkräuter - :

Fr. Trichosanthis, Fr. Perillae, Rd. Platycodi

Puls -:

re Guan (mittlere Pulstaststelle): tief, saitenförmig (Flüssigkeitsstagnation), Hantelpuls

Rezeptanalyse: Der getrocknete Ingwer ist die Hauptarznei zur Behandlung von Kälte in der Tai Yin-Schichte. Er wärmt Milz und Magen und entfernt Kälte im Mittleren Erwärmer. Rh. Atractylodis macroceph. trocknet Nässe, stärkt die Milz und eliminiert so den Schleim. Ginseng und Süßholz tonisieren das Milz-Qi und helfen dadurch die Feuchtigkeitstransformation zu verbessern.

Sowohl Li zhong wan als auch Ling gui zhu gan tang sind als konstitutionell stärkende Dauertherapien für Patienten mit Yang-Mangel in der Milz bzw. Tendenz zur Kälte im Tai-Yin bestens geeignet!

Dieser Zustand kann sich jedoch nur dauerhaft bessern, wenn auch die Ernährung als Therapie in die Behandlung miteinbezogen wird. Ist dies nicht der Fall, wird sich die Neigung zur Feuchtigkeitsansammlung nur vorübergehend verbessern und der Patient wird dazu tendieren, chronische Feuchtigkeitsprozesse wie Seromukotympanon chronische Sinusitis, Entwicklung von Polyposis nasi (die Feuchtigkeitseinlagerungen in der Nasenschleimhaut entsprechen) und chronisch-rezidivierende Bronchitis zu entwickeln. Diese chronifizierten Zustände können dann über Monate und Jahre fortbestehen.

Ernährung

Warme Speisen!!

Milz stärken: „erdige“ Nahrungsmittel: Kartoffeln

Gedämpftes Gemüse: Karotten, Kürbis, Zwiebel, Erbsen, Rüben, Bohnen

Gekochtes Getreide: Reis, Hirse, Hafer, Amaranth (s. ◘ Abb. 8.11)

Wärmende, aromatische Gewürze: getrockneter Ingwer, Muskat, Thymian, Safran, Nelken, Galgant, Zimt, Cardamon, Kümmel, Orangen- und Zitronenschalen, Piment

Wenig verschleimende Milchprodukte!! Wenig kalte Nahrung, immer in Kombination mit warmem Essen. Warmes Frühstück, viele Suppen

Wenig kalte Salate in der kalten, feuchten Jahreszeit, besser gedämpftes Gemüse!

Auch abends warmes Essen, wenn Brot, dann getoastet, um den Überhang an Feuchtigkeit im Körper zu trocknen

Abb. 8.11
figure 11

Getreide und Hülsenfrüchte bei Milz-Qi-Mangel. Getreide und Hülsenfrüchte haben die Fähigkeit, osmotisch Feuchtigkeit aus dem Körper aufzunehmen, und helfen daher gegen chronische „Verschleimung“. Außerdem sind sie die Basis für die Herstellung von „Nahrungs-Qi“

Akupunktur

Schleim der Lunge auflösen: Lu 5, M 40, KG 9, KG 22

Absenkende Funktion der Lunge wiederherstellen: KG 17, B 13, Lu 9

Völlegefühl im Thorax beseitigen: PC 6

Milz stärken: KG 12, B 20, M 36

Husten beenden: Lu 1, Lu 6

Findet keine Gegensteuerung durch Kräuter oder richtige Nahrungsmittel statt, kann die Kälte noch tiefer wandern:

8.3.1.4 Kälte in der Jue Yin-Schichte

Die Kälte braucht relativ lange, um in diese tiefste Schichte vorzudringen, und führt dann zu einer Abkühlung des Blutes. Physiologisch speichert aus TCM-Sicht die Leber das Blut und ist für dessen Bewegung und Verteilung verantwortlich.

Wenn nun keinerlei Wärme in der Tiefe vorhanden ist, um das Blut zu bewegen, so wird das Blut eiskalt und stagniert. Dieses Syndrom kommt relativ oft bei jungen Frauen vor, die durch die Menstruation oder durch Geburten zusätzlich geschwächt sind. Typische Symptome sind dann zusätzlich starke Dysmenorrhö (mit extremer Kälteempfindlichkeit, weil das Blut „eiskalt“ ist), Infertilität, starke Müdigkeit mit Kälteempfindlichkeit, M. Raynaud, Fibromyalgie, Ischialgie und rheumatoide Arthritis, weil sich das Blut nicht mehr erwärmen kann.

Dang gui si ni tang -:

SHL § 351

Rd. Angelicae sinensis (Dang gui) -:

warm, süß, scharf, stärkt und belebt Blut

Rm. Cinnamomi (Gui zhi) -:

warm, süß, scharf, wärmt Meridiane und zerstreut Kälte

Rd. Paeoniae albae (Bai shao) -:

kühl, bitter, sauer

(Hb. Asari (Xixin): zerstreut innere und äußere Kälte) -:

derzeit nicht erhältlich

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) -:

süß, warm vermehrt Qi und stärkt Milz

Fr. Jujubae (Da zao) -:

süß, neutral

Cl. Clematidis armandii (Mu tong) -:

kalt, bitter, fördert Fließen in den Meridianen

Rezeptanalyse: In diesem Rezept findet der aufmerksame Leser vier Arzneien (Rm. Cinnamomi, Rd. Paeoniae albae, Rd. Glycyrrhizae präp., Fr. Jujubae) des Gui zhi tang (nur der frische Ingwer wird nicht verwendet), jener Rezeptur, die am Anfang dieser Symptomenkette eingesetzt wurde. Aufgrund der Tiefe, in der sich die Kälte nun befindet – nämlich schon in der Jue-Yin-Schichte – werden diese Arzneien nun mit Rd. Angelicae sinensis, einer stark Blut tonisierenden und Blut wärmenden Arznei ergänzt. Der Zimt wärmt die Meridiane und zerstreut die Kälte. Gemeinsam mit Herba Asari, das sich jedoch derzeit wegen des hohen Safrolgehalts nicht am Markt befindet, zerstreut es innere und äußere Kälte. Herba Asari kann evtl. durch Rd. Saposhnikoviae (Fang feng) ersetzt werden. Der Zimt und Rd. Paeoniae albae harmonisieren das Abwehr-Qi und das Nähr-Qi. Rd. Glycyrrhizae präp. und Fr. Jujubae stärken die Milz und vermehren das Qi, sodass der Körper wieder mehr Kraft hat, Blut aus der Nahrung zu produzieren. Das kalte Cl. Clematidis armandii ist der Rezeptur beigefügt, um die Blutgefäße geschmeidig zu machen und das bessere Fließen des Blutes zu fördern.

Diese Rezeptur zeigt, wie genial Zhāng Zhòng-Jǐng die Zusammenhänge, die wir auch heute durch die Lipidmediatoren-Forschung fast 2000 Jahre später erkennen, beobachtete. Nämlich, dass durch einen nicht – oder falsch – behandelten Infekt, ein Krankheitsmuster so weit fortschreitet, dass die persistierende Infektion, nach Wochen und Monaten, chronische Entzündungen wie rheumatoide Arthritiden, das Polymyalgiesyndrom oder, wie bei der nächsten Rezeptur gezeigt wird, auch Allergien auslöst. In der Behandlung geht Zhāng Zhòng-Jǐng auch auf diese Erkenntnis ein und verwendet, obwohl die Erkrankung nun in der allertiefsten Schichte angekommen ist und keinerlei oberflächliche Erkältungszeichen mehr zeigt, Modifikationen jener Rezeptur, die schon von Anfang an notwendig gewesen wäre, um den Verlauf zu stoppen. Zhāng Zhòng-Jǐng ergänzt diese Rezeptur gekonnt um einige wenige Bestandteile und macht sie dadurch zu einer perfekten Rezeptur für diesen „tiefen“ Zustand.

Das Shānghán zábìng lùn spricht beim Jue Yin-Syndrom auch von einem „gegenläufigen Fluss“ mit extremer Hitze oben und extremer Kälte im unteren Teil des Körpers. Dies wurde lange Zeit von heutigen Ärzten überhaupt nicht verstanden. Dank einiger Kenner der TCM wie meinen geschätzten Lehrern Arnaud Versluys und Gerhard Schwestka können wir nun in die „Tiefen“ der TCM eindringen und selbst die komplexesten Krankheitsentwicklungsmuster nachvollziehen:

Laut Shānghán zábìng lùn werden bei Gesundheit die Kälte des Nordens im Organ Niere und die Hitze des Südens im Organ Herz durch einen physiologischen Wind ausbalanciert (◘ Abb. 8.12).

Abb. 8.12
figure 12

Grundvoraussetzungen zum Verständnis der Jue Yin-Schichte. Physiologisch werden die Hitze des Südens und die Kälte des Nordens durch einen „zarten“ Wind in Balance gehalten

Der Wind entsteht ohne Anstrengung, mühelos, als Strömen von kalt in Richtung warm. Dieses Phänomen wird auch in der Natur beobachtet, wo Wind beim Übergang zwischen einer Kalt- und einer Warmfront entsteht. Dem physiologischen Wind des Jue Yins gelingt es nun das ministerielle Feuer des Ostens (Shao Yang) zu entfachen und dadurch die Wärme des Südens zu stärken. Die Hitze des Südens soll daraufhin wieder physiologisch abkühlen und Richtung Norden wandern und das kalte Wasser des Nordens verdampfen, damit über Wasserdampf das Entstehen neuen Lebens ermöglicht wird und der zyklische Prozess und der immer wiederkehrende Wechsel von Yin und Yang fortschreiten kann (◘ Abb. 8.12).

Wird jedoch die Temperaturdifferenz zwischen Norden und Süden zu groß, so kommt es zu Stürmen, wie im Jänner 2007, als sich in Mitteleuropa eine unüblich milde Luft mit bis zu 14 °C durchgesetzt hatte. Eine von Neufundland kommende Kaltfront löste dann den Orkan Kyrill mit Windgeschwindigkeiten bis zu 220 km/h aus, der zu massiven Windwürfen in den Wäldern und katastrophalen Schäden in den Städten führte.

Wenn nun im menschlichen Körper der lang anhaltende Kälteeinfluss, der ursprünglich über eine „Verkühlung“ in den Körper eindrang und „ungebremst“ durch alle Schichten hindurch bis zur Niere (Shao Yin-Schichte) und dann auf die Jue Yin-Schichte trifft, wird auch das Blut massiv gekühlt. Folglich wird die Temperaturdifferenz zwischen unten und oben immer größer und der Körper reagiert mit „gegenläufigem Fluss“. Das bedeutet, dass nun nicht ein physiologischer Wind die Kälte von unten nach oben weht und die Hitze oben ausgleicht, sondern, dass ein Sturm nach oben aufbraust, der die obere Körperhälfte in Wallung bringt und zu extremer Unruhe, Kopfschmerzen, Hypertonie, Vertigo, Hitzewallung der oberen Körperhälfte, Nachtschweiß oder Spannungsgefühl führt. Dieses Muster würde dann mit der Rezeptur Wen jing tang behandelt werden.

Ist jedoch nicht nur das Blut, sondern sind auch die Zang-(Voll-)Organe kalt, bläst der Wind nicht nur von unten nach oben, sondern auch von innen (Zang-Organe) nach außen (Fu-Organe). Klinisch manifestieren sich kalte Zang-(Voll-)Organe und heiße Fu-(Hohl-)Organe in Hitze des Dickdarms und des Magens, mit einer Kälte in Lunge und Milz. Der Patient berichtet über explosionsartige, stinkende Durchfälle oder Magenschmerzen mit Würgereiz (Hitze im Magen) und Unruhe. Genau jene Beschwerden beobachtet man bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -allergien, wo es zu heftigen, explosionsartigen bzw. „orkanartigen“ Durchfällen mit schmerzhaften, krampfartigen „Winden“ (sic!) kommt. Sehr häufig imponiert die Bauchdecke bei der Palpation trotzdem eiskalt, weil das Vollorgan Milz und auch die Nieren kalt sind.

Zusammenfassend erkannte Zhāng Zhòng-Jǐng, dass die Leber das Blut und damit auch die physiologischen Funktionen der Zang-Fu Organe „regiert“.

Als Vollorgane oder Zang-Organe oder Speicherorgane werden in der TCM die Yin-Organe der jeweiligen Elemente bezeichnet, die sich im Inneren des Körpers befinden und die reinen Essenzen (Qi, Blut, Körperflüssigkeiten, Essenz), die aus der Nahrung und Atmung gewonnen werden, speichern (Lunge, Niere, Leber, Herz, Milz).

Hohlorgane oder Fu-Organe sind die Yang-Organe der jeweiligen Elemente, die mehr in Kontakt zum „Äußeren“ stehen und eine wichtige Funktion für die Qi-Produktion haben, weil sie ununterbrochen beschäftigt sind, sich zu füllen, die Nahrungsbestandteile aufzunehmen, zu transformieren, „Reines“ vom „Unreinen“ zu trennen und die Restprodukte wieder auszuscheiden (Dickdarm, Blase, Gallenblase, Dünndarm und Magen).

Jedes Vollorgan arbeitet mit dem entsprechenden Hohlorgan symbiotisch zusammen zusammen. Gemeinsam bilden sie ein „Paar“ (Zang/Fu) im Zyklus der 5 Wandlungsphasen bzw. der 5 Elemente.

◘ Abb. 8.13 veranschaulicht, dass das Jue Yin vom Wasser geboren wird und durch seinen Wind das Feuer physiologisch anfacht. Der physiologische Wind verteilt das Shao Yang-Feuer (ministerielle Feuer) gleichmäßig in die Organe des ganzen Körpers und ins Blut. Die antreibende Kraft des Windes aus dem Jue yin ist somit die Ursache, weshalb sich das ministerielle Feuer im 3-fachen Erwärmer und im Blut verteilt. Somit ist das Jue Yin eine verbindende Brücke zwischen heiß und kalt, Herz und Niere, Wasser und Feuer.

Abb. 8.13
figure 13

Physiologie der Jue Yin-Schichte. Das Jue-Yin bildet eine verbindende Brücke zwischen heiß und kalt, Herz und Niere, Wasser und Feuer

Wenn Yin nicht ausreichend reduziert werden kann, weil zu viel Kälte in die Jue Yin-Schichte eingedrungen ist, funktioniert die zerstreuende Bewegung nicht mehr und

  • das Blut bleibt kalt und kann das ministerielle Feuer nicht entfachen. Dies entspricht dem soeben besprochenen Dang gui si ni tang-Muster.

  • Oder es wird wegen der Temperaturdifferenz zwischen unten und oben übermäßig entfacht und kann nicht kontrolliert werden (Wen jing tang-Muster ), weshalb es nach oben schießt.Wenn jedoch die Temperaturdifferenz nicht nur zwischen oben und unten, sondern auch zwischen den zu kalten Vollorganen und den warmen Hohlorganen ausgeglichen werden muss, kommt es zum Temperaturausgleich von innen nach außen mit explosionsartigen Diarrhöen (Wu mei wan-Muster ). Die Symptome entsprechen dann abdominellen Spasmen bei Nahrungsmittelallergien, schweren Nahrungsmittelunverträglichkeiten und eventuell auch plötzlich heftigen Spasmen der Bronchien, wie bei Asthma. Therapeutisch muss man nun mit warmen Kräutern die Vollorgane Niere, Milz und Lunge wärmen und oben mit bitter-kalten Kräutern die Hitze absenken (◘ Abb. 8.14).

    Abb. 8.14
    figure 14

    Jue Yin Pathologie-Muster. Wen jing tang und Wu mei wan Muster

Für dieses Syndrom kreierte Zhāng Zhòng-Jǐng die Rezeptur:

Wu mei wan - :

SHL § 338

Fr. Mume (Wu mei) - :

warm, sauer, adstringierend

Rm. Cinnamomi (Gui zhi) - :

wärmt das Element Holz/Leber im Jue Yin: wärmt das Blut und bewegt es nach oben und außen

Pc. Zanthoxyli (Chuan jiao) - :

wärmt das Element Feuer im Jue Yin

(Hb. Asari (Xi xin) - :

wärmt das Element Metall im Jue Yin und dadurch auch die Lunge: wegen Safrolgehalts nicht erhältlich)

Rd. Aconiti lat. präp. (Fu zi) - :

wärmt das Element Wasser im Jue Yin

Rh. Zingiberis off. (Gan jiang) - :

wärmt das Element Erde im Jue Yin, um die Milz zu stärken

Rh. Coptidis (Huang lian) - :

bitter, kalt

Co. Phellodendri (Huang bai) - :

bitter, kalt

Rd. Ginseng (Ren shen) - :

süß, entspannt Leber über Stützen der Erde

Rd. Angelicae sin. (Dang gui) - :

warm, scharf, süß: tonisiert und bewegt das Blut

Rezeptanalyse: Die saure Fr. Mume adstringiert und verbessert die Durchfälle. Das Innere bzw. das Jue Yin (Holzelement) wird mit 5 verschiedenen wärmenden Arzneien gewärmt, und zwar je eine Arznei für jedes Vollorgan/Element: Aconitum wärmt die Niere/das Wasser, Rm. Cinnamomi die Leber/das Holz, Pc. Zanthoxyli das Herz/Feuer, Rh. Zingiberis off. die Milz/die Erde und Hb. Asari die Lunge/Metall. So kann die Kälte der Zang-(Voll-)Organe eliminiert werden. Um jedoch die Temperaturdifferenz zu verbessern, das Obere und Äußere zu kühlen und das Aufsteigen des Windes zu reduzieren, enthält die Rezeptur auch noch die beiden bitter-kalten Arzneien Rh. Coptidis und Co. Phellodendri.

Die blutstärkende Angelika-Wurzel und Ginseng verhindern, dass das Qi und das Blut noch weiter geschädigt werden.

Ursprünglich verwendete Zhāng Zhòng-Jǐng diese Formel im § 338 des Shānghán lùn gegen Wurmerkrankungen (Askariasis) bzw. zur Behandlung eines extremen Stadiums des Jue Yin-Syndroms, in dem Kälte in die Jue Yin-Schichte eingedrungen ist und Extremitäten und Zang-(Voll-)Organe abkühlt, während in der oberen Körperhälfte und in den Fu-Organen Hitze besteht. Beachtenswert aus heutiger Sicht ist, dass sowohl die Wurmerkrankung als auch die Nahrungsmittelallergien erhöhte IgE-Spiegel zeigen, gegen die diese Rezeptur offensichtlich wirkt.

Am Mount Sinai Hospital in New York laufen seit Jahren Studien, die die Wirksamkeit dieser Rezeptur Wu mei wan bei Erdnussallergie zeigen (Srivastava et al. 2005). Die Gruppe um Prof. Li modifizierte die klassische Rezeptur Wu mei wan aus dem Shānghán zábìng lùn insofern, als Rd. Aconiti präp. (Fu zi) und Hb Asari (Xi xin) entfernt und durch den Reishi-Pilz, Ganoderma lucidum (Ling zhi) ergänzt wurde (s. ◘ Tab. 8.2). Man nannte diese Rezeptor dann „Food Allergy Herbal Formula“ (FAHF-2).

Tab. 8.2 Zusammensetzung: Wu mei wan und FAHF-2

Daraufhin wurden Mäuse mit Erdnussallergie mit FAHF-2 sieben Wochen lang behandelt und 1, 3, und 5 Wochen nach Therapie einer Allergen-Challenge unterzogen.

Wie in ◘ Tab. 8.3 ersichtlich, zeigten alle Mäuse der Placebogruppe anaphylaktische Reaktionen, während durch FAHF-2 die anaphylaktische Reaktion komplett blockiert wurde. Auch die Erdnuss-spezifischen IgE (◘ Abb. 8.15) und die Zytokinwerte IL-4, IL-5, IL-13 (◘ Abb. 8.16) verbesserten sich signifikant in der FAHF-2-Gruppe im Vergleich zur Placebogruppe. Sehr interessant und besonders erwähnenswert ist der signifikante Anstieg von IFN-y (◘ Abb. 8.16) und IgG2a (◘ Abb. 8.15) in der FAHF-2-Gruppe. IFN-y ist als Th1-Zytokin ein wichtiger Gegenregulator beim allergischen Geschehen.

Tab. 8.3 Klinische Zeichen der anaphylaktischen Reaktionen nach oraler Erdnuss-Challenge in der Woche 10,12,14 (entsprechend 1,3,5 Wochen post Therapie). (Mod. nach Srivastava et al. 2005)
Abb. 8.15
figure 15

IgE und IgG2a während und nach Therapie. Erdnuss-spezifische IgE (ng/ml), Placebo, FAHF-2, Kontrollgruppe, Therapie von Woche 2-Woche 9, Erdnuss-Challenge in Woche 10.12,14. Violette Punkte: Placebo, blaue Punkte: FAHF-2, grüne Punkte: Kontrollgruppe

Abb. 8.16
figure 16

Zytokine 5 Wochen nach Therapie. IL-4, IL-5, IL-13 und IFN-γ aus Splenozyten nach der letzten Erdnuss-Challenge in Woche 14. Ergebnisse als Mittelwerte (±SD) ∗∗p < 0.001 vs. Placebo

Diese Studie zeigt im Mausversuch, dass die TCM-Formel FAHF-2 einerseits die Th2-Zytokine, die für die allergische Reaktion verantwortlich sind, reduzieren kann und andererseits die Th1-mediierten Produkte IFN-y und IgG2a vermehrt, sodass die anaphylaktische Reaktionen bei den behandelten Mäusen komplett blockiert werden konnten. Diese Studie wurde im Top-Journal der Allergologen, in J Allergy Clin Immunol, publiziert.

Offensichtlich beschrieb Zhāng Zhòng-Jǐng mit dem Wu mei wan-Muster das Fortschreiten des Pathogens Kälte in die tiefste Schichte, die Jue Yin-Schichte, und somit den Entwicklungsprozess einer Allergie aus seiner Sicht, die wir heute als persistierende, nicht gestoppte Inflammation mit Eosinophilie bezeichnen würden.

Zur Beachtung: Ein Jue Yin-Syndrom kann jedoch auch direkt aus einem Shao Yang-Muster entstehen, wenn der Temperaturunterschied nicht durch Kälteeinwirkung im Jue Yin, sondern durch zu viel Hitze im Shao Yang entsteht (s. ► Abschn. 8.3.3.2).

Sehr aktuell konnte die Variation der Rezeptur Wu mei wan (FAHF-2) im Mausversuch die Nebenwirkungsrate der oralen Immuntherapie (OIT) gegen Erdnüsse und Baumnüsse in der Dosissteigerungsphase bei gemeinsamer Anwendung reduzieren und auch eine länger andauernde Wirkung erzielen als eine ausschließlich mit OIT behandelte Gruppe. Alle Placebo-behandelten Mäuse und 91 % Mäuse der OIT-Gruppe zeigten in der Dosissteigerungsphase anaphylaktische Reaktionen, im Vergleich zu 21 % der gemeinsam behandelten OIT/FAHF-2-Mäuse. Außerdem fand man bei der Kombinationsgruppe niedrigere Histamin- und IgE-Spiegel und erhöhte IFN-γ/IL-4- und IL10/IL-4-Ratios. Am Ende der Behandlung wurden erhöhte toleranzspezifische Reaktionen, wie verstärkte epigenetische Methylierung der FoxP3-aktivierenden Gene, beobachtet. Diese Studie zeigt, dass eine TCM-Behandlung, begleitend zur OIT, die Wirksamkeit der OIT erhöhen kann und die Nebenwirkung reduziert, wodurch sie eine interessante Therapieoption darstellt (Srivastava et al. 2017). Außerdem führt dieser Versuch den Stellenwert der TCM bei manifesten Allergien vor Augen, der eher in der gemeinsamen Behandlung mit der konventionellen Medizin liegt.

Der Stellenwert der TCM zur primären Prävention der Sensibilisierung durch Behandlung von banalen Infekten mit Vermeidung von Antibiotika und Antipyretika sowie Vermeidung des Eindringens des pathogenen Faktors in „tiefere Schichten“ sollte in großen Longitudinalstudien überprüft werden.

Weitere Jue Yin-Rezepturen, die die Lunge betreffen, werden im ► Abschn. 8.3.3.2 besprochen.

8.3.2 Ma huang tang Methode

8.3.2.1 Wind-Kälte befällt den Tai Yang

Die 2. Startrezeptur, Ma huang tang (◘ Abb. 8.17), wird verwendet, wenn Wind-Kälte auf einen Menschen trifft, dessen Grundkonstitution sehr robust und somit etwas kräftiger ist als die des Gui zhi tang-Patienten. Dieser Patient empfindet nach der viralen Attacke eine starke Abneigung gegen Kälte. Der pathogene Faktor Kälte, der das Äußere seines Körpers angreift, behindert den Fluss von Wei Qi (Abwehr-Qi), was zu Frösteln führt. Durch den Kampf des pathogenen Qi im Äußeren und dem normalen, aber kräftigen Qi im Inneren entsteht Fieber. Die Kälte verschließt die Poren und führt dadurch zu Schweißlosigkeit – als typisches Merkmal für Ma huang tang.

DD -:

Patienten, die Gui zhi tang brauchen, sind ein bisschen schwächer und ihr Abwehr-Qi hat nicht die Kraft, die Poren zu verschließen. Dadurch entsteht ein sanfter, spontaner Schweißfluss.

Abb. 8.17
figure 17

Ma huang tang-Methode. Der Patient, der Ma huang tang als Startrezeptur beim banalen Infekt braucht, hat eine kräftigere Grundkonstitution als jener Patient, der Gui zhi tang benötigt, und schwitzt nicht. Ma huang tang befreit beim beginnenden respiratorischen Infekt die oberflächlichste Schichte des Körpers mit scharfen, heißen, stark schweißtreibenden Arzneien, die den pathogenen Faktor Kälte über Schweißinduktion nach außen abfließen lassen. Kann die Erkrankung des Ma huang tang-Musters nicht in der Tai Yang-Schichte gestoppt werden, wandert sie schnell in die Yang Ming-Schichte, die große Mengen an Qi und Blut enthält. Im Rahmen eines heftigen Abwehrkampfes des „aufrechten Qi“ wird der pathogene Faktor Kälte in Hitze umgewandelt. Symptome wären ein schneller, starker Fieberanstieg mit Fülle-Hitzezeichen, starkes Schwitzen, starker Durst und dadurch im Laufe der Zeit eine Verletzung der Körperflüssigkeiten. Falls die Erkrankungen aus der Yang Ming-Schichte nicht an die Oberfläche zurückgedrängt werden kann, führt die vor sich her schwelende Entzündung zu einer Austrocknung der Feuchtigkeit und die Erkrankung wird noch tiefer in das Innere des Körpers getrieben und tritt in die Shao Yin-Schichte über. Typische Symptome sind dann trockene Schleimhäute des Respirationstrakts mit Heiserkeit, kratzendem Hals mit trockenem und quälendem Hustenreiz bzw. Husten sowie evtl. asthmoider Komponente, für die Mai men dong tang eine geeignete Rezeptur darstellt. Konventionelle Mediziner beobachten die Symptome der Shao Yin-Schichte manchmal nach Pneumonien, die bereits mit Antibiotika behandelt wurden, wobei der Patient trotzdem über wochenlangen, quälenden, therapieresistenten Hustenreiz klagt. Austrocknung in der Shao Yin-Schichte kann sich auch in Form von trockener Haut oder beginnender Neurodermitis äußern, die immer wieder nach einem respiratorischen Infekt auftritt bzw. exazerbiert

Die Kälte beeinträchtigt aber auch den gleichmäßigen Fluss von Lungen-Qi, wodurch es zu rebellierendem Qi der Lunge mit Keuchen und Atemnot kommen kann. Weil auch der Tai Yang blockiert wird, entstehen Kopfschmerzen.

Puls -:

oberflächlich, gespannt (Zeichen der starken Kälte)

Im Folgenden soll nun der Unterschied zwischen Gui zhi tang- und Ma huang tang-Muster anhand von Originalzitaten des Shānghán lùn herausgearbeitet werden:

§ 2 SHL (Shanghán lùn): „Das Tai Yang-Syndrom mit den Symptomen und Zeichen von Fieber (fa re, „heat effusion“, Hitze- „Ausströmen“), Schwitzen, Frösteln und moderatem Puls (huan) wird als Wind (Zhong feng) verursachte fieberhafte Erkrankung bezeichnet“

Hier beschreibt Zhāng Zhòng-Jǐng das Gui zhi tang-Muster. Der moderate Puls und das Schwitzen geben Hinweis darauf, dass die Abwehr des Patienten gegenüber der Wind-Kälte etwas zu schwach ist. Daher bekommt der Patient das stärkende Gui zhi tang.

Zum Unterschied folgen nun zwei Paragraphen, die das Ma huang tang-Muster beschreiben:

§ 3 SHL:

„Das Tai Yang-Syndrom mit/ohne Fieber, jedoch mit Aversion gegen Kälte und Gliederschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und gespanntem Puls (jin), sowohl im Yin als auch im Yang, wird als durch Kälte (Shang han) verursachte fieberhafte Erkrankung bezeichnet.“

§ 35 SHL:

„Wenn in einem Tai Yang-Syndrom Kopfschmerz, Fieber, generalisierte Schmerzen, Lumbago, Aversion gegen Wind, Abwesenheit von Schwitzen und Keuchen auftreten, beherrscht Ma huang tang diese Symptome“.

Interpretation: Der gespannte Puls und die Schweißlosigkeit geben Hinweis auf einen „starken“ Patienten, dessen Abwehr-Qi blockiert und wie „gefesselt“ ist sowie dessen konstruktives Yin zwar stark, aber blockiert ist und stagniert. In diesem Fall ist eine starke Induktion von Schwitzen notwendig, um den pathogenen Faktor über das Vehikel des Schweißes aus dem Körper zu leiten, ohne den Patienten dabei zu stärken. Dies kann:

Ma huang tang - :

SHL § 35

Hb. Ephedrae (Ma huang) -:

warm, scharf

Rm. Cinnamomi (Gui zhi) -:

warm, süß, scharf

Sm. Armeniacae (Xing ren) -:

warm, scharf

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) -:

warm, süß

Rezeptanalyse: Das warme, scharfe Hb. Ephedrae hat stark schweißtreibende Wirkung und kann dadurch den pathogenen Faktor Kälte aus dem Körper eliminieren. Es belebt durch seine warme Schärfe den gestauten Qi-Fluss in den äußeren Körperschichten, aber auch in der Lunge. Dadurch verbessern sich das Keuchen und das Giemen. Ephedrin wird auch in der konventionellen Medizin zur Bronchospasmolyse eingesetzt. Zimt hilft im Ma huang tang dabei, das Äußere zu befreien. Sm. Armeniacae, bittere Aprikosenkerne, lösen Blockaden des Lungen-Qi und Süßholz harmonisiert die Wirkung.

Auch aus der Rezeptur Ma huang tang selbst ist ersichtlich, dass der Patient, der diese Rezeptur benötigt, eher von stärkerer Konstitution ist als der Gui zhi tang-Patient. Weil der Ma huang tang-Patient intensiver und heftiger reagieren kann, um die Viren (pathogene Faktoren) abzuwehren, befinden sich in der Rezeptur weniger Qi-stärkende Arzneien, aber stattdessen mehr das Äußere-entlastende Arzneien mit der Kombination Hb. Ephedrae und Rm. Cinnamomi.

Rezente immunologische Untersuchungen lassen erkennen, dass Ma huang tang (oder Maoto, wie es in der japanischen Kampo-Medizin genannt wird) starke antivirale Effekte in der Frühphase des Infekts haben dürfte.

Im Mausversuch beobachtete man nach Verabreichung von Ma huang tang 4–52 Stunden nach Influenza-Virusinfektion eine signifikante Reduktion des Virustiters in der nasalen und bronchialen Lavage sowie erhöhte IgA-, IgM- und IgG1-Anti-Influenza-AK-Titer im Serum (Nagai et al. 2014).

Bereits in den ersten 30 Minuten nach Kontakt mit Influenza-Viren konnte Ma huang tang die Proliferation der viralen RNA hemmen und den Eintritt der Influenza-Virus-RNA in das Zytoplasma blockieren (Masui et al. 2017).

In einem Virus-Pneumonie-Mausmodell fand man außerdem, dass Ma huang tang oral für 7 Tage nach H1N1-Influenza-Infektion verabreicht, IL-2, IFN-γ sowie CD4+-T-Zellen aktivierte und die CD4+/CD8+-Ratio verbesserte, jedoch IL-4, IL-5, TNF-α und die Expression von TLR4 und MyD88 hemmte (Wei et al. 2018).

Auch bei OVA-sensibilisierten asthmatischen Mäusen konnte Ma Huang Tang den Atemwegswiderstand und die Eosinophilie verbessern und könnte daher eine Progression des Asthmas, besonders im Rahmen eines akuten Infekts, verhindern (Ma et al. 2014).

Die Ergebnisse dieser Mausmodelle weisen auf eine gute Wirkung von Ma huang tang in der Frühphase eines viralen Infekts, hin und sollten in klinischen Studien überprüft werden.

Wenn die Entlastung nach außen nicht gelingt oder verabsäumt wird, neigen diese an sich kraftvollen Patienten eher zum schnellen Anfiebern auf höhere Temperaturen und zu rascherer und heftigerer Entwicklung von Erkrankungen der Yang Ming-Schichte, deren Symptome fast ident mit der Qi-Schichte nach Wēn Bìng Lùn sind.

8.3.2.2 Hitze in der Yang Ming-oder Qi-Schichte

Die Yang Ming-Organe, zu denen der pathogene Faktor nun vordringt, enthalten große Mengen an Qi und Blut. Was nun folgt, ist ein heftiger Abwehrkampf des aufrechten „wahren“ Qi mit dem pathogenen Faktor Kälte und daraus resultierend der schnelle Fieberanstieg mit Fülle-Hitzezeichen und Verletzung der Flüssigkeiten. Jene Patienten, sehr oft Kinder, fiebern oft innerhalb kürzester Zeit auf 39,5 °C an. In der Folge führen Störungen der Feuchtigkeitstransformation der Organe Magen und Dickdarm zu Manifestationen in Lunge und HNO-Bereich. Wegen der Stagnation von Qi und Feuchtigkeit entsteht zunächst Schleim mit eher gelblicher Farbe und in der Folge Trockenheit.

Man spricht auch von den „Vier Großen“, die sich durch Aufflammen der Hitze in der Yang Ming-Schichte entwickeln: 1. großes Fieber, 2. großer Durst, 3. großer Puls und 4. großes Schwitzen. Viele dieser Patienten haben genug Kraft, um sich mit heftigen Reaktionen und Symptomen selbst von der Krankheit zu befreien, es besteht jedoch die Gefahr, dass durch das zu starke Schwitzen Yang verloren wird. Das Yang tritt über massive Schweißsekretion nach außen. Deshalb ist der Puls überflutend und der Patient wird aufgrund des Flüssigkeitsverlustes sehr durstig. Der Patient empfindet in diesem Zustand des Fieberns ausschließlich Hitze, ohne intermittierende (Differenzialdiagnose: Xiao chai hu tang) oder gleichzeitig auftretende Kälte (Differenzialdiagnose: Gui zhi tang, Ma huang tang). Therapeutisch muss diese Hitze reduziert werden, damit durch das Schwitzen nicht noch mehr „wertvolle Säfte“ verloren gehen. Zusätzlich kann der Patient Kopfschmerzen entlang des Magenmeridians oder Zahnfleischbluten bzw. Aphten entwickeln, weil der Mund mit der Mundschleimhaut den „ Öffner“ des Magens darstellt.

Als Öffner bezeichnet man in der TCM jenes Sinnesorgan, mit dem die inneren Organe/Elemente zur Außenwelt in Kontakt treten: Magen/Milz = Mund, Leber/Gallenblase = Auge, Herz/Dünndarm = Zunge, Niere/Blase = Ohr, Lunge/Dickdarm = Nase.

Damit das Feuer abnimmt, wird als Therapie die noch vorhandene Flüssigkeit schnell und stark gekühlt und mit süßen Arzneien ergänzt.

Die klassische Rezeptur für diese Symptome wäre Bai hu tang , die stark kühlend wirkt:

Bai hu tang - :

SHL § 176 „Weißer Tiger Dekokt“

Gypsum fibrosum (Shi gao) -:

sehr kalt, süß, scharf: entfernt die Hitze aus der Lunge

Rh. Anemarrhenae (Zhi mu) -:

bitter, kalt, befeuchtend, kühlt Hitze und eliminiert Feuer

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) -:

süß, warm: stoppt Husten und harmonisiert

Reis (Geng mi) -:

süß: stärkt den Magen

Rezeptanalyse: Diese Rezeptur beseitigt Hitze und Unruhe, befeuchtet jedoch auch die Schleimhäute, um sie vor Austrocknung durch das bestehende Feuer zu bewahren. Auch Süßholz schützt durch seine Süße die Schleimhäute und produziert IFN-y und bewahrt die Th1/Th2-Balance. Der Reis verhindert eine Schwächung des Mittleren-Erwärmers durch die beiden stark kühlenden Arzneien.

Kommentar: Bai hu tang ist „das“ Antipyretikum der TCM. Durch den Inhaltsstoff Süßholz mit seiner IL-4-reduzierenden Wirkung und IFN-y-steigernden Wirkung könnte es einen wertvollen Stellenwert bei der Fiebersenkung bei Kindern im „early life window of opportunity“, aber auch beim Asthmatiker im Vergleich zu den herkömmlichen Antipyretika haben. Eine nähere Erforschung in klinischen Studien wäre wünschenswert. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass Bai hu tang erst im Yang Ming- bzw. Qi-Stadium bei hohem Fieber angewendet werden darf (möglichst kurzfristig) und nicht schon im Tai Yang-Stadium, wo noch Kältesymptome vorherrschen. In diesem Fall wäre Bai hu tang viel zu kalt und würde die Kälte in die Tiefe – Richtung Shao Yang und Tai Yin-Schichte – drücken und den Zustand chronifizieren.

Wenn jedoch eher Lungensymptome mit Atemnot, Durst, Fieber mit weniger oder keinem Schweiß im Vordergrund stehen, ist als Folgerezeptur von Ma huang tang eher.

Ma xing shi gan tang - :

SHL § 63

Hb. Ephedrae (Ma huang) -:

warm, scharf zerstreuend und Schwitzen auslösend: verbessert Lungen-Qi-Fluss, eingeschnürtes Feuer wird zerstreut

Gypsum fibrosum (Shi gao) -:

sehr kalt, süß, scharf: lässt Hitze aus Lungen abfließen, Gegenspieler zu Hb. Ephedrae

Sm. Armeniacae (Xing ren) -:

warm, scharf: verbessert Fluss von Lungen-Qi, leitet rebellierendes Lungen-Qi nach unten, löst Schleim

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) -:

süß, warm: stoppt Husten und harmonisiert

Zungenbelag -:

gelb

Puls -:

beschleunigt, schlüpfrig

Symptome: Fieber mit/ohne Schweiß, Durst, Keuchen, Husten, erschwerte Atmung, Nasenflügelatmung

Ursache: Die pathogenen Faktoren Wind-Kälte oder Wind-Hitze haben sich in Hitze transformiert und Hitze in der Lunge verursacht nun, dass das Lungen-Qi blockiert wird.

Rezepturanalyse: Herba Ephedrae öffnet die Poren und fördert die Verteilung des blockierten Lungen-Qi. Die Kombination mit dem sehr kalten Gipsum hilft die Hitze aus Lunge und Magen in der Qi-Schichte zu befreien und diese über die Poren nach außen zu leiten. Sm. Armeniae verbessert den Husten und wirkt gemeinsam mit Hb. Ephedrae gegen das erschwerte Atmen und einen eventuell aufgetretenen Bronchospasmus. In Honig gebratenes Süßholz harmonisiert und nährt das Blut, damit der Infekt nicht tiefer treten kann. Mit seiner antiallergischen Wirkung kann es einer Th2-Imbalance vorbeugen.

Kommentar: Diese Rezeptur, speziell der Bestandteil Gipsum, stellt eigentlich ein gutes chinesisches Antipyretikum für Asthmatiker dar, das hier durch 3 warme, entlastende, schleimlösende und antiallergisch wirksame Arzneien gegenreguliert wird. Im Vergleich zu Paracetamol/Acetaminophen oder Ibuprofen müsste damit die Auslösung eines Bronchospasmus unwahrscheinlicher werden. Diese empirische Erfahrung entspricht, wissenschaftlich gesehen, einer unüberprüften Hypothese und sollte dringend in klinischen Studien getestet werden. Außerdem kann diese Rezeptur bei entsprechender Symptomatik auch in der „Wait-and-see“-Phase einer beginnender Pneumonie eingesetzt werden.

Wie man in ◘ Tab. 8.4 deutlich erkennen kann, entspricht diese Rezeptur fast Ma huang tang. Nur Rm. Cinnamomi, eine warme, scharfe Arznei, die das Äußere befreit, wird gegen das sehr kalte, süße Gypsum fibrosum ausgewechselt, um das inzwischen entstandene eingeschnürte Feuer und die Hitze aus der Lunge zu eliminieren. Die Kombination von Hb. Ephedrae und Gipsum wird gerne dazu verwendet, die Hitze zu kühlen und sie über das Öffnen der Poren nach außen zu leiten.

Tab. 8.4 Unterscheidung Ma huang tang/Ma xing shi gan tang

Hier wird deutlich, dass Zhāng Zhòng-Jǐng äußerst elegant durch Änderung nur einer einzigen Arznei eine scharfe, heiße Rezeptur für die oberflächliche Tai Yang-Schichte in eine kühlende, das Lungen-Qi befreiende Rezeptur der Yang Ming-Schichte modifiziert hat.

Die antivirale Wirkung von Ma xing shi gan tang gegen Influenza-Virus A/WSN/33 (H1N1), aber auch gegen verschiedene andere Stämme des humanen Influenza-A-Virus, inklusive klinisch Oseltamivir-resistenten Stämmen, wurde durch Hemmung der viralen Replikation und einer Aufhebung der PI3K/AKT (phosphoinositide-3-kinase)-Signalgebung beim Vireneintritt erklärt. Mittels Rasterkraftmikroskopie konnte gezeigt werden, dass auch die virale Oberflächenstruktur durch Ma xing shi gan tang gestört wird. Somit demonstriert dieser wissenschaftliche Nachweis, dass Ma xing shi gan tang eine interessante Option zur Behandlung von viralen Infekten im Rahmen von saisonalen Pandemien darstellen könnte (Hsieh et al. 2012).

Wenn sich die Erkrankung in dieser Phase noch länger hinzieht,

  1. 1.

    kommt es entweder zu subfebrilen Temperaturen mit hartnäckigem, trockenem Husten: Zhu ye shi gao tang-Muster,

  2. 2.

    oder die Hitze formt ein gelbliches Sekret: Xiao xian xiong tang-Muster.

ad 1. Zhu ye shi gao tang -SHL § 397

die eine Variation von Bai hu tang darstellt, aber durch Zugabe von Rd. Ginseng, Rd. Ophiopogonis etc. aus einem extrem kühlenden Rezept, ein kühlendes, aber tonisierendes Rezept macht, um einer bereits beginnenden Schwächung der Gesamtkonstitution des Patienten entgegen zu wirken.

Aus Bai hu tang werden verwendet:

Gipsum (Shi gao) -:

scharf, süß, extrem kalt

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao) -:

süß, leicht warm

Reis (Geng mi) -:

süß

plus: Hb. Lophaterii (Dan zhu ye) -:

kalt, scharf

Rd. Ophiopogonis (Mai men dong) -:

leicht kalt, süß, leicht bitter

Rd. Ginseng (Ren shen) -:

neutral, süß, bitter

Rh. Pinelliae (Ban xia) -:

scharf, warm

Puls -:

beschleunigt, leer

Zunge -:

rot mit wenig, gelblichem Belag

Rezeptanalyse: Diese Rezeptur behandelt subakute, fiebrige Erkrankungen, bei denen der pathogene Faktor in der Yang Ming-Schichte (des Shānghán lùn) hängen geblieben ist. Nachdem das starke Fieber bereits nachgelassen hat, bestehen noch niedriges Fieber mit unangenehmer leichter Schweißsekretion, Durst, Trockenheit und Übelkeit bzw. Erbrechen sowie hartnäckige Kurzatmigkeit und Husten mit Reizbarkeit, Unruhe und ausgetrocknetem Mund, trockene, rote Lippen und Rachen. Noch befindet sich Hitze in Lunge und Magen und hat die Schleimhäute ausgetrocknet, den Qi-Fluss blockiert und den Geist verwirrt. Hier besteht bereits ein beginnender Yin (Feuchtigkeits)-Mangel, der durch das Schwitzen und die Hitze entstanden ist.

Als Therapie muss man nun die Resthitze entfernen. Das Element Metall muss gekühlt werden, damit es wieder Flüssigkeiten hervorbringen kann. Zugleich werden mit süßen Arzneien neue Körpersäfte erzeugt und das bereits geschwächte Qi gestärkt.

Im Vergleich zu Bai hu tang wurde Hb. Ephedrae entfernt. Das Anregen der Schweißsekretion wäre hier stark kontraproduktiv und würde die Trockenheit noch weiter verstärken. Stattdessen wird mit Hb. Lophaterii und Gipsum die Hitze aus der Yang Ming/Qi-Schichte entfernt, und die Reizbarkeit verbessert, weil Hb. Lophaterii auch einen Herzbezug hat. Rd. Ginseng und Rd. Ophiopogonis stärken das Qi, aber auch bereits das Yin, erzeugen durch deren Süße saubere Säfte, die die trockenen Schleimhäute befeuchten. Mancher Leser wird verwundert sein, warum hier das scharfe Rh. Pinelliae enthalten ist. Der Grund ist, dass Rh. Pinelliae das gegenläufige Qi abwärts steigen lässt und auch ein Gegengewicht zu den befeuchtenden Arzneien dieser Rezeptur darstellt sowie eine eventuell zu starke Verschleimung, die durch das Säfte-Zuführen entstehen könnte, schon im Vorfeld vermeidet.

An dieser Rezeptur sieht man, wie gut das „Multi-Target-Prinzip“ der TCM-Phytotherapie möglichen Arzneimittelnebenwirkungen bereits im Ansatz vorbeugt und durch die empirische Krankheitskenntnis auch ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung verhindern kann, indem zum Beispiel in dieser Rezeptur bereits Yin-Tonics eingebaut sind, die die weitere Austrocknung der Schleimhäute vermeiden.

Falls auch dieser Zustand nicht behandelt wird oder wegen der subfebrilen Temperaturen „aus Verzweiflung“ doch ein Antibiotikum gegeben wird, das das Mikrobiom der Lunge und des Darms weiter beschädigt, schwelt die „Hitze“ weiter vor sich hin und im Laufe von ein bis mehreren Wochen können ein Yin-Mangel bzw. Hitze in Shao Yin-Schichte des Shānghán lùn bzw. der Ying-Ebene des Wēn Bìng Lùn entstehen. In diesem Fall wären als Folgerezepturen Mai men dong tang oder Qing ying tang angebracht (s. ◘ Abb. 8.17 und unten). Aus diesem Muster heraus wäre ein weiteres Fortschreiten bis in die Blutschichte möglich.

ad 2.Bildet sich durch die Hitze im Yang Ming jedoch ein gelbliches Sekret, das durch Eindickung der Feuchtigkeit entsteht, ist oft folgende Rezeptur angebracht:

Xiao xian xiong tang - :

SHL § 138

Fr. Trichosanthis (Gua luo) - :

kalt, süß, expektorativ, wirkt gut bei Staph. aureus, Pneumokokken

Rh. Pinelliae (Ban xia) -:

warm, scharf, trocknet Feuchtigkeit, antitussiv

Rh. Coptidis (Huang lian) -:

bitter kalt, eliminiert feuchte Hitze, eines der besten „Antibiotika“ der TCM: gut gegen Pneumokokken, Mycobacterium tuberculosis, Bordetella pertussis, Proteus, Staph. aureus

Zunge -:

roter Zungenkörper

Belag - gelb, klebrig

Puls -:

schnell, schlüpfrig, voll

In diesem Krankheitsmuster des Yang Ming-Stadiums führt die pathogene Hitze zu fokussierter Schwellung mit Engegefühl im Thorax und Epigastrium, welches durch Verklumpung von Schleim und Hitze entsteht. Diese Verklumpung schnürt das Qi ein und erzeugt ein Atemnotsgefühl mit Aushusten von dickem, gelbem, fast gummiartigem Sputum. Da auch das Magen-Qi blockiert ist, besteht ein Spannungsschmerz im Epigastrium mit Erbrechen, manchmal hustet der Patient auch bis zum Erbrechen.

Rezeptanalyse: Rh. Coptidis kann mit seiner bitteren Kälte wunderbar die Hitze kühlen, die Zusammenballung von Feuchtigkeit und Schleim auflösen und lässt das Magen-Qi wieder absteigen. Fr. Trichosanthis löst den Schleim, erweitert den Thorax, löst Klumpen auf und leitet Hitze abwärts. Rh. Pinelliae transformiert Schleim und leitet rebellierendes Qi nach unten.

Je nachdem, wo die Schleim-Hitze sitzt, kann man diese Rezeptur dann mit dem Zusatz von bitter-kalten Kräutern, schleimtransformierenden und schleimausleitenden Kräutern wie z. B. Rd. Scutellariae (Huang qin), Rh. Atractylodis viride (Cang zhu) und Poria (Fu ling) personenzentriert modulieren.

Manchmal entsteht dieses Muster auch, indem sich das weißliche Sekret aus Nase und Bronchien aus der Tai Yin-Schichte in gelbes, eitriges, und evtl. stinkendes Sekret transformiert und sich eine eitrige Bronchitis, Sinusitis oder Otitis media ausbildet (s. ◘ Abb. 8.18). Konventionell sprechen wir dabei von bakterieller Superinfektion und würden Antibiotika verschreiben. Aus TCM-Sicht spricht man von einer Umwandlung von kaltem Schleim in heißen Schleim. Mögliche Ursachen aus TCM-Sicht sind:

  1. 1.

    Behandlungsfehler: z. B. wenn zu lange diaphoretisch behandelt wurde und durch das „räuberische“ Schwitzen ein Kühlflüssigkeitsmangel mit anschließender Hitze entsteht oder wenn zu lange purgiert wurde. (Auch Antibiotika haben einen purgierenden Effekt!)

  2. 2.

    Durch Stagnation der Feuchtigkeit und inneres Verklumpen kann sich Hitze ausbilden, die dann den Schleim in ein zähes, gelbes Sekret umwandelt.

  3. 3.

    Das Pathogen hat sich von selbst in Hitze transformiert.

Abb. 8.18
figure 18

Mögliche Transformation von „kaltem Schleim“ in „heißen Schleim“. Durch Behandlungsfehler (z. B. überlange Diaphorese) oder durch Stagnation von Feuchtigkeit kann ein Tai Yin-Muster in ein Yang Ming-Muster übergehen (roter diagonaler Pfeil). Aus „kaltem“ weißen Schleim wird „heißer“ gelber Schleim, der jedoch auch direkt aus einem nicht gestoppten Ma huang tang/Ma xing shi gan tang-Muster entstehen kann

Dieses Muster wird auch als

Hitze in der Yang Ming-Schichte (nach dem 6-Schichten-System des Shānghán lùn)

oder Hitze in der Qi-Schichte (nach dem 4-Schichten-System des Wēn Bìng Lùn) bzw.

heißer Schleim in der Lunge (nach dem System der Zang Fu) bezeichnet.

Kommentar: Die chinesische Medizin ist eine funktionelle Medizin. Sie beobachtet weniger das Detail, sondern die Interaktion des Organismus mit seinem Umfeld. Deshalb haben sich verschiedene Systeme entwickelt, die Muster identifizieren und beschreiben, wie sich Disharmonien entwickeln, die den klinischen Erscheinungen zugrunde liegen. Diese Muster überschneiden sich dann natürlich zum Teil und behandeln teilweise dieselben Zustände. Weil die Symptomatik der Yang Ming-Schichte des Shānghán lùn der Qi-Schichte des Wēn Bìng Lùn ähnlich ist (◘ Abb. 8.19) und der weitere Verlauf des respiratorischen Infekts in den heute verwendeten Rezepturbüchern oft über das 4-Schichten-System des Wēn Bìng Lùn erklärt wird, werden diese beiden Systeme nun von der Autorin aus didaktischen Gründen in einer Grafik gegenübergestellt, um die für TCM-Anfänger oft unverständliche Mischung von Mustern zu systematisieren und Klarheit zu schaffen.

Abb. 8.19
figure 19

Hitzesyndrome werden im Shānghán lùn (rot) und Wēn Bìng Lùn (gelb) mit ähnlichen Rezepturen behandelt. Manche Muster der Yang Ming-Schichte aus dem Shānghán lùn entsprechen klinisch den Mustern der Qi-Schichte aus dem Wēn Bìng Lùn

Auch das Rezept Qing qi hua tan wan kann in diesem Krankheitsmuster bei feuchter Bronchitis mit gelblichem Sekret Abhilfe schaffen:

Qing qi hua tan wan

Fr. Trichosanthis (Gua lou) -:

kalt, süß, bitter

Rh. Pinelliae (Ban xia) -:

warm, scharf

Rd. Scutellariae (Huang qin) -:

kalt, bitter

Pc. Citri ret. (Chen pi) -:

warm, scharf, bitter

Sm. Armeniacae (Xing ren) -:

leicht warm, bitter

Fr. Aurantii immat. (Zhi shi) -:

kühl, scharf, bitter

Poria (Fu ling) -:

neutral, bland

Rh. Arisaematis cum bile (Dan nan xing) -:

warm, bitter, scharf

Rezeptanalyse: Arisaematis cum bile ist sehr effektiv bei der Auflösung von heißem Schleim der Atemwege, besonders wenn es mit Rd. Scutellariae und Fr. Trichosanthis kombiniert wird. Fr. Aurantii imm. und Pc. Citri ret. zerstreuen Schleimklumpen und regulieren das Qi. Rh. Pinelliae löst den Schleim und Poria bahnt einen Weg, um die gelöste Feuchtigkeit über den Harn auszuleiten. Kenner der TCM werden sofort bemerken, dass in dieser Rezeptur die klassische schleimlösende Rezeptur Er chen tang verborgen ist, ergänzt um einige spezifische Schleimlöser für die Lunge.

Akupunktur

Schleim und Hitze lösen: Lu 5, Lu 10, Di 11, B 13

M 40, KS 6, KG 9, KG 12, KG 22

Absenkende Funktion der Lunge wiederherstellen: Lu 1, Lu 7

Ernährung

Kühlende, bittere Nahrungsmittel

Rhabarber, grüner Tee, Enzianwurzeltee, Kamillentee

Milzstärkend: Kartoffel, Karotten Hirse, Reis

Eukalyptusblätter

Vermeiden

Zu heiße, fettige Speisen, Alkohol, Rauchen

In diesem Stadium ist oft der Einsatz von Antibiotika erforderlich.

Sehr häufig klingt der Infekt danach ab. Doch manchmal kommt es zu einer weiteren Chronifizierung.

Durch die schwelende Hitze, der langsam die Kühlflüssigkeit ausgeht, wird der Schleim immer zäher und trockener und schließlich fühlen sich die Schleimhäute wund an und brennen. Der Patient (z. B. nach Pneumonie mit Antibiotikum) berichtet auch noch Wochen nach der Akutphase des Infekts über trockenen Hustenreiz, der ihm den Schlaf raubt, trockene Kehle, Halsschmerzen, Heiserkeit und Durst. Der Immunologe würde hier den Beginn einer nicht gestoppten Entzündung mit beginnender eosinophiler Inflammation sehen. Patienten mit Sinusitis klagen bei diesem Muster über wunde, brennende Schleimhäute der Nase, leiden aber trotzdem unter Verstopfheitsgefühl der Nase. Auch hier handelt es sich wahrscheinlich um den erst kürzlich definierten Phänotyp der chronisch-eosinophilen Rhinosinusitis. Im Wēn Bìng Lùn bezeichnet man diese Transformation als:

Übergang der Inflammation von der Qi-Schichte in die Ying-Schichte bzw. Blutschichte (nach Wēn Bìng Lùn)

bzw. Übergang aus der Yang Ming-Schichte in die Hitzetransformation der Shao Yin-Schichte (nach Shānghán lùn) (◘ Abb. 8.20).

Abb. 8.20
figure 20

Übergang des Wärme/Hitze-Musters (nach Wēn Bìng Lùn) von der Qi- über die Ying- in die Blutschichte bzw. (nach Shānghán zábìng lùn) von der Yang Ming-Schichte in die Hitzetransformation der Shao Yin-Schichte. Wenn die Entzündung aus der Qi-Schichte (bzw. Yang Ming-Schichte) nicht eliminiert bzw. gestoppt werden kann, dringt sie in die nächst-tiefere Schichte, die Ying-(Nähr-)Schichte (bzw. Shao Yin-Schichte) vor. Durch die permanente „hitzige“ Inflammation (Calor, Rubor) dickt der Schleim ein und wird trocken. Unangenehme Heiserkeit, kratzender Hals mit Hustenreiz oder trockener und quälender Husten treten auf. Die Schleimhäute des Respirationstrakts werden empfindlich, fühlen sich wund an und „brennen“. Das feuchte Yin ist verbraucht, das Yang ist relativ im Überschuss, dadurch empfindet der Patient eine unangenehme Hitze und hat gerötete Wangen. Manchmal entwickeln diese Patienten auch subfebrile Temperaturen, die wochenlang bestehen bleiben, jedoch bei Abklärung keine pathologischen Befunde ergeben. Das Fieber kann sich nachts verschlechtern, weil zur maximalen Yin-Zeit das kühlende Yin besonders fehlt. Hand- und Fußsohlen werden als unangenehm warm empfunden. Dieser Zustand ist insofern gefährlich, weil eine Austrocknung bzw. das Fehlen von „Kühlflüssigkeit“ das Feuer (der Entzündung) noch mehr anfacht. Dadurch entstehen neben dem trockenen Husten auch innere Unruhe und trockene Haut mit Exanthemen. Dieser Prozess ist aus TCM-Sicht auch für die Pathogenese der Neurodermitis bzw. des atopischen Ekzems verantwortlich. Tritt die Inflammation noch tiefer, gelangt sie in die Blutschichte (nach Wēn Bìng Lùn). Die Blutgefäße verlieren durch den ständigen Hitzereiz ihre Geschmeidigkeit, brechen auf und geben kleine Blutspuren frei. In der Folge können blutig tingiertes Nasensekret oder Sputum auftreten. Außerdem sieht man oft makulopapilläre bzw. trockene Exantheme

Dieser Zustand wird auch Hitze und Trockenheit in der Lunge genannt.

Abb. 8.21
figure 21

Zunge bei Übergang von Qi-Schichte in Ying-Schichte nach Wēn Bìng Lùn. Auf der geröteten, durch die permanente Hitze bereits rissigen Zunge imponiert ein dünner, trockener Belag

Bei mu gua lou san

Bl. Fritillariae Thunbergii (Zhe bei mu) -:

kalt, bitter

Fr. Trichsoanthis (Gua lou) -:

kalt, süß

Rd. Trichosanthis (Tian hua fen) -:

kalt, süß, bitter

Poria (Fu ling) -:

neutral, bland

Pc. Citri ret. (Chen pi) -:

warm, scharf, bitter

Rd. Platycodi (Jie geng) -:

neutral, scharf, bitter

Puls -:

beschleunigt, dünn

Zunge -:

trocken, gerötet, dünner, trockener Belag (s. ◘ Abb. 8.21)

Rezeptanalyse: Das bitter-kalte Bl. Fritillariae Thunbergii befeuchtet die Lunge, löst den Schleim und stoppt Husten. Unterstützt wird es von Fr. Trichosanthis, die ebenfalls Schleim eliminieren kann und trotzdem simultan die trockene, entzündete Bronchialschleimhaut kühlt und befeuchtet.

Rd. Trichosanthis kann noch besser die durch die Hitze verletzte Feuchtigkeit der Bronchialschleimhaut, das sich als trockener Reizhusten äußert, wiederaufbauen und dabei aber trotzdem den zähen Schleim wie ein „Dampfsauger“ auflösen. Rd. Platycodi fördert das Fließen des Lungen-Qi und befeuchtet den Rachen. Poria und Pc. Citri ret. stärken die Milz und bewirken dadurch, dass wieder neue, klare Körpersäfte zur Lunge transportiert werden können.

Bei der eosinophilen Sinusitis würde man hier wieder Cang er zi san befügen.

Akupunktur

Lunge befeuchten und stärken: Lu 9, B 13

Säfte ergänzen: KG 4, MP 6, KG 12

Ernährung

Befeuchten und kühlen:

Birne, Apfel, Mango, Pfirsich

 

Papaya, Sellerie, weißer Rettich, Spargel, Kürbis, Kohlrabi

Eibischwurzel

Vermeiden

Scharfe Gewürze wie frischer Ingwer, Knoblauch

8.3.2.3 Hitze in der Shao Yin- oder Ying-Schichte bzw. Lungen-Yin-Mangel

Wenn nun auch der letzte zähe Schleim durch die Hitze eindickt und die Bronchial- oder Nasenschleimhaut immer dünner und wunder werden, ist die Hitze in der Ying-Schichte bzw. nach SHL in der Shao Yin-Schichte (s. ◘ Abb. 8.20) angekommen. Je länger der heiße, entzündliche Prozess in der Qi-Schichte andauert, desto trockener werden die Schleimhäute. Unangenehme Heiserkeit, kratzender Hals mit Hustenreiz oder trockener und quälender Husten treten auf. Typisches Zeichen des Überganges der Erkrankung von der Qi- in die Ying-Ebene ist der Verlust von Durst. In der Qi-Ebene besteht viel Durst, als Zeichen des Plünderns der Magensäfte, die regeneriert werden wollen. Wenn die Hitze die Ying-(Nähr-)Ebene erreicht hat, verdampfen die physiologischen Säfte aus der Nährebene und der Patient empfindet keinen Durst mehr.

Das feuchte Yin ist verbraucht, das Yang ist relativ im Überschuss, dadurch fühlt sich der Körper heiß an. Durch die schwelende Hitze entstehen subfebrile Temperaturen, die wochenlang bestehen bleiben, bei Abklärung jedoch keine pathologischen Befunde ergeben. Das Fieber kann sich nachts verschlechtern, weil zur maximalen Yin-Zeit das kühlende Yin besonders fehlt. Auch Hand und Fußsohlen werden unangenehm warm. Die Wangen röten sich. Dieser Zustand ist jedoch gefährlich, weil eine Austrocknung das Feuer (der Entzündung) noch mehr anfacht. Dadurch entstehen neben dem trockenen Husten auch innere Unruhe und trockene Haut mit Exanthemen. Diese Symptome beobachtet man heute auch häufig nach langfristiger Anwendung von inhalativen Kortikoiden.

Puls -:

beschleunigt, dünn

Zunge -:

hochrot, belaglos, trocken mit Rissen im Lungenareal

Qing ying Tang

Co. Bubali (Shui niu jiao) - :

salzig, bitter, kalt

Rd. Scrophulariae (Xuan shen) - :

süß, bitter, kalt

Rd. Rehmanniae viride (Sheng di huang) - :

süß, bitter, kalt

Rd. Ophiopogonis (Mai men dong) - :

süß, leicht bitter, kalt

Fr. Forsythiae (Lian qiao) - :

scharf, bitter, antitoxisch

Fl. Lonicerae (Jin yin hua) - :

kalt, süß

Hb. Lophaterii (Dan zhu ye) - :

kalt, süß, bland

Rh. Coptidis (Huang lian) - :

bitter, kalt

Rd. Salviae (Dan shen) - :

bitter, kalt

Rezeptanalyse: Hier entfernen die bitter-kalten Arzneien die Hitze aus der Ying-Ebene. Die kalt-bittere, salzige Kaiserarznei Co. Bubali kühlt sehr gut Hitze, die in diese innere Schichte vorgedrungen ist. Rd. Scrophulariae, Rd. Rehmanniae viride und Rd. Ophiopogonis befeuchten jedoch zusätzlich mit ihrer Süße das Yin und regenerieren die Körpersäfte. Fr. Forsythiae, Fl. Lonicerae, Hb. Lophaterii und Rh. Coptidis befreien von den Toxinen der darüberliegenden Qi-Ebene, aus der die Erkrankung abgesunken ist und lindern die toxischen Wirkungen des Infekts. Vorausblickend sind in diese Rezeptur blutkühlende Arzneien eingebaut, um zu vermeiden, dass die Erkrankung noch tiefer in die Blutschichte übertritt. Rd. Rehmanniae viride und Rd. Salviae kühlen das Blut und wirken aus der Tiefe heraus kühlend und befeuchtend.

Während vorige Rezeptur direkt nach einem Infekt verwendet wird, um Resthitze und Toxine (Viren und Bakterien) zu eliminieren, hat die folgende Rezeptur eher die Aufgabe, bei einem längst abgelaufenen Prozess die ausgetrockneten Schleimhäute von Lunge und Magen wieder aufzubauen und die Flüssigkeiten, die durch die lang dauernde Hitze verbraucht wurden, wieder zu stärken:

Mai men dong tang -:

JGYL § 7–10

Rd. Ophiopogonis (Mai men dong) -:

süß, leicht bitter, kalt

Rd. Ginseng (Ren shen) -:

süß, bitter, neutral

Rd. Glycyrrhizae (Gan cao) -:

süß, neutral

Rh. Pinelliae (Ban xia) -:

scharf, warm

Fr. Ziziphi jujubae (Da zao) -:

süß, neutral

Reis (Geng mi) -:

süß

Rezeptanalyse: Bei so viel Trockenheit nützt es nicht, wenn der Patient viel trinkt. Die Flüssigkeit, die in den Magen gelangt, sollte von diesem und von der Milz verdampft werden. Der „saubere“ Dampf hätte dann die Aufgabe, die Schleimhäute des Respirationstrakts und die Haut zu befeuchten und wieder geschmeidig zu machen.

Bei diesem Zustandsbild ist die Magenschleimhaut jedoch schon zu sehr ausgetrocknet und der Magen zu schwach, um Flüssigkeit so zu transformieren, dass die Bronchialschleimhaut befeuchtet werden kann. Patienten, die in diesem Zustand viel trinken, berichten über sofortigen Harndrang und persistierende Trockenheit der Schleimhäute. Deshalb muss man mit der befeuchtenden, kühlenden Rd. Ophiopogonis die Schleimhäute von Lunge und Magen befeuchten. ◘ Abb. 8.22 demonstriert, dass der Magen dem Yang-Organ des Elements Erde entspricht, die nach den 5 Elementen als „Mutter“ der Lunge (Element Metall) gilt und aufgrund der Trockenheit zu wenig Säfte produziert. Aus TCM-Sicht muss die „Mutter“ tonisiert werden, um das „Kind“ zu stärken: Dazu verwendet man Rd. Ginseng und befeuchtet damit den Magen, aber auch die Lunge und stärkt das Qi. Gemeinsam mit Rd. Ophiopogonis bilden die beiden ein stark befeuchtendes, erfrischendes und schleimhautregenerierendes Kräuterpaar. Die süßen Datteln, das Süßholz (das hier in seiner unpräparierten Form verwendet wird, um den ausgetrockneten Rachen besser zu befeuchten) und der Reis unterstützen den Magen, damit wieder „saubere“ Säfte erzeugt werden können, die den Respirationstrakt befeuchten. Damit die Rezeptur nicht zu stark befeuchtet, wird eine ganz kleine Menge vom scharfen, schleimlösenden Rh. Pinelliae beigemischt. Auch hier sieht man das genial abgestimmte Prinzip einer chinesischen Rezeptur, das mögliche Nebenwirkungen (in diesem Fall zu viel Feuchtigkeit, die der Körper nicht verarbeiten könnte) schon von Anfang an berücksichtigt und diesen gegensteuert.

Abb. 8.22
figure 22

5 Wand-lungsphasen: Förderungszyklus . Das im Zyklus voranstehende „Mutter“-Element Erde stärkt sein „Kind“, das Element Metall

Diesen „fortgeschrittenen“ Zustand einer Erkältungserkrankung, der über Jahre bestehen bleiben kann, sieht man häufig bei Asthmapatienten, deren Bronchialschleimhaut durch die eosinophile Infiltration chronisch entzündet ist. Auch im Zusammenhang mit der Heiserkeit bei inhalativer Steroidtherapie beobachtet man dieses Syndrom.

Die chinesische Kräutertherapie eröffnet nun die elegante Möglichkeit, mithilfe der zart befeuchtenden Arzneien die Trockenheit der Schleimhäute zu beseitigen und die chronische Entzündung der Bronchien zu verbessern.

Hypothese: Mit der Kenntnis der heutigen immunologischen Grundlagenforschung könnte man die Symptome der Hitze im Shao Yin bzw. Hitze der Ying-Schichte als nicht gestoppte Entzündung mit beginnender eosinophiler Inflammation und bronchialer Hyperreaktivität interpretieren (s. ◘ Abb. 8.23). Den Begriffen „Trockenheit“ und „schwelende Hitze“ sowie „Mangel an Säften“ würde ein Mangel an Lipoxinen, Resolvinen, Protektinen und Maresinen mit fehlender Entzündungsauflösung entsprechen.

Abb. 8.23
figure 23

Eosinophiler Phänotyp der Inflammation. Die TCM-Begriffe „Trockenheit“ und „schwelende Hitze“ sowie „Mangel an Säften“ kann man mit dem Verständnis der heutigen Immunologie als ungestoppte eosinophile Inflammation mit Mangel an Lipoxinen, Resolvinen, Protektinen und Maresinen und fehlender Entzündungsauflösung interpretieren

Aus der Praxis weiß man, dass man in diesem Stadium mithilfe von chinesischen Rezepturen die Entzündung gut gegenregulieren kann. Die Wirkung von Mai men dong tang wurde in einer Studie belegt, indem bei 100 Kindern zwischen 5 und 18 Jahren mit allergischem Asthma nach 4 Monaten Therapie signifikante Verbesserungen des Symptomen-Scores und eine Verbesserung der FEV1, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, sowie eine Tendenz zu reduzierten Serum-IgE-Werten in der Behandlungsgruppe beobachtet wurden (Hsu et al. 2005) (s. ► Abschn. 7.4.2). ◘ Tab. 8.5 soll im Vergleich des soeben besprochenen Mai men dong tang mit dem in ► Abschn. 8.3.2.2 besprochenen Zhu ye shi gao tang zeigen, dass beide Rezepturen dieselben Arzneien als „Rumpf“ verwenden, jedoch Zhu ye shi gao tang noch über Gipsum und Hb. Lophaterii die Qi-Schichte befreit, während Mai men dong tang für die Tonisierung der Ying-Schichte das befeuchtende Sm. Ziziphi jujubae verwendet, weil die Erkrankung bereits in die Ying-Schichte vorgedrungen ist. Die Kunst des TCM-Arztes besteht darin, die Schichte, in der sich die Erkrankung befindet, zu diagnostizieren. Hier wären Symptome wie trockener Husten, subfebrile Temperaturen bzw. das Gefühl, noch Fieber zu haben, Hitzegefühl und Unruhe sowohl in der Qi- als auch in der Ying-Schichte vorhanden. Die „Essenz des Unterscheidung“ lässt sich in diesem Fall an Zunge und Durstgefühl erkennen, weil der gelbliche Belag der Qi-Schichte in einen dünnen bis fehlenden Belag mit Rissen im Lungenareal in der Ying-Schichte übergeht, und auch der überstarke Durst der Qi-Schichte in der Ying-Schichte abnimmt bis verschwindet.

Tab. 8.5 Unterscheidung Zhu ye shi gao tang/Mai men dong tang

Bei trockenem, kratzigem, brennendem Hals mit Heiserkeit und Hitzegefühl verwendet Zhāng Zhòng-Jǐng auch:

Jie geng tang - :

SHL § 311

Platycodi Rd. (Jie geng) -:

neutral, scharf, bitter

Glycyrrhizae Rd. (Gan cao) -:

in unpräparierter Form: süß, neutral

Rezeptanalyse: Pathogene Hitze, die in die Shao Yin-Leitbahn bzw. Ying-Schichte eingedrungen ist, wird durch Gan cao befreit und lindert so die Trockenheit. Rd. Platycodi löst Kratzen im Hals auf.

Für die Therapie der Hitze in der Shao Yin- bzw. Ying-Schichte ist die Ernährung besonders wichtig, die kühlend, erfrischend und befeuchtend sein sollte, um die trockenen Schleimhäute zu benetzen.

Ernährung

Hier sind Joghurt, Milch und Milchprodukte (Vorsicht bei Laktoseintoleranz) sowie Tofu Therapie der Wahl! Durch deren „verschleimende“ Wirkung befeuchten sie den Körper und ergänzen das fehlende Yin.

Ei, Algen, Wassermelonen, Mandarinen, Birnen

Walnüsse, Erdnüsse, Pinienkerne, Gerstenmalz, Honig

Tomaten, Spargel, Zucchini, Spinat, Gurken, weißer Rettich, Kohlrabi

Akupunktur

Lungen-Yin stärken: Lu 9, KG 17,

Nieren-Yin stärken: N 6, (evtl. mit Lu 7), N 3, KG 4

Lungen-Qi stärken: B 13, B 38, LG 12

Säfte stärken: MP 6

Lungen-Hitze entfernen: Lu 10

8.3.2.4 Hitze in der Blutschichte

Kann die schwelende Hitze noch immer nicht gekühlt werden, schreitet sie weiter fort und tritt von der Ying- (Nähr-) Schichte in die tiefste Wen-bing-Schichte, die Blutschichte, über. Die ständige Hitze führt zu chaotischen Blutbewegungen innerhalb der Gefäße, die diese verletzen. Durch den ständigen Reiz auf die Blutgefäße verlieren diese ihre Geschmeidigkeit, brechen auf und geben kleine Blutspuren frei. In der Folge können blutig tingiertes Nasensekret oder Sputum auftreten. (Natürlich muss hier auch konventionell abgeklärt werden, ob kein Karzinom vorliegt.) Auch die gastrointestinalen Schleimhäute können betroffen sein und leicht bluten. Außerdem sieht man oft makulopapilläre bzw. trockene Exantheme.

Weiters bringt die Hitze die Körpersäfte aus der Tiefe zum Schäumen und diese „kochen“ nun nach oben. Daher besteht hier zwar ein Durstgefühl, der Patient möchte jedoch nicht trinken, sondern nur „seinen Mund mit Wasser ausspülen“.

Wenn die Hitze auf das Herz-Blut übergreift, entstehen geistige Unruhe mit Angstzuständen sowie Rastlosigkeit bis Delirium mit Aphthen auf Zunge und Mundschleimhaut. Bei Hitze im Leber-Blut klagen die Patienten über Juckreiz, Asthmaanfälle und unkontrollierbare Wutausbrüche.

Eine klinisch hochakute Manifestation, bei der eine Erkrankung bis in die Blutschichte vorgedrungen ist, wäre die akute Meningitis mit Exanthem, die man jedoch niemals mit TCM behandeln würde. Die TCM behandelt aber gerne chronische Prozesse, bei denen durch langfristiges Nichtausleiten oder falsches Ausleiten das Hitze-Toxin in der Blutschichte „stecken geblieben“ ist und sich in toxische Hitze umgewandelt hat, wie die Neurodermitis mit roten, trockenen Exanthemen, die beim Aufkratzen bluten. (Differenzialdiagnose: Tritt beim Aufkratzen seröse Flüssigkeit aus, handelt es sich aus TCM-Sicht um feuchte Hitze!)

Auch Autoimmunerkrankungen wie Purpura Schönlein Hennoch, thrombozytopenische Purpura, Lupus erythematodes, chronische Konjunktivitis oder eine akute Leukämie wären – aus TCM-Sicht – Erkrankungen, bei denen die toxische Hitze bis in die tiefste Schicht, die Blutschichte vorgedrungen ist.

Zunge - :

dunkelrot mit brennenden Bläschen

Puls - :

dünn, beschleunigt

Spätestens in dieser Phase können die entzündlichen Veränderungen der Bronchialschleimhaut (das Remodeling beim Asthmatiker hat längst begonnen!) eine Hyperreaktivität der Bronchien verursachen. Blut wird lt. TCM in der Leber gespeichert und die Leber ist auch jenes Organ, das für den sanften und gleichmäßig Energiefluss verantwortlich ist. Die Hitze im Blut lässt jedoch keinen sanften Fluss mehr zu und kann zu Bronchospasmen führen, die durch blutkühlende und bluttonisierende Arzneien verbessert werden können.

Abb. 8.24
figure 24

Bai he gu jin tang besteht aus 10 pflanzlichen Arzneien und eliminiert Hitze aus der Blutschichte

Bai he gu jin tang (◘ Abb. 8.24)

Bl. Lilii (Bai he) -:

leicht kalt, süß, leicht bitter

Rd. Rehmanniae viride (Sheng di huang) -:

süß, bitter, kalt

Rd. Ophiopogonis (Mai men dong) -:

leicht kalt, süß, bitter

Rd. Scrophulariae (Xuan shen) -:

süß, bitter, salzig, leicht kalt

Rd. Rehmanniae präp. (Shu di huang) -:

warm, süß

Bl. Fritillariae cirrhosae (Chuan bei mu) -:

kühl, süß, bitter

Rd. Platycodi (Jie geng) -:

neutral, scharf, bitter

Rd. Angelicae sin. (Dang gui) -:

warm, scharf, süß, bitter

Rd. Paeoniae albae (Bai shao) -:

kühl, bitter, sauer

Rd. Glycyrrhizae (Gan cao) -:

neutral, süß

Rezeptanalyse: In diesem Zustand dürfen weder scharfe, schleimhautirritierende Arzneien noch allzu bitter-kalte, feuchte-Hitze ausleitende Arzneien verwendet werden, sondern die Trockenheit muss mit süßlichen, kühlenden Kräutern befeuchtet werden. Die ersten 5 Kräuter dieser Rezeptur erfüllen diese Voraussetzung, stärken das Yin und kühlen die Leere-Hitze. Trotzdem sind noch zwei Schleimlöser in der Rezeptur: Bl. Fritillariae cirrhosae ist süßlich und Rd. Platycodi ist berühmt für die positive Wirkung auf den trockenen Rachen, wenn man sie, wie auch in dieser Rezeptur, mit dem süßen Süßholz kombiniert. Weil die Erkrankung bereits bis in die Blutschichte vorgedrungen ist, werden zum Unterschied zu den vorigen Rezepturen blutstärkende und blutkühlende Arzneien verwendet. Die beiden blutstärkenden Arzneien Rd. Angelicae sin. und die weiße Pfingstrosenwurzel sind hier auch beigefügt, damit sie die Leber beruhigen und spasmolytisch wirken.

Die Wirkung von Rd. Angelicae sinensis wurde vor Kurzem genauer untersucht: Polysaccharide der Angelikawurzel hemmten die Aktivierung der Mastzellen mit Reduktion der Histamin- und LT C4-Freisetzung über Unterdrückung der Sekretion der inflammatorischen Zytokine IL-1. IL-4, IL-6, TNF-α sowie MCP1 („human monocyte chemotactic protein“) und NF-κB (Mao et al. 2016). Hemmung der Mastzellen-Degranulation und der Th2-Immunantworten könnten u. a. die antiallergischen Effekte dieser Rezeptur erklären. Wiedereinmal „übersetzt“ die Grundlagenforschung des 21. Jahrhunderts einen „mystischen“ TCM-Begriff wie „Blutkühlung“ in die Sprache der heutigen Zeit und weist auf das riesige bisher im Westen noch „unentdeckte“ immunologische Potenzial der chinesischen Kräutermedizin hin.

Folgende anti-asthmatische Zusätze sind möglich:

Fo. Eriobotryae (Pi pa ye) - :

kalt, bitter

Gypsum (Shi gao) - :

sehr kalt, süß, scharf

Rd. Trichosanthis (Tian hua fen) -:

kalt, süß, leicht bitter

Co. Lycii (Di gu pi) - :

kalt, süß

Co. Mori (Sang bai pi) - :

kalt, süß

Fr. Schisandrae (Wu wie zi) -:

warm, sauer

Pc. Cicadae (Chan tui) - :

kalt, süß, salzig

Lumbricus (Di long) - :

kalt, salzig, entfernt Wind-Hitze

Bombyx Batryticatus (Bai jiang can) - :

neutral, scharf, salzig, vertreibt Wind-Hitze, kann aber auch zähen Schleim transformieren

Die folgende Rezeptur wirkt allgemein auf die Bluthitze und wird oft als Grundlage für komplexe Rezepturen bei Autoimmunerkrankungen verwendet. Die letzten 3 Arzneien dieser Rezeptur sind in fast jeder Neurodermitisrezeptur enthalten.

Xi jiao di huang tang

Co. Bubali (Shui niu jiao) -:

salzig, bitter, kalt

(Xi jiao im Namen der Rezeptur ist eigentlich der Name für das Rhinozeros-Horn, das aus Artenschutzgründen strengstens verboten ist. Heute ersetzt man es durch das Wasserbüffelhorn)

Rd. Rehmanniae viride (Sheng di huang) -:

süß, bitter, kalt

Co. Moutan (Mu dan pi) -:

bitter, kühl, scharf

Rd. Paeoniae rubrae (Chi shao) -:

bitter, sauer, leicht kalt

Rezeptanalyse: Co. Bubali beseitigt toxische Hitze und Herzfeuer, Rd. Rehmanniae viride kühlt das Blut und nährt das Yin, Co. Moutan und Rd. Paeoniae rubrae, die rote Pfingstrosenwurzel, kühlen und bewegen das Blut.

Ernährung

Birnen- und Apfelkompott, Bananen, Wassermelone, Mango, Pfirsich

Papaya, Sellerie, Gurke, Spargel, Avocado, Kürbis, Kohlrabi, rote Rübe

Eibischwurzel

Joghurt

Fische aus warmen Gewässern, Algen, Tintenfisch

Jasmintee

Akupunktur

MP 10, Le 2, N 6

8.3.3 Xiao chai hu tang-Methode

8.3.3.1 Kälte in der Shao Yang-Schichte

Manchmal dringt der pathogene Faktor Wind-Kälte auch direkt in die Shao Yang-Schichte ein (s. ◘ Abb. 8.25), jene Schichte, in der das „ministerielle“ Feuer aufsteigt und in alle Organe verteilt wird. Somit ist die eindringende Kälte direkt mit der Gegenreaktion des aufflammenden Feuers konfrontiert. Der Patient empfindet dadurch einen undulierenden, schnellen Wechsel zwischen subjektiv empfundenem Kälte- und Hitzegefühl, als typisches Zeichen, dass der pathogene Faktor Kälte mit der heißen Gegenreaktion des Körpers „kämpft“. Typischerweise beschreiben Betroffene, dass sie kurz nachdem sie warme Kleidung wegen Kältegefühls angezogen hätten, bereits wieder Hitze empfänden, sich daraufhin wieder entkleideten und daraufhin sofort wieder frierten. Die Schleimhäute reagieren bei diesem Muster schnell und heftig auf die eintreffende „Kälte“, indem sie stark anschwellen und von dem aufflammenden Shao yang-Feuer ent-„zündet“ werden. Folgen sind dann Anginen, die wie „aus dem Nichts entstehen“ (im Vergleich zu Pharyngitiden, die sich langsam entwickeln), aber auch Sinusitiden, die ganz schnell hoch-akut sind. Diese aufwärtsgerichtete Form der hitzigen Gegenregulation kann sich auch in bitterem Mundgeschmack und eventuell Übelkeit äußern. Betrachtet man Patienten mit diesem Beschwerdebild ganzheitlich, erkennt man häufig eine Neigung dieser Menschen auch im Alltag zu plötzlichen heftigen Reaktionen wie Verspannungen und Spasmen sowie Gefühlsausbrüchen – „es steigt ihnen schnell die Galle hoch“ –, weshalb auch eine Bronchitis bei diesen Personen schnell spastisch werden kann. Dieses Muster wurde schon im ► Abschn. 8.3.1.2 besprochen, weil es auch im Verlauf eines Gui zhi tang-Musters (dort aber erst nach mehreren Tagen) entstehen kann.

Abb. 8.25
figure 25

Xiao chai hu tang-Methode. Besonders bei bereits vorgeschädigter Schleimhaut im Nasen/Rachenbereich dringt der pathogene Faktor bei der akuten Exazerbation direkt in die Shao Yang-Schichte ein

Übersetzt in die immunologische Sprache von heute, wären dies die klassischen Symptome einer akut exazerbierten eosinophilen Sinusitis mit oder ohne Polyposis, die chronisch-rezidivierend auftritt, oder einer rezidivierenden Angina, die bei jedem kleinsten folgenden Virusbefall sofort wieder aufflackert, oder einer „nicht gestoppten Entzündung“ im Sinne eines eosinophilen Asthmas, die spastisch exazerbiert. In der akuten Phase kann dies mit Xiao chai hu tang, wie bereits in ► Abschn. 8.3.1.2 beschrieben, therapiert werden und mit den dort angeführten Arzneien, auf die Kondition des Patienten angepasst, ergänzt werden.

In diesem Fall wäre es jedoch sinnvoll, auch noch Rd. Sophorae flavescentis (Kushen) hinzuzufügen.

Rd. Sophorae (Kushen) ist sehr bitter und sehr kalt, entfernt Wind, kühlt Hitze und eliminiert auch feuchte Hitze, die sich hier in Form von stark, geschwollenen, hochroten Schleimhäuten zeigt. Außerdem wirkt Kushen auch gut gegen Juckreiz.

Dies wurde in einer klinischen Studie bewiesen, die zum Vorschein brachte, dass Rd. Sophorae (Kushen) gemeinsam mit Rd. Glycyrrhizae (Gancao) und Ganoderma lucidum (Lingzhi) die Eosinophilie verbessert und die Th2-Zytokine unterdrückt sowie IFN-γ erhöht (Wen et al. 2005) siehe ► Abschn. 7.4.2. Im Falle der akuten Exazerbation einer eosinophilen Rhinosinusitis oder eines eosinophilen Asthmas kann hier die Stärkung der körpereigenen Abwehr über IFN-γ und die zeitgleiche Hemmung der Th2-Immunantwort von großer klinischer Bedeutung sein und sollte durch weitere Studien überprüft werden.

8.3.3.2 Übergang des pathogenen Faktors in die Jue Yin-Schichte

Das Shao Yang-Muster rutscht bei Nichtbehandlung gerne direkt in die Jue Yin-Schichte (siehe ◘ Abb. 8.25), mit den Organen Leber und Perikard, ab. Wenn das Feuer in diese Schichte gelangt, schädigt es die Säfte der Leber und besonders das Blut, „das in der Leber gespeichert wird“. Die konventionelle Medizin würde dies heute mit anderen Worten beschreiben, indem man längst erkannt hat, dass die Leber die Blutgerinnungsfaktoren produziert und dadurch für die „Bewahrung“ des Blutes eine wichtige Funktion hat.

Werden die „Säfte“ der Leber und das Blut geschädigt, entsteht durch den Mangel an erfrischender Kühlflüssigkeit noch mehr Hitze, die noch intensiver aufwallt. Wenn diese hochkochende Hitze gegen das Yin-Organ des Elements Metall, die Lunge, schlägt, kommt es zu spastischer Bronchitis und zu akuten Exazerbationen des Asthmas, als Zeichen für die Blutstagnation und „Trockenheit“ in den Bronchien. Diese entspricht nun wieder der eosinophilen Inflammation mit Verlust der Elastizität der glatten Bronchialmuskulatur bei längst begonnenem Remodeling (◘ Abb. 8.26) und einer Störung der „tight junctions“, die die Bronchialschleimhaut empfänglicher für einen neuen Virusbefall machen.

Abb. 8.26
figure 26

Nicht gestoppte Inflammation mit Eosinophilie. In diesem Fall übersetzt ins TCM-Vokabular: „Säfteschädigung im Jue Yin, mit aufwallendem Feuer, das auf die Lunge schlägt“

Heute würde man bei diesem Syndrom nicht von einem Mangel an „Säften“, sondern von einem Mangel an PGE2, Lipoxinen, Resolvinen und Protektinen sprechen.

Hier reicht es nun nicht mehr, nur mit Xiao chai hu tang zu behandeln, weil diese Rezeptur zu wenige Leber-befeuchtende Arzneien enthält. Deshalb ergänzt man die Rezeptur mit nur einer einzigen, aber wesentlichen Arznei: Rd. Paeoniae albae (Bai shao), der Wurzel der weißen Pfingstrose: Xiao chai hu tang plus Bai shao . Deren saure und kühlende Eigenschaften nähren und kühlen das Blut, zügeln das aufsteigende Leber-Yang und erweichen dadurch die Leber, die wie ein trockener Schwamm Wasseraufsaugt und dadurch zart und sanft wird. Dadurch können auch Spasmen gestoppt werden.

Zhāng Zhòng-Jǐng hatte, als er das Shānghán zábìng lùn ca. 200 nach Christus schrieb, bereits eine „Vorlage“: Er übernahm einige Rezepturen aus der Formelsammlung Tangye Jing , die von einem proto-daoistischen Mönch namens Yiyin bereits ca. 1600 v. Chr. begonnen und über die Jahrhunderte mehrmals überarbeitet wurde, um schließlich in Form von Brokatschriftrollen in einer buddhistischen Höhle (Dunhuang) 1907 von französischen Missionaren wiederentdeckt zu werden. Das Tangye Jing enthielt bereits die Formel Xiao chai hu tang inklusive Baishao und hieß damals (übersetzt) Major Yin Dawn Decoction bzw. das große Morgentau-Dekokt.

Ob diese ca. 3600 Jahre alte Kombination die entzündungsauflösenden Lipidmediatoren aktiviert , gilt es noch zu beweisen!

Um die Lebertrockenheit und das Leber-Yin sowie das Blut noch besser zu nähren und zu erfrischen, kann man diese Rezeptur noch mit Co. Moutan (Mu dan pi), der Rinde der Strauchpäonienwurzel, die Hitze beseitigt und stark blutkühlend wirkt, bereichern und damit gute Erfolge beim Asthma, aber auch bei der allergischen Rhinitis erzielen. Gegen die Hyperreaktivität und Eosinophilie der Bronchien könnte man noch Pc. Cicadae (Chantui) ergänzend beifügen.

Die Jue Yin-Schichte kann aber auch durch Tiefertreten eines pathogenen Faktors über die Guizhi tang-Xiao chai hu tang-Achse erreicht werden, was auch sehr häufig zu beobachten ist (◘ Abb. 8.27).

Abb. 8.27
figure 27

Fortschreiten der Erkrankung von der Shao Yang-Schichte direkt in die Jue Yin-Schichte. Die Erkrankung kann die Jue Yin-Schichte aber auch über die Tai Yang-Shao Yang-Jue Yin-Achse erreichen

Nebenbemerkung: Wenn die Hitze auf das zweite „Organ“ des Jue Yin, das Perikard, trifft, bewirkt die Hitze ebenfalls ein Aufsteigen von Feuer mit eher psychischen Symptomen wie Panikattacken und extremer innerer Unruhe, die oft isoliert, aber auch immer wieder in Kombination mit Asthmaanfällen auftreten können.

Das Shānghán lùn beschreibt noch eine weitere Jue Yin-Rezeptur, die Lungensymptome behandelt:

Ma huang sheng ma tang - SHL § 357

Hb Ephedrae (Ma huang)

Cimicifuge Rh. (Sheng ma)

Rd. Angelicae sin. (Dang gui)

Rh. Anemarrhenae (Zhi mu)

Rd. Scutellariae (Huang qin)

Rh. Polygonati odorati (Yu zhu)

Rd. Paeoniae albae (Bai shao)

Rd. Asparagi (Tian men dong)

Rm. Cinnamomi (Gui zhi)

Rd. Glycyrrhizae (Gan cao)

Poria (Fu ling)

Gypsum fibrosum (Shigao)

Rh. Atractylodis macroceph. (Bai zhu)

Rh. Zingiberis off. (Gan jiang)

Bei diesem Krankheitsmuster ist ebenfalls ein pathogener Faktor bis in die Jue Yin-Schichte vorgedrungen und erzeugt nun aufsteigendes Feuer, das die Lunge attackiert, wodurch es zu Halsentzündung, aber auch spastischem Husten und Husten mit blutig tingiertem Sputum kommt, während die Extremitäten – auch hier wieder – kalt sind. Zusätzlich kann der Patient an Durchfällen leiden. Zhāng Zhòng-Jǐng beschreibt, dass dieses Muster auftritt, nachdem ein „Abführmittel“ verwendet wurde. Da heute bei Infekten keine Abführmittel mehr gegeben werden, könnte man in diesem Fall an die Gabe von Antibiotika denken bzw. an andere Ursachen, die eine Dysbiose herbeiführen.

Rezeptanalyse: Hier befindet sich Hitze in der oberen Körperhälfte und Kälte in der unteren Körperhälfte – ähnlich wie bei Wu mei wan (siehe ► Abschn. 8.3.1.4). Die Hitze kann wegen geschlossener Poren nicht nach außen entweichen. Daher attackiert die Hitze das Yin-Element des Metalls, die Lunge. Halsentzündung und blutig tingiertes Sputum sind die Folge und Zeichen eines aufsteigenden Yangs.

Die Kombination von Ma huang, Shi gao und Gan cao (entspricht einer eigenen Rezeptur namens Yue bi tang) bewirkt, dass die gestaute Hitze in der oberen Körperhälfte durch Öffnen der Poren und Kühlung über die Haut eliminiert werden kann und den Körper verlässt. Unterstützt wird diese Kombination noch durch Rh. Cimicifugae, das ebenfalls die Oberfläche befreit, das aufsteigende Yang nach außen leitet und Toxine eliminiert. Rd. Scutellariae leitet das aufwallende ministerielle Feuer nach unten und kühlt gemeinsam mit Asparagus die Lungen-Hitze.

In diesem Dekokt sind nun wieder einige blutnährende, Leber- und Lungen-Yin-tonisierende Arzneien (Rd. Angelicae sin, Rh. Anemarrhenae, Rh. Polygonati odorati, Rd. Paeoniae albae, Rd. Asparagi), die die Säfte regenerieren und die chronische Entzündung auflösen sollen.

Zusätzlich wird – wie in Wu mei wan – die untere Körperhälfte mit Rm. Cinnamomi und Rh. Zingiberis off. gewärmt, um den Temperaturunterschied zwischen der Hitze oben und der Kälte unten auszugleichen und dadurch den Versuch des Körpers, mithilfe von aufwallendem Wind die Temperaturunterschiede auszubalancieren, zu unterbinden.

Auch das Wu mei wan-Syndrom, das schon im ► Abschn. 8.3.1.4 beschrieben wurde, kann durch Eintreten eines pathogenen Faktors aus der Shao Yang-Schichte in die Jue Yin-Schichte entstehen.

Im Fall von Ma huang sheng ma tang ist eher die starke Hitze oben als Ursache für die große Temperaturdifferenz anzusehen.

Ernährung

Nähren des Leber-Yin:

Grünkern, Dinkel

rote Rübe, Avocado, Gurke,

Artischocke, Bohnensprossen,

Rinder- und Hühnerleber

Joghurt, Sauermilch

schwarzer Sesam

Bewegen des Leber-Qi:

Basilikum, Oregano, frischer

Koriander, Minze, Rosmarin,

Petersilie, Liebstöckl

Kühlen des Leber-Yangs:

Pfefferminztee, Melissentee

Ananas, Zitrone, Litschi, saure Äpfel

Akupunktur

Le 2/3, Di 4, G 34, B 13, B 18, Lu 1/2, Lu 9, Ding chuan

Synopsis

Versucht man nun eine Symbiose der Kenntnisse der immunologischen Mechanismen des 21. Jahrhunderts und des 1800 Jahre älteren Shānghán zábìng lùn herzustellen, scheint es mindestens zwei Entstehungsmechanismen für die chronisch-eosinophile Inflammation zu geben:

  1. 1.

    Eindringen eines pathogenen Faktors Wind-Kälte/Virus über die Tai Yang-Shao Yang-Achse, der nicht gestoppt werden kann und schließlich bis zur Jue Yin-Schichte vordringt. Dort werden die „Säfte“ erschöpft. Bei jedem weiteren akuten Re-Infekt kann der pathogene Faktor sehr schnell direkt in die Shao Yang-Schichte eintreten und eine akute Exazerbation auslösen. In diesem Fall braucht man keine Startrezeptur aus der Tai Yang-Schichte, sondern verwendet sofort Variationen von Xiao chai hu tang bzw. stärkt die Konstitution in der infektfreien Phase mit Jue Yin-Rezepturen, um das „Blut der Leber zu nähren“.

  2. 2.

    Eindringen des pathogenen Faktors Kälte über die Tai Yang-Yang Ming-Achse. Hier reagiert der Körper mit starker gegenregulierender Hitzebildung, die ebenfalls zu einer Austrocknung der Schleimhäute führt. Trockenheit und Hitze dringen daraufhin weiter in die Shao Yin-Schichte vor. Auch der pathogene Faktor Hitze (nach Wēn Bìng Lùn) kann bis in die Ying-Schichte voranschreiten. Diese Transformationsmuster äußern sich in Symptomen wie Asthma und chronischer Rhinosinusitis, die eosinophilen Entzündungen entsprechen. Diese Mechanismen können sich jedoch noch tiefer in die Blutschichte (nach Wēn Bìng Lùn) ausbreiten und dort festsetzen. Ein oft beobachtetes typisches Zeichen wäre dann ein atopisches, trockenes Ekzem, das sich auch bei Erwachsenen zusätzlich zum Asthma entwickelt oder eventuell als Restsymptom dieses Prozesses als einziges Symptom übrig bleibt.

Für die Entwicklung einer chronisch-neutrophilen Entzündung ist die Tai Yang-Tai Yin-Achse verantwortlich, in der die Kälte dominiert und dadurch verschleimende Entzündungen mit viel Sekretbildung entstehen.

Therapeutisch ist es nun wichtig, die Schichte, in der sich die Krankheit befindet, zu erkennen und sofort mit entsprechenden Rezepturen dem weiteren Tiefertreten des pathogenen Faktors gegenzusteuern und den „pathogenen Faktor“ von Innen zurück an die Oberfläche zu bringen und auszuleiten. Wichtig ist es auch, für eine eventuelle Reinfektion eine passende Startrezeptur vorzubereiten, die der Patient dann innerhalb der ersten Stunden des nächsten Infekts einnehmen kann. Dadurch gelingt es, den Eintritt bzw. das Vordringen, eines neuerlichen „pathogenen Faktors“ sofort – im kritischen Behandlungsfenster – zu unterbinden.

Die Rezepturen des Shānghán lùn und Wēn Bìng Lùn bieten eine Fülle an Möglichkeiten, der Pathogenese von eosinophilen und neutrophilen Entzündungen gegenzusteuern und könnten dadurch einen wertvollen Beitrag zur Prävention von Allergien zu leisten. Natürlich ist dies vorläufig als Hypothese zu bewerten, weil es bis dato diesbezüglich „nur“ klinische Erfolge über 1800 Jahre bei den vielen Patienten, die von TCM-Ärzten behandelt wurden/werden gibt. Longitudinale Observationsstudien und Grundlagenforschung werden mehr Klarheit schaffen.

8.3.4 Xiao qing long tang bzw. Wu ling san-Methode

8.3.4.1 Flüssigkeitsstagnation im Tai-Yang oder Wind-Kälte befällt die Lunge

  • Xiao qing long tang-Methode

Trifft der akute Infekt primär auf einen bereits durch Feuchtigkeitsstagnation vorgeschädigten Organismus (◘ Abb. 8.28), der Symptome wie Asthma bronchiale mit viel weißlichem Sputum, chronische Rhinitis oder Sinusitis, Polyposis nasi, chronischen Husten mit weißlichem Sekret und/oder dumpfen Kopfschmerzen mit schlechter Konzentrationsfähigkeit („ Schleim benebelt den Geist“) aufweist, dann wird die äußere Wind-Kälte diesen Zustand weiter verschlechtern und die Feuchtigkeitstransformation noch mehr irritieren. Das Lungen-Qi wird durch die Kälte noch stärker als bei den vorher beschriebenen Syndromen blockiert und führt zu Schweißlosigkeit, schleimigem Husten mit dünnflüssigem, schaumigem Sekret und Atemnot, generalisiertem Schweregefühl und Völlegefühl mit Muskelschmerzen, Ödemneigung, weichen Stühlen und starker Müdigkeit. Dieses Krankheitsbild entspricht einer akuten Exazerbation eines Asthma bronchiale, das durch eine Feuchtigkeitsproblematik ausgelöst ist.

Zunge - :

feuchter, weißer Belag

Puls - :

links: 1. Position: oberflächlich, gespannt

links: 2. und 3. Position: dünn (Leere), saitenförmig (Flüssigkeitsstagnation), gespannt (Kälte)

Abb. 8.28
figure 28

Xiao qing long tang-Methode. Die Xiao qing long tang/Wu ling san-Methode kommt bei akuten Exazerbationen von Patienten mit chronischer Feuchtigkeitsstagnationsproblematik und Kälte sowie üppiger weißlicher Sekretion, wie bei Asthma oder chronisch-rezidivierender Sinusitis, zur Anwendung

Therapie: Hier müssen das Äußere durch Schwitzen entlastet, die Flüssigkeitsansammlungen transformiert und Schleim aufgelöst werden.

Xiao qing long tang - SHL § 40 „Kleines Blaugrüner Drachen Dekokt“

Rm. Cinnamomi (Gui zhi)

Rd. Paeoniae albae (Bai shao)

Rh. Zingiberis off. (Gan jiang)

Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao)

Hb. Ephedrae (Ma huang) - scharf, zerstreuend

Rh. Pinelliae (Ban xia) - Schleim transformierend

Hb. Asari (Xi xin) - scharf, warm, entfernt Wind-Kälte, wärmt Lunge, löst Schleim (derzeit wegen des in den meisten Spezies vorkommenden Safrolgehalts vom Markt genommen.

Fr. Schisandrae (Wu wei zi) - sauer, adstringierend

Die ersten vier Arzneien kennt man (schon wieder!) aus Gui zhi tang, frischer Ingwer wurde durch getrockneten Ingwer ersetzt, weil dieser besser im Inneren die Feuchtigkeit trocknet. Sm. Ziziphi jujubae wurde weggelassen, weil es zu schwer und zu feucht für diesen Zustand wäre. Stattdessen wird dem Feuchtigkeitsstagnationsprozess mit dem scharfen, zerstreuenden, stark schweißtreibenden Hb. Ephedrae gegengesteuert, wodurch die Feuchtigkeit „zerstäubt“ wird und die Kälte, die Möglichkeit bekommt, über die Poren den Körper zu verlassen. Außerdem hat Hb. Ephedrae auch diuretische Wirkung und bietet dadurch eine gute Möglichkeit, die überbordende Feuchtigkeit über den Harn abzuleiten, und natürlich hat Hb. Ephedrae auch eine bronchiendilatierende, β-mimetische Wirkung.

Die scharfe, warme Pinellia-Wurzel hilft, die Feuchtigkeit zu transformieren sowie den kalten Schleim und die innere Kälte aufzulösen. Die adstringierende, saure Schisandra-Frucht beendet den Husten und arbeitet als Regulans um einer zu starken Zerstreuung (bzw. blutdrucksteigernden Wirkung) von Hb. Ephedrae und der Schärfe von Rh. Pinelliae entgegenzuwirken. Diese scheinbar entgegengesetzte, aber dadurch ausgleichende Wirkung von Arzneien innerhalb einer Rezeptur ist wieder typisch für das Multi-target-Prinzip der TCM. Nicht eine Arznei soll hochdosiert verwendet werden, sondern in ihrer Wirkung einander ergänzende und begrenzende Arzneien in ganz geringen Dosen sollen wie ein Orchester wirken, dessen Klang mehr ist als die Summe der Einzelinstrumente. So werden auch die möglichen Nebenwirkungen durch ganz kleine Mengen der Einzelarzneien reduziert.

Xiao qing long tang ist wie erwähnt (s. ► Abschn. 7.4.1) wissenschaftlich sehr gut untersucht. Es hemmt die virale Replikation und aktiviert die Sekretion von IFN-β und IgA-Antikörpern. Außerdem kann diese Rezeptur die Eosinophilie und IgE im Mausversuch reduzieren und bietet sich daher ideal zur Behandlung einer akuten Exazerbation an.

Fructus Schisandrae konnte im Tierversuch die bronchiale Hyperreaktivität verbessern und die Infiltration der Eosinophilen in die Atemwege reduzieren (Rong et al. 2016).

Von dieser Akutrezeptur sollten nur einige Portionen für 1–2 Tage verabreicht werden, um dann mit einer, den Wassermetabolismus verbessernden, Rezeptur fortzusetzen. Man wählt die Folgerezeptur nach Evaluierung der Ursache für die Wasserstagnation aus (s. ► Abschn. 8.3.4.2).

  • Wu ling san-Methode

Das Syndrom von Wu ling san beschreibt ebenfalls Probleme mit Feuchtigkeitsstagnation.

Wenn der akute Infekt auf einen Patienten trifft, der zu chronischer Rhinosinusitis und Seromukotympanon mit Tendenz zur Otitis media neigt, dann wird man akut eher mit Wu ling san starten. Diese Rezeptur ist im Vergleich zu Xiao qing long tang noch stärker auf die Ausleitung der Feuchtigkeit über den Harn fokussiert. Sehr gerne verwendet man diese Rezeptur bei Kindern mit akuter Otitis media, weil die Ohren aus TCM-Sicht den Öffner des Elements Wasser darstellen und mit Niere/Blase assoziiert sind. Wenn der pathogene Faktor Kälte nun auf die Tai Yang-Schichte (Blase/Dünndarm) trifft, dringt er bei dieser Konstitution rasch in die Tiefe und blockiert die Ausscheidung, aber auch die Transformation der Feuchtigkeit durch die Blase. Dadurch kommt es zu einer relativ oberflächlichen Feuchtigkeitsstagnation, die sich in Ödemen, Schweregefühl und Miktionsproblemen, aber auch Mittelohrergüssen zeigt. Klassisches Symptom dieser Rezeptur ist Durst, der durch Trinken nicht gelöscht werden kann, weil der Wassertransformationsmechanismus nicht funktioniert. Laut Nèijing 内經 „muss die Blase über die Jin ye (Säfte) wachen“, was ihr in diesem Fall nicht gelingt. In der Folge staut sich Feuchtigkeit auch in Lunge, Nase und Mittelohr. Umgekehrt können Säfte, die die Schleimhäute sanft und gleichmäßig benetzen sollten, nicht erzeugt werden, wodurch sich die Schleimhäute trotz der Ödeme trocken anfühlen und Durst entsteht.

Zunge - :

blass, geschwollener Belag: weiß, schlüpfrig

Puls - :

links 3. Position: gespannt und saitenförmig, Kälte in Blase lässt Wasser nicht transformieren: Stagnation von Flüssigkeit

links 1. Position: gespannt: (zu wenig Yang, d.h. Kälte im Tai Yang)

Wu ling san - :

SHL § 71,72

Rm. Cinnamomi (Gui zhi) - :

warm, scharf

Rh. Atractylodis macroceph. (Bai zhu) - :

warm, süß, bitter

Poria (Fu ling) - :

neutral, süß, bland

Polyporus (Zhu ling) - :

neutral, süß, bland

Rh. Alismatis (Ze xie) - :

kalt, süß, bland

Rezeptanalyse: Zimt wärmt den Tai Yang und eliminiert die Kälte aus dem Blasenmeridian und aus dem Organ Blase, hilft bei der Feuchtigkeitstransformation und verbessert die Zirkulation der Körpersäfte. Rh. Atractylodis macrocephalae und Poria arbeiten wie in Ling gui zhu gan tang mit Zimt zusammen, erzeugen „reine“ Säfte, die die Schleimhäute gleichmäßig benetzen. Unterstützt werden sie hier von den beiden Diuretika Rh. Alismatis und Polyporus, die die Wasserwege durchgängig machen und Feuchtigkeitsblockaden auflösen sowie die „unreine“ Feuchtigkeit über den Harn ausleiten.

Bei akuter Otitis media ergänzt man die Rezeptur noch mit schleimlösenden Arzneien für die Nasenschleimhaut und Tuben wie Fl. Magnoliae, Rd. Angelicae dahuricae und Fr. Xanthii.

Auch im subakuten Zustand nach Otitis media kann man zur Konstitutionsstärkung kurzfristig wunderbar mit Wu ling san behandeln, um die Restfeuchtigkeit aus dem Körper zu „ziehen“.

Die Gefahr bei Xiao qing long tang- und Wu ling san-Syndromen ist, dass die Kälte bei Nichtbehandlung oder falscher Behandlung direkt in die Tai Yin- bzw. noch tiefer in die Shao Yin-Schichte „durchmarschieren“ kann und der Infekt dadurch chronifiziert wird.

8.3.4.2 Kälte in der Tai Yin-Schichte

Gelangt die Erkrankung in die Tai Yin-Schichte, entspricht dies einem Milz-Yang-Mangel und man wählt gerne die schon im ► Abschn. 8.3.1.3 besprochenen Rezepturen Ling gui zhu gan tang oder Li zhong wan, um die Feuchtigkeitstransformation der Milz zu stärken (◘ Abb. 8.29).

Abb. 8.29
figure 29

Weiteres mögliches Fortschreiten der Kälte in die Tai Yin- und Shao Yin-Schichte. Kann der inflammatorische Prozess in der Tai Yang-Schichte nicht gestoppt werden, tritt er bei diesem Muster direkt in die Tai Yin-Schichte und danach in die Shao Yin-Schichte ein und muss mit entsprechenden Rezepturen behandelt werden

Diese Rezepturen werden somit auch gerne als Folgerezepturen nach Xiao qing long tang- und Wu ling san-Therapie verwendet, um prophylaktisch zu vermeiden, dass die Kälte in die Tai Yin-Schichte rutscht.

Daran erkennt man, wie wichtig die empirische Kennntnis der Krankheitsmuster und deren Fortschreiten ist, und welch salutogenetische Bedeutung die TCM haben kann.

Zur Prophylaxe würde man diese Rezepturen für einen Monat verschreiben. Wenn die Symptome danach abgeklungen sind und sich auch die Verdauung und Harnausscheidung normalisiert hat, gibt man dem Patienten den Rat, die Rezeptur nur bei Bedarf konstitutionsstärkend zu verwenden. Ist der Stuhl jedoch nach einem Monat noch weich, bestehen weiterhin Blähungen und ein weißer, dicker Zungenbelag, obwohl die Symptome des Respirationstrakts abgeklungen sind, sollte die Rezeptur noch längere Zeit eingenommen werden.

Besonders nach einem Wu ling san-Muster gelangt die Kälte gerne direkt oder aber auch nach Durchlaufen der Tai Yin-Schichte in die Shao Yin-Schichte.

8.3.4.3 Kälte in der Shao Yin-Schichte

Sie geht einher mit den Symptomen eines Nieren-Yang-Mangels: Feuchtigkeit, die nicht transformiert werden kann, und Kälte häufen sich in der unteren Extremität an. Dadurch entstehen Knöchelödeme und Schmerzen in Sehnen und Muskulatur. Wärmapplikation an Füßen, Beinen und Unterbauch wird als sehr angenehm empfunden.

Weitere Symptome: allgemeine Ödemneigung mit generalisiertem Schweregefühl, dumpfe Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Husten mit viel weißlichem Sekret, weicher, ungeformter, wässriger Stuhl mit Glucksen und kaltem Bauch, reichlich, klarer Harn und ein besonders schlaffer und kalter Unterbauch. Bei Kindern äußert sich die Kälte in der Shao Yin-Schichte auch manchmal als Enuresis.

Als geeignete Therapie für diesen Zustand empfiehlt Zhāng Zhòng-Jǐng:

Zhen wu tang -:

SHL § 316: Das „Wahre-Krieger“-Dekokt

Rd. Aconiti lat. präp. (Fu zi) -:

scharf, heiß

Poria (Fu ling) -:

neutral, süß

Rh. Atractylodis macroceph. (Bai zhu) -:

warm, süß, bitter

Rh. Zingiberis rec. (Sheng jiang) -:

warm, scharf

Rd. Paeoniae albae (Bai shao) -:

sauer, kühlend

Zunge -:

blass, geschwollen, weiß

Puls -:

tief, dünn, gespannt (Kälte)

Das scharfe, heiße, präparierte Aconitum wärmt und stärkt das Nieren-Yang. Dadurch kann die Feuchtigkeit wieder über die Niere transformiert, aber auch abgeleitet werden. Rh. Atractylodis macrocephalae stärkt das Milz-Yang und verbessert die Feuchtigkeitstransformation durch die Milz. Poria macht die Wasserwege durchgängig und lässt die Feuchtigkeit über den Harn abfließen. Der frische Ingwer zerstreut die Kälte und wärmt die Feuchtigkeit an der Oberfläche, stärkt die Lunge und stillt Husten. Gemeinsam mit Rh. Atractylodis und Poria stärkt er das Yang der Milz, die dadurch das Wasser kontrollieren kann. Rd. Paeoniae albae hat wieder die Funktion des Gegenparts und soll zu starke und schnelle Austrocknung durch Aconitum vermeiden und Säfte und Blut stärken.

Kommentar: Das befeuchtende Bluttonikum Rd. Paeoniae albae hat hier sicherlich auch die Aufgabe, einer Blutschädigung durch die Kälte vorzubeugen, die sich in einer Kälte der Jue Yin-Schichte manifestieren würde.

Noch „tiefere“ Kälte eliminierend und stärker wärmend wirkt:

Si ni tang - :

SHL § 388, 389: Das „Kalte Extremitäten-Dekokt“

Rd. Aconiti lat präp. (Fu zi) -:

heiß, scharf

Rh. Zingiberis off. (Gan jiang) -:

heiß, scharf

Glycyrrhizae präp. Rd. (Zhi gan cao) -:

warm, süß

Zunge -:

blass, mit weißem, feuchtem Belag

Puls -:

tief, schwach, verschwindend, dünn, langsam

Typisch für diese Patienten ist, dass sie unter eiskalten unteren Extremitäten, nicht nur der Zehenspitzen, sondern auch der Unter- und Oberschenkel mit Muskelspasmen und Kälte bis zum Unterbauch leiden. Diese Patienten frieren immer, tragen mehrere Schichten von Socken und Strumpfhosen übereinander, selbst im Hochsommer brauchen sie manchmal Stirnband oder Mütze, und schlafen mit dicker Decke und angezogenen Beinen in Embryohaltung. Trotz warmer Kleidung fühlen sie, dass der Körper nicht warm genug wird. Da das Nieren-Yang leer ist, kann es auch das Milz-Yang nicht wärmen. Dadurch fehlt die Wärmeenergie, die für die Verdauung und Transformation der Nahrung notwendig wäre, mit resultierenden weich bis wässrigen Stühlen, unverdauten Nahrungsresten sowie Übelkeit und Erbrechen, mit Abwesenheit von Durst. Fehlendes Yang bewirkt auch eine Verlangsamung des Denkens mit Lethargie und ständigem Verlangen nach Schlaf.

Rezeptanalyse: Rd. Aconiti lat. präp. stärkt das Nieren-Yang, verteilt es im ganzen Körper und wärmt alle 12 Meridiane. Der getrocknete Ingwer erwärmt die Mitte und stärkt die Transformation und Transportfunktion der Milz und wirkt perfekt mit Rd. Aconiti präp. zusammen, um das Yang zu tonisieren. Diese beiden Arzneien werden in den klassischen Büchern deshalb sehr oft gemeinsam verwendet. Süßholz stärkt auch die Milz und mildert in dieser Rezeptur die Hitze und die Schärfe der beiden anderen Arzneien, sodass kein Yin verletzt wird.

8.3.5 Ma huang xi xin fu zi tang-Methode

Wenn schon vor dem Infekt eine Konstitution mit Yang-Mangel, extreme Kälteempfindlichkeit, Müdigkeit und Kreuzschmerzen, die sich durch Wärme bessern, bestehen und dann zusätzlich ein viraler Infekt als „Wind-Kälte“ auf den Organismus trifft, so hat der Körper zu wenig Yang = Wärme, um hohes Fieber aufkommen zu lassen. Der Patient fühlt sich hoch-fiebrig, hat aber trotzdem nur leicht erhöhte Temperatur und fröstelt sehr. Der Patient hat dabei auch ein starkes Bedürfnis nach warmen Getränken und empfindet grippale Symptome wie Bronchitis, Rhinitis mit Zahnschmerzen (Nierenbezug!) und starke, tief liegende Kopfschmerzen sowie Kreuzschmerzen wegen des Nieren-Yang-Mangels.

Abb. 8.30
figure 30

Die Ma huang xi xin fu zi tang-Methode kommt beim akuten Infekt von extrem kälteempfindlichen Patienten zum Einsatz, die sich hoch-fiebrig fühlen, obwohl ihre Körpertemperatur normal bzw. nur minimal erhöht ist. Durch den extremen, konstitutionellen Yang-Mangel kann der Infekt innerhalb kürzester Zeit ganz tief in die Shao Yin-Schichte übertreten. Als Konstitutionsstärkung nach dem Infekt muss das Nieren-Yang der Shao Yin-Schichte mit Zhen wu tang, Si ni tang oder Jing gui shen qi wan gestärkt werden, und danach evtl. auch das Milz-Yang der Tai Yin-Schichte mit Li zhong wan. So kann die Infektanfälligkeit für „Ma huang xi xin fu zi tang-Patienten“ reduziert werden

In diesem Fall ist die Kälte sehr schnell ganz tief, direkt in die Shao Yin-Schichte eingetreten (◘ Abb. 8.30):

8.3.5.1 Kälte in der Shao Yin-Schichte

Als Therapie muss man primär sofort die tiefe Shao Yin-Schichte stärken und trotzdem die Oberfläche befreien. Mögliche Anfangsrezeptur:

Ma huang xi xin fu zi tang - :

SHL § 301

Hb. Ephedrae (Ma huang) -:

warm, scharf

Rd. Aconit. lat. präp. (Fu zi) -:

heiß, scharf

(Hb. Asari (Xi xin) -:

warm, scharf) dzt. nicht erhältlich

Zunge -:

weiß, nass

Puls -:

tief, gespannt und dünn

Rezeptanalyse: Hb. Ephedrae öffnet die Oberfläche und entfernt dort die eingedrungene Kälte. Rd. Aconiti lat. präp. wärmt und rettet das Yang der Niere und entfernt die Kälte aus der Tiefe, wärmt die Shao Yin-Schichte und wirkt dadurch auch gegen tief sitzende Rücken-Kälteschmerzen. Hb. Asari wäre warm und würde sowohl die Kälte in der Shao Yin-Schichte als auch die Kälte der oberflächlichen Tai Yang-Schichte behandeln. Nachdem Hb. Asari derzeit auf Grund seines Safrolgehalts nicht erhältlich ist, kann man es evtl. durch Rd. Saposhnikoviae (Fang feng) ersetzen.

Bei Bedarf plus warme, schleimtransformierende Lungenkräuter: Fr. Perillae, Rh. Pinelliae, Rd. Platycodi etc.

Ma huang xi xin fu zi tang reduzierte im Mausmodell die Mortalitätsrate nach Influenza A (H1N1)-Infektion und verbesserte das Lungenödem und die Inflammation (Wang et al. 2011).

Auch diese Rezeptur sollte nur kurz initial angewendet werden und danach muss das Yang des Patienten wieder aufgebaut werden. Dies erfolgt durch Stärkung des Nieren-Yangs und Milz-Yangs.

Mögliche Folgerezepturen zur Stärkung des Nieren-Yangs wären die soeben besprochenen Si ni tang oder Zhen wu tang (s. ► Abschn. 8.3.4.3).

Sollten jedoch Schmerzen im Rücken mit extremer Kälteempfindlichkeit bestehen bleiben, wird man zur Konstitutionstherapie eher

Tab. 8.6 Unterscheidung: Fu Zi Tang/Zhen Wu Tang
Fu zi tang - :

SHL § 304 verwenden (s. ◘ Tab. 8.6)

Rezeptanalyse: Dieses Rezept unterscheidet sich von Zhen wu tang nur insofern, dass Rh. Zingiberis rec. durch Rd. Ginseng ausgetauscht wird (s. ◘ Tab. 8.6) und die Dosis von Fu zi und Bai zhu höher ist. Dadurch wärmt es noch etwas stärker und zerstreut die in der Tiefe „eingefrorene“ Nässe-Kälte besser. Rd. Ginseng tonisiert das Quellen-Qi und gibt dem Patienten wieder Kraft, die Kälte zu eliminieren.

Akupunktur

Moxa auf B 23, LG 4, KG 4, 6, 12

B 13, LG 14

Ernährung

Heiße Nahrungsmittel, wärmende Gewürze

Fisch aus kalten Gewässern (Forelle, Lachs), gegrillt mit frischem Ingwer

Geräucherte Fische

Heiße Maroni

Eine wunderbar konstitutionell stärkende Rezeptur wäre dann anschließend anschließend:

Jin gui shen qi wan - :

JGYL § 5-10

Rd. Rehmanniae präp. (Shu di huang) -:

warm, süß

Rh. Dioscoreae (Shan yao) -:

neutral, süß

Fr. Cornii (Shan zhu yu) -:

warm, sauer

Poria (Fu ling) -:

neutral, süß, bland

Rh. Alimatis (Ze xie) -:

kalt, süß, bland

Co. Moutan (Mu dan pi) -:

kühl, scharf, bitter

Rm. Cinnamomi (Gui zhi) -:

warm, scharf

Rd. Aconiti lat. präp. (Fu zi) -:

heiß, scharf

Diese bekannte Rezeptur von Zhāng Zhòng-Jǐng stärkt und wärmt das Yang-Qi.

Rezeptanalyse: Rd. Rehmanniae präp. tonisiert das Nieren-Yin und das Blut, Rh. Dioscoreae stärkt die Milz und das saure, warme Fr. Cornii, die Kornel-Kirsche, kräftigt die Leber und die Niere. So kann die Niere ihrer Funktion als Quelle von Yin und Yang nachkommen. Rd. Aconiti lat. präp. tonisiert das Yang der Niere und Rm. Cinnamomi wärmt die Meridiane und löst Blockaden, die durch Kälte entstanden sind. Poria, Rh. Alimatis und Co. Moutan befreien die Wasserwege und lassen Feuchtigkeit abfließen und ermöglichen dadurch, dass Rm. Cinnamomi, den Körper besser erwärmen kann.

Diese Rezeptur ist eine der berühmtesten Rezepturen der TCM, die elegant zeigt, dass bei Stärkung des Yangs auch das Yin mitgestärkt werden muss. Durch diese Dualität der Therapie kann das Yang tonisiert werden, ohne zu trocknen, aber auch das Yin gekräftigt werden, um Qi zu erzeugen. Dadurch wird das harmonische Gleichgewicht zwischen Yin und Yang wieder hergestellt und dem Körper geholfen, die Krankheit zu überwinden.

Manchmal bleiben nach Stärkung des Nieren-Yangs noch Schwächen des Milz-Yangs mit Verdauungsbeschwerden bestehen, die man mit Milz-Yang-tonisierenden Rezepturen wie Li zhong wan (s. ► Abschn. 8.3.1.3) behandelt.

Obwohl jeder Patient sein eigenes Muster bei der Entwicklung von Krankheiten, aber auch bei der Abheilung von Krankheiten entwickelt, sind doch gewisse systematisierbare Vorgänge zu beobachten.

Wichtig ist, dass jeder Patient auch nach der akuten Krankheit seine individuelle konstitutionsstärkende Therapie erhält, sodass beim Eintreffen der nächsten viralen Infektion bzw. „Septemberepidemie“ ein widerstandsfähigerer Körper die Rhinoviren und sämtliche anderen Pathogene besser abwehren kann.

8.3.6 Yin qiao san und Sang ju yin-Methode

8.3.6.1 Wind-Hitze befällt die Wei-Schichte

Diese Form der Infektbehandlung unterscheidet sich grundlegend von den bisher besprochenen, weil hier nicht Wind-Kälte, sondern Wind-Hitze durch Nase und Mund in den Körper eindringt und die Lunge angreift.

Abb. 8.31
figure 31

Yin qiao san und Sang ju yin Methode. Trifft primär der pathogene Faktor Wärme oder Wind-Hitze auf den Körper, sind Rezepturen aus der Wēn Bìng Lùn-Schule (gelb) wie Yin qiao san und Sang yu yin zur Behandlung des beginnenden Infekts an der oberflächlichsten Schichte angebracht

Geprägt von Zhāng Zhòng-Jǐng dachte man in China sehr lange, dass „Wärmeerkrankungen“ nur als Reaktion auf den Einfluss von Kälte entstehen könnten. Etwa 1400 Jahre nach der Niederschrift des Shānghán zábìng lùn begann man in Südchina über Erkrankungen nachzudenken, die direkt durch den pathogenen Faktor „Wärme“ ausgelöst werden. Nachdem im 17. Jahrhundert besonders das südliche, tropische China von einigen Epidemien heimgesucht wurde und die Rezepturen aus dem Shānghán zábìng lùn nicht ausreichend effizient gewesen waren, entwickelte sich in Südchina eine eigene „Schule“: die Wēn Bìng Lùn-Schule, die sich mit „Wärme“- und „Hitze“-bedingten Erkrankungen auseinandersetzte. Wie in ► Abschn. 8.2 beschrieben, verwendet die Wēn Bìng Lùn-Schule ein 4-Schichten-Modell, um zu zeigen, wie der pathologische Faktor Wärme oder Wind-Hitze in den Körper eindringt.

Die typischen Wind-Hitze-Symptome von Infekten, die sich in der oberflächlichsten Schichte – der Wei-Schichte – befinden, sind Fieber, Halsschmerzen, wunder Rachen, geschwollene Tonsillen, verstopfte Nase, Rhinitis mit gelblicher Sekretion, Husten, Durst, Kopfschmerzen und Körperschmerzen. Obwohl aus TCM-Sicht hier ausschließlich der pathogene Faktor Wind-Hitze auf den Körper einwirkt und diese Symptome verursacht, empfinden manche Patienten trotzdem kurzfristig eine Abneigung gegen Kälte. Dies wird insofern interpretiert, als das Abwehr-Qi durch den „Wind“ blockiert wird und nicht mehr gleichmäßig im Körper verteilt werden kann. Dadurch fühlt der Patient trotz der Hitze ein leichtes Frösteln, das jedoch weniger intensiv als das Frösteln bei einem Gui zhi tang-Muster ist.

In Mitteleuropa und Nordamerika sieht man Infekte dieses Musters hauptsächlich im Sommer, wenn Patienten Halsschmerzen mit Angina und hohem Fieber entwickeln. Auch Influenza-Viren erzeugen manchmal Symptome mit sehr viel Hitze. Zur Behandlung der SARS-Epidemie in China wurden ebenfalls Rezepturen aus dem Wēn Bìng Lùn verwendet.

Zunge -:

normal, Spitze und evtl. Ränder gerötet

Belag - dünn, weißlich bis gelblich

Puls -:

oberflächlich, beschleunigt

Eine passende Erstrezeptur für die Wei-Schichte wäre:

Yin qiao san:

- WBL

Fr. Forsythiae (Lian qiao):

- scharf, bitter, antitoxisch, antiviral, antibakteriell (Influenza, Streptokokken, Staphylococcus aureus)

Fl. Lonicerae (Jin yin hua) -:

kalt, süß

Rd. Platycodi (Jie geng) -:

scharf, bitter, neutral

Hb. Schizonepetae (Jing jie) -:

warm, scharf

Fr. Arctii (Niu bang zi) -:

kalt, scharf, bitter

Sm. Sojae (Dan dou chi) -:

süß, leicht bitter, neutral

Hb. Menthae (Bo he) -:

scharf, aromatisch, kühl

Hb. Lophaterii (Dan zhu ye) -:

kalt, süß, bland

Rh. Phragmitis (Lu gen) -:

süß, kalt, entfernt feuchte Hitze

Rd. Glycyrrhizae (Gan cao) -:

süß, neutral, antithussiv

Rezeptanalyse: Hb. Schizonepetae, Sm. Sojae und Hb. Menthae entlasten das Äußere durch leichtes Schwitzen. Fr. Forsythiae, Fl. Lonicerae und Hb. Lophaterii kühlen und klären Hitze, und leiten sie aus der äußersten Körperschichte ab. Fr. Arctii, Rd. Platycodi und Rd. Glycyrrhizae verteilen das Lungen-Qi und wirken sehr gut bei wundem Hals. Rh. Phragmitis ist süß, erzeugt Flüssigkeiten und lindert Durst.

Anmerkung der Autorin: Diese Rezeptur ist sehr stark kühlend und sollte daher nur bei Infekten mit starker Hitze (z. B. akute Pharyngitis im Sommer) verwendet werden. Durch die Vielzahl von antitoxischen, Hitze kühlenden Arzneien hat diese Rezeptur eine starke Wirkung auf akute virale Infekte. Teile dieser Rezeptur werden gerne verwendet, um „versteckte Toxine“ aus tieferen Schichten auszuleiten (s. Qing ying tang ► 8.3.2.3).

Akupunktur

Befreien der Körperoberfläche und entfernen von Hitze: Di 4, Di 11, LG 14, Lu 6

Halsschmerzen und Hitze der Tonsillen: Lu 11, Lu 10

Wind vertreiben: B 12, LG 16, G 20,

Dingchuan

Ernährung

Pfefferminztee

 

Chrysanthemenblütentee

 

Schwarzer Hollunder

 

Lindenblütentee

Wenn im Frühstadium von Wind-Hitze eher die Lunge angegriffen wird und Husten mit leichtem Fieber entsteht, verwendet man eher:

Sang ju Yin:

- WBL

Fo. Mori (Sang ye) -:

süß, leicht bitter, kalt

Fl. Chrysanthemie (Ju hua) -:

süß, bitter, kalt

Hb. Menthae (Bo he) -:

scharf, aromatisch, kühl

Fr. Forsythiae (Lian qiao) -:

scharf, bitter, kühl, antitoxisch (Influenza, Streptokokken, Staph. aureus)

Rd. Platycodi (Jie geng) -:

scharf, bitter, neutral, Schleim lösend

Sm. Armeniacae (Xing ren) -:

leicht warm, bitter, antithussiv

Rh. Phragmitis (Lu gen) -:

süß, kalt, entfernt feuchte Hitze

Rd. Glycyrrhizae (Gan cao) -:

süß, neutral, antithussiv

Rezeptanalyse: ähnlich wie Yin qiao san, aber die bewährte Kombination Sm. Armeniacae und Rd. Platycodi stillt hervorragend trockenen Husten. Auch Rh. Phragmitis kühlt die Lunge und befreit von Husten.

Auch akute Symptome einer Rhinoconjunctivitis allergica werden dem Syndrom Wind-Hitze in der Wei-Schichte zugeordnet und können mit Rezepturen aus dieser Schichte behandelt werden. Steht die Conjuncitivits im Vordergrund ergänzt man die Rezepturen mit Sm. Cassiae (Jue ming zi) oder Sm. Celosiae (Qing xiang zi), bei starker Rhinitis mit Rd. Angelicae dahuricae (Bai zhi), Fl. Magnoliae (Xin yi) oder Hb. Centipediae (E bu shi cao). Um den Wind zu eliminieren verwendet man Pc. Cicadae (Chan tui), um Wind abzusenken Fr. Tribuli (Ji li) in Kombination mit Fl. Chrysanthemie (Ju hua).

Akupunktur

10 Wochen vor der saisonalen Belastung

10 Behandlungen, 1x/Woche

je nach Konstitution: Lu 7, Di 4,

Di 19/20, PdM, G 1, G 20

B 13, B 18, B 23, G 34, Le 3

Bei rechtzeitiger Behandlung kann der pathogene Faktor Wind-Hitze aus der Oberfläche eliminiert werden. Erfolgt die Behandlung zu spät oder ist der pathogene Faktor zu stark bzw. die Virulenz des Erregers zu hoch, kann er sich rasch ausbreiten und der Hitze die Möglichkeit geben, in die nächst tiefere Schichte, die Qi-Schichte vorzudringen.

8.3.6.2 Hitze in der Qi-Schichte

Dort trifft das Wärme-Hitze Pathogen auf heftige Gegenwehr des (noch) kräftigen Zheng-Qi. Der nun ausgelöste Kampf der „hitzigen“ Gegner erzeugt im Körper Fülle-Hitzesymptome und darauf folgend eine Verletzung der Körperflüssigkeiten. In der Qi-Schichte sind nun auch die inneren Organe Lunge (mit dem unteren Respirationstrakt), Milz, Magen und Dickdarm direkt involviert. Dadurch entstehen Symptome wie hohes Fieber (ohne Frösteln), Abneigung gegen Hitze, starkes Schwitzen, großer Durst, Ruhelosigkeit sowie variabel akute Entzündungen der diversen Organe.

Puls -:

groß, weil starke Abwehr, alle Kraft wird nach außen mobilisiert

Zunge -:

gelblicher (häufig dicker, manchmal aber auch bereits trockener) Zungenbelag

Wenn Symptome wie Husten, Atemnot, Durst und Fieber vorherrschen, wäre

Ma xing shi gan tang -:

SHL § 63

eine geeignete Folgerezeptur. Diese Rezeptur wurde schon im ► Abschn. 8.3.2.2 (Yang Ming des 6-Schichten-Konzepts) beschrieben.

Ma xing shi gan tang wurde in Kombination mit Yin qiao san in einer prospektiven, nicht verblindeten, randomisierten Studie an 410 jungen Erwachsene (15–59 Jahre) mit Labor-identifiziertem H1N1-Virus verabreicht und mit Oseltamivir bzw. in Kombination mit Oseltamivir sowie mit einer nicht-behandelten Kontrollgruppe verglichen (siehe ► Abschn. 7.4.1). Primärer Endpunkt dieser Studie war die Zeit bis zur Abfieberung. Die Kontrollgruppe fieberte nach 26 Stunden ab, die Oseltamivir-Gruppe nach 20 Stunden, die Ma xing shi gan/Yin qiao san-Gruppe nach 16 Stunden und die Kombination Oseltamivir plus Ma xing shi gan/Yin qiao san nach 15 Stunden (Bacharier et al. 2015). Die Autoren schlossen, dass Ma xing shi gan/Yin qiao san alleine oder in Kombination eine alternative Behandlungsmöglichkeit für H1N1-Influenza-Virusinfektionen darstellen können.

Die Hitze kann die physiologische Feuchtigkeit eindicken und sich als „feuchte Hitze“ manifestieren. Der Schleim blockiert dann die verteilende und absenkende Funktion der Lunge, wodurch wieder eine Hyperreaktivität der Bronchien entstehen kann. Zusätzlich leiden diese Patienten an epigastrischen Schmerzen und Verstopfung und weisen einen dicken gelben Zungenbelag auf. Hier wäre die passende Rezeptur: Xiao xian xiong tang, die schon im Yang Ming-Kapitel (► Abschn. 8.3.2.2) beschrieben wurde. In der Wēn Bìng Lùn-Schule wird Xiao xian xiong tang mit Fr. Aurantii immaturus (Zhi shi) ergänzt, um die Hitze im Brustkorb besser abzusenken und die Stagnation zu zerstreuen. Durch Zusatz dieser unreifen Bitterorangenschale wirkt die Rezeptur auch Stuhl-absenkend bei leichter Verstopfung und heißt dann Xiao xian xiong jia zhi shi tang.

Bei langer Persistenz des verschleimenden Prozesses bewirkt die andauernde Hitze, dass der Schleim eindickt und zäh wird. Je länger der heiße, entzündliche Prozess in der Qi-Schichte andauert, desto trockener werden die Schleimhäute. Der Erkrankungsprozess geht im Laufe der Zeit in eine „Trockenheit der Lunge“ über, die dann in weiterer Folge zum Lungen-Yin-Mangel führen kann, der im Wēn Bìng Lùn als

8.3.6.3 Hitze in der Ying-Schichte

bezeichnet wird ► Abschn. 8.3.2.3 und bis zur

8.3.6.4 Hitze in der Blutschichte

übergehen kann, wie bereits im ► Abschn. 8.3.2.4 beschrieben wurde.

8.3.7 Synopsis

Der geniale systemische Denker Zhāng Zhòng-Jǐng erkannte bereits vor 1800 Jahren, dass ein banaler Infekt Auslöser für ein breites Spektrum von Folgeerkrankungen sein kann, und beschrieb den Verlauf dieser Prozesse in Krankheitsmustern innerhalb der Systematik der 6 Schichten. Zhāng Zhòng-Jǐng kreierte zugleich Rezepturen, die die Rückführung aus fast jedem Stadium entsprechender Krankheiten zur Gesundheit ermöglichten.

Die nachfolgenden chinesischen Ärztegenerationen beobachteten über Jahrhunderte die Krankheitsprozesse ihrer Patienten, die nach dieser Systematik behandelt wurden sehr genau und diskutierten, was passieren könne, wenn das entsprechende Krankheitsstadium zu wenig oder falsch behandelt werde, schrieben ihre Erfahrungen in weitere Bücher und ermöglichten den nachkommenden Ärzten, diese Erfahrungen zu teilen und zu verbessern, ähnlich wie heute wissenschaftlicher Austausch über Pubmed und andere wissenschaftliche Datenbanken stattfindet.

Dadurch unterscheidet sich die Traditionelle Chinesische Medizin auch von der Traditionellen Europäischen Medizin, die dieses Kontinuum an Wissenstransfer über fast 2 Jahrtausende nicht in diesem Ausmaß hatte. Den Inhalten des Shānghán zábìng lùn wird bis zur heutigen Zeit höchste Wertschätzung und Achtung durch TCM-Experten entgegengebracht, die vergleichbar mit der Wertschätzung der Inhalte von New England Journal of Medicine, Nature und Science durch die heutige wissenschaftliche Medizin ist. Umso wichtiger ist es für die Patienten von heute, dass die Inhalte des Shānghán zábìng lùn auch wissenschaftlich erforscht und mit den heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vernetzt werden.

In Kenntnis der Krankheitsverläufe mit den bekannten „Mustern“ im Rahmen der 6 Schichten nach Shānghán lùn und den 4 Schichten nach Wēn Bìng Lùn versucht man in der Therapie der TCM-Medizin der Gegenwart zunächst herauszufinden, in welcher Schichte sich die Krankheit befindet, und erarbeitet ein Konzept, wie die Erkrankung aus dieser Schichte entfernt werden kann bzw. wie ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung durch rechtzeitiges Gegensteuern gehemmt werden kann. So ergänzt man eine chinesische Kräuterrezeptur z. B. bei einem Patienten mit einer Erkrankung der Ying-Schichte bereits vorbeugend mit einigen Arzneien zum Kühlen der Blutschichte, um ein Fortschreiten der Erkrankung in die Blutschichte zu vermeiden.

Aus TCM-Sicht ist es daher kein „Zufall“, wenn sich im Rahmen eines Infekts eine spastische Bronchitis/Asthma entwickelt, oder wenn nach mehreren Infekten eine allergische Sensibilisierung auf Umwelt-/Nahrungsmittelantigene stattfindet bzw. „plötzlich“ eine Autoimmunerkrankung ausbricht, sondern wird als unzureichende oder inadäquate Behandlung des entsprechenden Musters interpretiert.

Wenn der TCM-Arzt von heute Patienten mit rezidivierenden respiratorischen Infekten behandelt, wird er neben der Anamnese der aktuellen Symptome auch den genauen Symptomenverlauf früherer Infekte erfragen und oft erkennen, dass respiratorische Infekte nach gewissen individuellen Schemata ablaufen. Durch diese Informationen des Patienten erfährt der behandelnde Arzt auch, mit welchen Symptomen die Infekte individuell starten und nach welchem der erwähnten Muster sich der Krankheitsprozess im jeweiligen Körper fortsetzt.

Als Therapie ist es dann sinnvoll, dass der Patient nicht nur die Rezeptur für den aktuellen Zustand, sondern auch eine zusätzliche akute Startrezeptur erhält, die er bei den ersten Anzeichen des nächsten Infekts oder bei der nächsten akuten Exazerbation des Asthmas sofort einnehmen kann.

Die sofortige Gegensteuerung und Reduktion der Virusausbreitung scheint besonders entscheidend zu sein, ganz besonders bei Kindern mit Atopieneigung und bei Patienten mit bestehender Atopie und/oder Asthma. Hier gelingt es durch sofortige Einnahme einer geeigneten Startrezeptur innerhalb der ersten Stunden nach Beginn der Symptome, das Fortschreiten der Erkrankung – zumindest – zu mildern.

Wie man in ◘ Abb. 8.32 nochmals erkennen kann, gibt es beim Infekt des Asthmatikers ein „kritisches Behandlungsfenster“. Dieses therapeutische Fenster beginnt beim ersten Anzeichen der Symptome eines Infekts im oberen Respirationstrakt und dauert bis zum Beginn der Symptome im unteren Respirationstrakt. In dieser Zeit schwillt die Virusladung an und es sollte bzw. muss gegengesteuert werden. Beim Asthmatiker ist es das Gebot der Stunde, die Symptome im oberen Respirationstrakt so früh wie möglich zu bekämpfen, damit der Infekt nicht in den unteren Respirationsrakt absteigt und die Exazerbation auslöst. Auch bei allergischer Rhinitis und bei eosinophiler chronischer Rhinosinusitis ist es wichtig, Infekte sofort effizient zu behandeln, um nicht die Eosinophilie der nasalen Mukosa zu verstärken bzw. um bei neutrophiler chronischer Rhinosinsitis nicht die Schleimproduktion mit Becherzellhyperplasie und Basalmembranverdickung weiter zu verschlechtern.

Abb. 8.32
figure 32

Kritisches Behandlungsfenster. Behandlung möglichst innerhalb der ersten Stunden, aber jedenfalls innerhalb der ersten beiden Tage des beginnenden Infekts kann ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung mildern. Pflanzliche Arzneien haben das Potenzial, die Selbstheilungskräfte zu aktivieren und geben dem Arzt eine Möglichkeit, die virale Replikation zu reduzieren, um besonders beim Asthmatiker ein Fortschreiten der Erkrankung in den unteren Respirationstrakt zu vermeiden

Besonders für die am häufigsten vorkommenden HRV-Infekte sucht die konventionelle Medizin „verzweifelt“ Mittel und hat noch keine anwendbaren, antiviralen Substanzen oder IFN-Aktivatoren gefunden.

Eine Wiener Arbeitsgruppe um den bekannten Allergieforscher Rudolf Valenta hat soeben ein Patent angemeldet, das als Impfung gegen Rhinoviren getestet wird. Mit der Zulassung ist allerdings erst in ca. 10 Jahren zu rechnen.

Die TCM hat jedoch die soeben beschriebenen wunderbaren Arzneien und Rezepturen, die die Mainstream-Medizin noch nicht kennt! Aus diesem Grund hat die Autorin das ganze Kapitel auf die 6 Startrezepturen oder „Wait-and-see-Helfer“ ausgerichtet und den klassischen Verlauf des nachfolgenden Infekts nach den TCM-Transformationsmustern beschrieben.

Wenn der Patient sein passendes TCM-Startmittel für den akuten Infekt bereits zu Hause hat, vergeht nicht wertvolle Zeit und der Patient kann der „Wind-Kälte“ (in Mitteleuropa ist es meistens primär die Kälte) bzw. den Viren mit scharfen, heißen Arzneien, die auch antivirale Wirkung haben, gegensteuern und vermeiden, dass der Infekt tiefer in den Körper eindringt bzw. den unteren Respirationstrakt erreicht.

Nach dem Abklingen der akuten Symptome des Infekts evaluiert der TCM-Arzt, ob Restsymptome, wie länger andauerndes trockenes Hüsteln mit evtl. subfebrilen Temperaturen oder Seromukotympanon mit Dauerschnupfen oder ständiges Kältegefühl in den Extremitäten oder unerklärliche Müdigkeit mit weichen Stühlen etc. zurückgeblieben sind. Wichtig ist es nun, diese Symptome der richtigen Schichte zuzuordnen und individuell die Konstitution mit Kräutern und Ernährung entsprechend dem diagnostizierten Muster zu stärken. Dadurch werden die individuellen, konstitutionellen Schwächen ausgeglichen. Der Körper wird widerstandsfähiger und weniger anfällig für neuerliche Infekte.

In dieser Phase wäre auch die Gabe von Probiotika sinnvoll, um eine eventuelle Dysbiose auszugleichen, die Schleimhautbarriere zu regenerieren und diese resistenter gegen neuerliche virale und bakterielle „Attacken“ zu machen.

Das Ziel der Autorin war es, in diesem Kapitel Entstehungsprozesse von Krankheiten des Respirationstrakts zu beschreiben und zu zeigen, wie systemisch der Körper dabei vorgeht und wie systematisierbar die TCM diese Prozesse macht. Diese Zusammenfassung soll einen Überblick geben und Ärzte, die an westlichen Universitäten ausgebildet wurden, anregen, systemisch zu überlegen, warum welcher pathogene Faktor gerade zu diesem Zeitpunkt einen Patienten mit seiner speziellen Konstitution trifft und genau jene Erkrankung hervorruft, mit der der Patient gerade vorstellig ist – und sei es nur dazu, um mit Diätberatung gegenzusteuern.

Denn die entsprechende Ernährung ist für das jeweilige Stadium des Infekts in der TCM besonders wichtig. Wenn ein Patient mit persistierendem nasalen Sekret weiterhin täglich sein kaltes Müsli mit Bananen einnimmt, wird sich die Verschleimung zwar unter der Kräutertherapie kurzfristig verringern, jedoch ohne trocknende Ernährung mit warmem Getreide und aromatischen Gewürzen nicht dauerhaft bessern können. Umgekehrt wird ein trockener Husten bei trockenen Schleimhäuten nur durch zusätzlich befeuchtende Nahrungsmittel, wie z. B. Birnen und Joghurt dauerhaft verbessert werden können.

Speziell mit der chinesischen Phytotherapie könnte der erkrankte Körper jedoch in der derzeit propagierten „Wait-and-see“-Phase im Rahmen eines Infekts insofern proaktiv gestärkt werden, indem man nicht nur „wartet“, sondern auch ein Werkzeug hat, das angeborene und erworbene Immunsystem (IFN-α, IFN-β, IFN-y) und die „Selbstheilungskräfte“ zu aktivieren und dem Körper dabei zu helfen, den Infekt besser abzuwehren.

Die Zukunft wird zeigen, ob und wie sehr die TCM-Therapie auch die Lipidmediatoren beeinflussen kann.

Die Leser mit viel TCM-Erfahrung mögen mir verzeihen, dass ich nur einige Schlaglichter des Shānghán zábìng lùn und Wēn Bìng Lùn beschrieben habe und nicht detailliert auf jeden Paragraphen/Rezeptur eingehen konnte. Für weitere Details verweise ich auf spezielle chinesische Phytotherapie-Bücher bzw. das Studium und Kurse der TCM-Klassiker Shānghán zábìng lùn und Wēn Bìng Lùn – natürlich bei der Österreichischen Gesellschaft für Akupunktur – oder bei Arnaud Versluys oder Heiner Frühauf in den USA.

Die Wirkung der chinesischen Kräuter sollte in großen Kohortenstudien überprüft werden, aber auch die immunologischen Grundlagen der TCM-Wirkung müssen noch besser erforscht werden.

Conclusio: Die TCM bietet ein umfassendes Konzept, um Erkältungen und deren Folgen zu behandeln. Sie ermöglicht dem Körper, einen Weg zu finden, die „pathogenen Faktoren“ wieder zu eliminieren, und hilft durch Konstitutionsbehandlung und Ernährungsberatung auch mit, die Abwehr des Körpers zu stärken, um so prophylaktisch die Anfälligkeit für neuerliche Infekte zu verbessern.

Somit könnte die TCM der Entstehung von eosinophilen und neutrophilen chronifizierten Infektionen vorbeugen und genau hier einen wertvollen, additiven Beitrag zur herkömmlichen Behandlung und dadurch auch zur Prävention von Allergien leisten.